FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 


Viviane Green (Hrsg.)

Emotionale Entwicklung
in Psychoanalyse, Bindungstheorie
und Neurowissenschaften

- Theoretische Konzepte und Behandlungspraxis -

Brandes & Apsel, 2005

(342 Seiten, 32 Euro)

 


Viviane Green ist Psychoanalytikerin und Kindertherapeutin am Anna-Freud-Centre in London. Die von ihr gewonnenen Autoren vertreten in Theorie und Praxis die Integration psychoanalytischer, bindungstheoretischer und neuropsychologischer Konzepte. Das Programm des Buches charakterisiert sie in der Einleitung wie folgt:
»Biologische und klinische Ansätze sind unterschiedliche, aber komplementäre Möglichkeiten, die emotionale Entwicklung zu erforschen. Das Gefühlsleben ist das Ergebnis eines Zusammenwirkens zahlreicher innerer und äußerer Faktoren. In ihren bewussten und unbewussten Aspekten ist die Psyche die Welt der geistigen und emotionalen Fähigkeiten, der Repräsentationen und Affekte. Die breiten Pinselstriche der Biologen skizzieren ein allgemeines Entwicklungsbild, das in den Beiträgen des ersten Teils beschrieben wird; von der eigenen, unverwechselbaren und subjektiv bedeutsamen Geschichte, die jeder Patient mit in die Behandlung bringt, berichten die Beiträge des zweiten Teils. Diese klinischen Kapitel illustrieren, auf welch unterschiedliche Weise eine ganze Bandbreite beeinträchtigter psychischer Fähigkeiten in der Behandlungsbeziehung neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung findet. Wenn man diese Ansätze unter einem Dach zusammenführen möchte, muss man sich allerdings auch darüber im klaren sein, dass das so entstehende Haus weder ein übersichtlicher Bungalow sein wird noch ein verwinkelter Prunkbau. Zu erhoffen ist eine 'Struktur', die dem klinischen und dem biologischen Ansatz gerecht wird und unser Verständnis verbessert.« (S. 34)

Das Inhaltsverzeichnis annonciert einen theoretischen und einen praktischen Teil mit insgesamt 10 Kapiteln:

Viviane Green: Einleitung

Teil 1:

Allan N. Schore:
Das menschliche Unbewusste: die Entwicklung des rechten Gehirns und seine Bedeutung für das frühe Gefühlsleben

Oliver Turnbull & Mark Solms: Gedächtnis und Phantasie

Miriam Steele: Bindung, reale Erfahrung und mentale Repräsentation

Peter Fonagy: Der Interpersonale Interpretationsmechanismus (IIM)

Teil 2:

Tessa Baradon: Psychotherapeutische Arbeit mit Müttern und Säuglingen

Marta Neil:  Die Phantasie als psychischer Organisator einer traumatischen Erfahrung

Inji Ralph:  Gegenübertragung, sex. Missbrauch und die Therapeutin als neues Entwicklungsobjekt

Viviane Green: Leo: Die analytische Behandlung eines Jungen, der es vorzog zu verstummen

Willem Heuves: Junge Adoleszente: Entwicklung und Behandlung

Marie Zaphiriou Woods: Entwicklungspsychologische Überlegungen in der Erwachsenenanalyse

Literatur, Personen- und Stichwortregister
 

Da Allan Schore der z.Zt. produktivste Autor auf dem Gebiet der neurobiologisch orientierten Psychoanalyse ist und seine Erkenntnisse für therapeutisch arbeitende Pflegefamilien von großer Bedeutung sind, soll er nun ausführlich zu Wort kommen:
»Ich würde sagen, dass wir nun genug über die Entwicklung des rechtslateralisierten biologischen Substrats des menschlichen Unbewussten wissen und es an der Zeit ist, über die rein psychologischen Theorien der emotionalen Entwicklung hinauszugehen. Deshalb werde ich in diesem Kapitel aktuelle psychologische Untersuchungen über die sozio-emotionale Entwicklung von Säuglingen sowie neurobiologische Studien über die frühe Entwicklung des rechten Gehirns vorstellen. Ich konzentriere mich auf die Struktur-Funktion-Beziehungen eines Vorgangs im ersten Lebensjahr, der für die emotionale Entwicklung des Menschen von zentraler Bedeutung ist: die Organisation einer Bindungsbeziehung, die durch die interaktiv regulierte affektive Kommunikation zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling gekennzeichnet ist. Diese Erfahrungen kulminieren gegen Ende des zweiten Lebensjahres in der Reifung eines rechtshemisphärischen Regulationssystems. Im Anschluss an diese Beschreibung werde ich, bezogen auf die gesamte Lebensspanne, die Beziehung zwischen der weiteren Reifung des rechten Gehirns, der komplexeren emotionalen Entwicklung und der Erweiterung der unbewußten rechten Psyche erläutern.« (S. 41/42)

»Vor wenigen Jahren habe ich nachgewiesen, dass während synchronisierter emotionaler Transaktionen im Laufe der beiden ersten Lebensjahre eine Progression rechtslateralisierter limbischer Strukturen imprinted wird. In den ersten drei Lebensmonaten wirken sozio-emotionale Erfahrungen auf die erfahrungsabhängige Reifung der rechten Amygdala ein, im zweiten und dritten Viertel des ersten Jahres auf das rechte anteriore Cingulum und vom letzten Viertel des ersten bis gegen Ende des zweiten Lebensjahres auf die rechten orbito-frontalen Regionen (Schore, 200la). Vor dem Hintergrund, dass sich in der rechten Hemisphäre während dieser Zeit ein Wachstumsschub vollzieht - die rechte Hälfte also rascher heranreift als die linke -, dass sie tiefe Verbindungen ins limbische System aufweist und zudem zentral an der Verarbeitung von Gesichtern beteiligt ist, werden insbesondere rechtslateralisierte limbische Strukturen von einem Spektrum zunehmend komplexer Bindungserfahrungen beeinflußt.« (S. 51/52)

»Bei sicher gebundenen Individuen sind die höchsten Ebenen des rechten Gehirns, das heißt der orbito-frontale Kortex (Schore, 1994, 1998a, 2001 a, 2001 b ), daran beteiligt, kognitive Eindrücke zu integrieren und ihnen eine emotional-motivationale Signifikanz zuzuschreiben, anders formuliert: Emotionen mit Ideen und Gedanken zu verknüpfen (Joseph, 1996); sie unterstützen die Verarbeitung von Bedeutungen, die mit Affekten zusammenhängen (Teasdale et al., 1999) und die Erzeugung einer »theory of mind« mit einer affektiven Komponente (Stone et al., 1998). Am deutlichsten beobachten lassen sich die Funktionen der rechten Hemisphäre in Situationen der Ungewissheit - bei emotionalem Stress (Elliott et al., 2000) -, in denen sie eine frühe Mobilisierung von Verhaltensstrategien unterstützt, die in neuen oder mehrdeutigen Situationen effektiv sind (Savage et al., 2001). Diese Kontrollfunktion des sozio-emotionalen Gehirns dient somit als Coping-Mechanismus, der die Dauer, Häufigkeit und Frequenz von positiven wie auch negativen Affektzuständen und somit ein zentrales Merkmal der sich entwickelnden Persönlichkeit monitoriert. Man nimmt heute sogar an, dass "der orbito-frontale Kortex an kritischen menschlichen Funktionen, etwa der sozialen Anpassung und der Stimmungskontrolle, des Antriebs und der Verantwortlichkeit beteiligt ist, Charakterzügen, welche die 'Persönlichkeit' eines Individuums ganz entscheidend definieren"« (Cavada und Schultz, 2000). (S. 61)

»Ein gemeinsam geschaffener therapeutischer Kontext, der die intersubjektive Resonanz verstärkt und die emotionale Kommunikation sowie die Affektregulierung in den Mittelpunkt rückt, bildet ein überaus wichtiges Element der Entwicklungstherapie (Hurry, 1998). Eine wachstumsfördernde relationale Umwelt, die die Bindungsmechanismen der psycho-biologischen Abstimmung, der Affektsynchronizität und interaktiven Korrektur mobilisiert, ist für die therapeutische Transformation einer unsicheren in eine »erarbeitete sichere« (Phelps et al., 1998) Bindung unverzichtbar. Aktuelle Formulierungen legen nahe, dass das Ziel der bindungsfokussierten Psychotherapie in der wechselseitigen Regulierung affektiver Homöostase und in der Restrukturierung interaktiver, im implizit-prozeduralen Gedächtnis enkodierter Repräsentationen besteht (Amini et al., 1996).« (S. 66/67)

Einen solchen therapeutischen Kontext können emotional und professionell kompetente Pflegeeltern eher bieten als ambulant tätige Psychotherapeuten.

Turnbull und Solms sind die prominentesten Missionare der Synthese von Psychoanalyse und Neurowissenschaften, deren Position in einer anderen Rezension bereits skizziert wurde.
»Wenngleich der Inhalt der Gedächtnissysteme charakteristisch für das jeweilige Individuum ist, erfolgt die Organisation der Erinnerungen nach einem regelmäßigen, standardisierten Muster. Dieses 'Standardmuster' der Organisation unseres Gedächtnisses und der an ihm mitwirkenden Subsysteme steht auf den folgenden Seiten im Mittelpunkt. Wir beginnen mit einer einführenden Übersicht über diese Subsysteme, bevor wir uns einigen damit zusammenhängenden Themenkomplexen zuwenden, die für die Psychoanalyse von besonderem Interesse sind.« (S. 69)

»Die Psychoanalyse wird am besten fahren, wenn sie sich den neurowissenschaftlichen Themen zuwendet, deren direkte Relevanz für ihre eigenen Belange sie mittlerweile erkannt haben sollte. Dies ist keine einfache Aufgabe. Den meisten Psychoanalytikern sind die komplexen Fragestellungen der Neurowissenschaft nicht vertraut, und häufig sind sie (wie man leider zugeben muss) auch kaum gerüstet, um systematische wissenschaftliche Untersuchungen zu planen und durchzuführen. Es gibt aber Psychoanalytiker, die darauf brennen, sich der Herausforderung zu stellen. Für sie ist dieses Kapitel als Unterstützung gedacht. Wenn sich eine nennenswerte Anzahl von Psychoanalytikern entscheidet, den Weg der Kooperation einzuschlagen, werden sie für die erforderlichen Anstrengungen reich entschädigt werden, indem sie eine radikal neue Psychoanalyse hervorbringen. Diese Psychoanalyse wird ihre Vorrangstellung als Wissenschaft des menschlichen Subjekts behalten - als jene Disziplin, die den 'Stoff' der individuellen Erfahrung erforscht, das Leben eines Lebens. Ihre Thesen aber werden auf deutlich soliderer Grundlage stehen. Wir werden besser begreifen, wie sich psychische Störungen entwickeln. Wir werden in der Lage sein, jene Patienten mit unseren Therapien anzusprechen, die am meisten von ihnen profitieren können, und unsere Konzepte den jeweiligen Erfordernissen optimal anzupassen. Und wir werden unsere klinische Arbeit in Richtungen erweitern, von denen wir bislang nicht zu träumen wagten, um dann schließlich erklären zu können: So funktioniert der menschliche Geist wirklich.« (S. 112/113)

Ob dabei eine 'radikal neue Psychoanalyse' herauskommt oder eine längst fällige Rückkehr zu den naturwissenschaftlich-neuropsychologischen Intentionen ihres Urhebers, darf allerdings bezweifelt werden.

Miriam Steele stellt ihre Sicht der Bindungstheorie dar mit besonderer Betonung ihrer entwicklungspsychologischen Bedeutung.
»In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass die Qualität früher Bindungsbeziehungen und realer Erfahrungen mit der Bezugsperson / den Bezugspersonen die Bausteine der repräsentationalen Welt bilden. Ich skizziere zunächst die vier Grundannahmen der Bindungstheorie und fasse im Anschluss daran die in der Vergangenheit und Gegenwart gesammelten Daten zusammen, die diese Theorie stützen. Die Entwicklung wird im Lichte des Bindungssystems betrachtet. Die Entwicklungsschicksale werden im Lichte der Art und Weise verstanden, wie basale Bindungsbedürfnisse von der Bezugsperson / den Bezugspersonen befriedigt wurden. Beschrieben werden zudem die Folgen der Aufrechterhaltung oder Unterbrechung emotionaler Bindungen.« (S. 115)

Im letzten Abschnitt macht sie auf ein wenig bekanntes Anliegen Bowlbys aufmerksam - auf seine frühe Betonung der familientherapeutischen Aufgabenstellung.
»Bowlby hat häufig darauf hingewiesen, dass sein Interesse an der Bindungstheorie fest in der therapeutischen Arbeit wurzelte. Zudem spricht er nicht nur von 'gestörten Patienten', sondern appelliert an uns, in Bezug auf Familien zu denken. Infolgedessen kann man ihn mit Fug und Recht als einen der ersten Familientherapeuten bezeichnen (siehe Bowlby, 1947). Die heutigen Anwendungen seiner zukunftsweisenden Arbeit folgen einer inneren Haltung, die Bowlby erstmals 1951 und in seinen späteren Schriften immer wieder zum Ausdruck brachte: "Wenn eine Gesellschaft ihre Kinder wertschätzt, muss sie sich um deren Eltern kümmern."« (S. 140)

Ein berühmter Brückenbauer zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie ist Peter Fonagy. Im hiesigen Beitrag beschäftigt er sich mit den Provokationen der Verhaltensgenetik.
»Die Entdeckung genetischer Einflüsse hat das Interesse am Psychologischen und Sozialen massiv untergraben und einen ohnehin bereits starken Trend zum biologischen Reduktionismus verstärkt. Die im impliziten und expliziten wissenschaftlichen Verständnis zu verzeichnende Tendenz, psychische Probleme und Eigenschaften auf genetische Anlagen zurückzuführen, beeinflusst mittlerweile unsere gesamte Einstellung zum Psychischen als primärem kausalen Einfluss und als adäquate Analyseebene für das Verstehen mentaler Störungen.« (S. 141)

Fonagy bestreitet nicht die Ergebnisse verhaltensgenetischer Forschung, relativiert sie aber mit folgenden Argumenten:
»Der wichtigste Einwand, den wir als Kliniker gegen verhaltensgenetische Daten geltend machen, lautet, dass selbst eine starke genetische Vulnerabilität für ein bestimmtes Umweltrisiko nicht bedeutet, dass die mit dem Risikofaktor verbundenen Konsequenzen zwangsläufig genetisch - und nicht durch die Umwelt - vermittelt sind. Wenn man zum Beispiel feststellte, dass Kindesmissbrauch eine starke genetische Komponente hat, würden die schädlichen Folgen für das missbrauchte Kind gleichwohl über die Zerstörung des Vertrauens in die Welt und nicht über einen rein genetischen Prozess vermittelt. Für die klinische Intervention haben verhaltensgenetische Daten daher sehr begrenzte Konsequenzen. Die Rolle, die die Gene für Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie spielen, wurde übertrieben. Es gibt kaum Beispiele, in denen sich die Reise vom Gen zum Verhalten wirklich mühelos nachvollziehen lässt. ....
Bohman (1996) berichtete, dass Kriminalität lediglich in solchen Fällen auch mit einem genetischen Risiko zusammenhängt, in denen Kinder mit kriminellen leiblichen Eltern von dysfunktionalen Familien adoptiert wurden. Ob ein genetisches Risiko manifest wird oder nicht, hängt also von der Qualität der familiären Umwelt ab, in der das Kind aufwächst.« S. 148/149)

Die Beiträge des zweiten Teils sind mindestens so wichtig wie die des ersten, müßten aber wegen ihres kasuistischen Charakters ausführlich erzählt werden, entziehen sich also dem Stil einer Rezension. Sie geben aber wie der erste Teil reichlich Anlaß, das Buch zur Lektüre zu empfehlen, das praktische Interessen ebenso befriedigt wie theoretische und insgesamt als eine höchst erfreuliche Erscheinung auf dem psychologischen Büchermarkt gelten kann.

Kurt Eberhard  (Okt. 2005)

 

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