FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2005

 

Kommentare zum Döbelner Vernachlässigungsfall

 

Vorbemerkung: Vor einem Jahr wurde ein 19 Monate alter Junge, halb verhungert ins Leisniger Krankenhaus eingeliefert (DAZ berichtete). Heute ist der Junge 2,7 Jahre alt und lebt bei Pflegeeltern. Die Eltern müssen sich vor Gericht verantworten. Nebenklägerin ist die Betreuerin des Kindes, vertreten durch die Anwältin Ilonka Müller. Welche Möglichkeiten das Kinder- und Jugendhilfegesetz kennt, derartige Vernachlässigungsfälle zu verhindern, erklärt Professor Peter Schütt, Leiter des Fachbereiches Methoden der Sozialarbeit, Heimerziehung und Pflegekinderwesen der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mittweida.

 

Interview von Kathrin Gerlach, Leipziger Zeitung,
mit Prof. Dr. Schütt (Pädagoge und Therapeut), FH Mittweida, FB Soziale Arbeit

Frage: Herr Schütt, Sie forschen und lehren seit zwölf Jahren auf den Gebieten Sozialarbeit, Heimerziehung und des Pflegekinderwesen. Was hat das Döbelner Jugendamt Ihrer Meinung nach in diesem konkreten Fall versäumt?

Antwort: Das Jugendamt hat die Anhaltspunkte für die Krise dieser Familie nicht gesehen und die Kindeswohlgefährdung verkannt. Diese ist ganz klar gegeben, da die Mutter bereits zwei Kinder vernachlässigt hat. Da muss man höchst sensibilisiert sein. Denn warum sollte sich die Mutter plötzlich ändern? Kann sie überhaupt einschätzen, was gut und schlecht für ihr Kind ist? Zweimal konnte sie es schon nicht. In solch einem Fall muss man handeln, passende Hilfen anbieten und wenn diese abgelehnt werden, sofort das Gericht einschalten.

Frage: Hat das Jugendamt denn überhaupt eine solche Handhabe?

Antwort: Natürlich, es hat sogar eine Wächterpflicht. Man weiß nicht genau, ob es dem Kind gut geht, muss aufgrund der Erfahrungen aber annehmen, dass die Frau erziehungsuntauglich ist, also ist Gefahr im Verzuge und Kontrolle dringend geboten. Erlaubt die Mutter diese nicht, werden Gericht und Polizei eingeschaltet. Nach der Kontrolle besteht Klarheit darüber, wie es dem Kind geht.

Frage: Im Juni 2003 fand der letzte persönliche Kontakt mit dem Kind statt, im Dezember 2003 sagte die Mutter im Amt, dass es dem Kind gut gehe. Reicht das?

Antwort: Nein, hier muss ein Sozialarbeiter ran, Nachweise für regelmäßige Arztbesuche einfordern oder einen Besuch im Hause der Familie machen. Geht man respektvoll mit diesen hilfebedürftigen Menschen um, lehnen sie nicht ab. Dann sieht man das Umfeld, die Mutter im Umgang mit dem Kind und das Kind selbst. Und zwar auch ausgezogen, um Entwicklungsstörungen oder wie in diesem Fall Hungerbäuche zu erkennen.

Frage: Warum glauben Sie, hat das Jugendamt hier versagt?

Antwort: Nach unseren Erfahrungen fehlt fast allen Jugendämtern die Qualifikation und damit der Blick, Krisen in Familien und deren Symptome zu erkennen. Natürlich nehmen solche Vorfälle einen verschwindender Prozentsatz im Alltag eines Jugendamtes ein. Aber man muss dafür gewappnet sein.

 

Leserbrief von Prof. Dr. Schütt

Ich wundere mich, daß die Staatsanwaltschaft nicht längst Anklage gegen die Mitarbeiterin des Jugendamtes erhoben hat. Nicht die Mutter des lebensbedrohlich vernachlässigten und  geschlagenen 19 Monate alten Jungen ist schuldig, sie konnte möglicherweise gar nicht anders, nicht anders in ihrer Überforderung  und einem eigenen kaputten Leben. Ich würde nachweisen können, daß diese Frau und Mutter nie selbst die entsprechenden Fähigkeiten einer sorgenden Mutter entwickeln könnte (wie sich auch an den vorher herausgenommenen 2 Kindern ja schon zeigte). Sie war möglicherweise schon lange medikamenten- oder drogenabhängig, ist selbst möglicherweise in miserabelsten Verhältnissen mit Heimerziehung und vielen Brüchen aufgewachsen oder vielleicht seit langem Besucherin von psychiatrischen Einrichtungen usw.

Die Jugendhilfe ist doch gerade darum angetreten, solchen Müttern  systematisch und nachhaltig zu helfen oder aber, wenn dies partout nicht gelingt, und dies muß nachgewiesen werden, als Handeln und nicht als lockere Gespräche, den Schutz des Kindes ersatzweise zu übernehmen. Gerade für die Schwachen (Mütter wie Kinder) hat das Jugendamt als Hilfe mit allen fachlichen und praktischen Maßnahmen anzutreten. Ich möchte wirklich wissen, was das Jugendamt praktisch und kontinuierlich und respektvoll der Mutter und Frau gegenüber getan hat. Und nur dann, wenn dies alles nicht gelingt - und mir sind keine Fälle in Deutschland bekannt - wo dies nicht mit entsprechendem Einsatz von Personal, Geld und Fachlichkeit gelang, nur dann tritt der Schutz des Kindes an erste Stelle. Wo bitte ist das und wie geschehen? Das, was das Jugendamt verlauten ließ, ist bloßes Wischwaschi und stellt selbst schon eine nicht fachliche Äußerung ersten Ranges dar. Sich selbst reinwaschen - koste es, was es wolle!

 

Leserbrief (gekürzt) von Prof. Dr. Niedermier (Juristin) und Prof. Dr. Schütt

Es läßt sich nach der bisherigen Feststellung zum Sachverhalt nicht nachvollziehen, warum alleine die Mutter und nicht auch das Jugendamt zur Verantwortung gezogen wird. Wenn das Jugendamt bereits andere Kinder dieser Mutter in früheren Zeiten dieser entziehen mußte (Sorgerechtsentzug), hätte es im Rahmen des staatlichen Wächteramtes der Mutter bei dem 3. Kind in besonderer Weise Hilfe und Unterstützung geben müssen, aber auch in besonderer Weise darauf achten müssen, ob sie nunmehr die Erziehungsverantwortung wahrnimmt. Das ist allem Anschein nach nicht geschehen. Neben der strafrechtlichen Verantwortung tritt hier - wie im Grundsatz bei der Kindesmutter auch - der zivilrechtliche Schadensersatz hinzu. Denn das mindestens (grob?) fahrlässig nicht Tätigwerden des Jugendamtes ist eine wesentliche Ursache für die mannigfaltigen Schmerzen, die das Kind erfahren hat. Und für die Schäden, die das Kind erlitten hat, tritt hinzu, daß von der Kindesmutter wohl kaum, aber vom JA sehr wohl ein materieller Schadensersatz verlangt und geholt werden kann. Um zu vergleichen, mit welcher Entschiedenheit hier andere Gerichte vorgehen, sei auf das Urteil des OLG Stuttgart vom 23.7.03 (4U42/03) verwiesen. Hier wurde ein Jugendamt verurteilt, einem Pflegekind Schadensersatz und Schmerzensgeld zu zahlen, weil dieses Amt ähnlich fahrlässig gehandelt hatte.

 

 

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