FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Mark Solms & Oliver Turnbull

Das Gehirn und die innere Welt

Neurowissenschaft und Psychoanalyse

Patmos-Verlag, 2004

 (360 Seiten, 34,90 Euro)

 

Mark Solms ist Psychoanalytiker und Neuropsychologe, lehrt am Londoner Hospital Medical College und am dortigen University College. Oliver Turnbull ist Neuropsychologe und forscht im Center for Cognitive Neuroscience der University of Wales.

Das Inhaltsverzeichnis spiegelt die differenzierte Gliederung des Buches nur unvollkommen wider, weil es die zahlreichen Zwischenüberschriften nicht enthält:
Vorwort von Oliver Sacks
Einleitung
1. Einführung in die Grundbegriffe
2. Geist und Gehirn  wie hängen sie zusammen?
3. Das Bewusstsein und das Unbewusste
4. Emotion und Motivation
5. Gedächtnis und Fantasie
6. Träume und Halluzinationen
7. Die Beeinflussung der mentalen Entwicklung durch Gene und Umwelt
8. Worte und Dinge: die linke und die rechte Hirnhälfte
9. Das Selbst und die Neurobiologie der »Redekur«
10. Die Zukunft und die Neuro-Psychoanalyse
Anmerkungen
Bibliografie
Sach- und Autorenregister

Eine genauere Erläuterung des Vorhabens findet der Leser in der Einleitung:
"Das 1. Kapitel gibt eine Einführung in die Grundbegriffe der Neurowissenschaft ....
Das 2. Kapitel
führt den psychischen Apparat des Menschen in diesen neurowissenschaftlichen Rahmen ein und stellt eine überraschend schwierige Frage: 'Was genau ist der menschliche Geist?' .... Wie geht unser immaterielles Bewusstsein - unser Gewahrsein unserer Existenz und Identität - aus den Zellverbänden und den basalen Prozessen des Gehirns hervor ....?
Das 3. Kapitel, das dem Bewusstsein gewidmet ist, übersetzt dieses jahrhundertealte philosophische Problem in ein naturwissenschaftliches: Welche neuralen Mechanismen bringen unser Gewahrsein, dass wir als wir selbst mit Objekten interagieren, hervor? ....
Das 4. Kapitel ist ebendiesen emotionalen Mechanismen gewidmet. Es beschreibt die primären Bewertungssysteme, die das gesamte menschliche Verhalten motivieren. ....
Das 5. Kapitel, 'Gedächtnis und Fantasie', beschreibt, wie diese ererbten Mechanismen im Entwicklungsverlauf modifiziert und individualisiert werden und wie unsere persönlichen Erfahrungen zu prädeterminierten Kategorien teils bewussten, teils unbewussten Wissens und Verhaltens organisiert werden.

Im 6. Kapitel werden die Ergebnisse .... in dem Versuch zusammengeführt, das Geheimnis der Träume zu lüften. 
Das 7. Kapitel behandelt .... die Anlage-Umwelt-Debatte. Inwieweit bestimmen unsere Gene, welchen Verlauf unser Leben nehmen wird? Am Beispiel des Geschlechtsunterschiedes werden wir zeigen, wie zeitgenössische Neurowissenschaftler diese Frage beantworten.
Das 8. Kapitel
beschreibt die funktionellen Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hirnhemisphäre und stellt bestimmte Vorstellungen richtig (zum Beispiel die Behauptung, dass die rechte Hemisphäre der Sitz des Freud'schen 'Unbewussten' sei). Wir überprüfen, inwieweit derartige Vermutungen künftig wissenschaftlich getestet werden können. Damit stellt sich die Frage, ob wir in der Lage sind, Freuds Theorie in überprüfbare Hypothesen über die funktionelle Organisation des Gehirns zu übersetzen.
Das 9. Kapitel
enthält eine zusammenfassende Rückschau auf die behandelten Themen. Wir versuchen, die wichtigsten Überlegungen zusammenzuführen, und fragen: Wie können wir das 'Selbst' neurologisch definieren? Und was tun Psychotherapeuten unter dem neurobiologischen Blickwinkel, wenn sie ein gestörtes 'Selbst' behandeln?
Im 10. Kapitel dringen wir tiefer in die Terra incognita ein und beschließen unsere Exkursion mit der Frage, ob es künftig möglich sein wird, den Forschungsgegenstand der Psychoanalyse in dieses Feld der Naturwissenschaften zu integrieren. .... Wir stellen die noch junge Interdisziplin Neuro-Psychoanalyse vor, die heute versucht, einen 'neuen intellektuellen Rahmen für die Psychiatrie' des 21. Jahrhunderts zu schmieden, wie Eric R. Kandel, Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie, es formuliert hat." (S. 13 - 15)

Das Buch liefert etliche sehr interessante Versuche, psychische Phänomene neurobiologischen Erkenntnissen zuzuordnen. Ein Beispiel ist die Trennungsangst:
     "Das Panik-System (oder Verlassenheitspanik-System) ist nicht nur mit Panik-Angst, sondern auch mit Verlust- und Kummergefühlen assoziiert. Dadurch wird die Verbindung, die Psychoanalytiker seit langem zwischen Panikattacken, Trennungsangst und depressivern Affekt erkannt haben, neurowissenschaftlich bestätigt. Die Aktivität dieses Systems steht offenbar in einem direkten Zusammenhang mit der sozialen Bindung und der mütterlichen Versorgung  die Ursachen dafür finden sich in der Neurochemie des Systems und seiner Operationsweise.
     Das Zentrum des Verlassenheitspanik-Systems bildet der anteriore Gyrus cinguli mit seinen weitläufigen Verbindungen zu verschiedenen thalamischen, hypothalamischen und anderen Kernen   einschließlich des Nucleus interstitialis der Stria terminalis, des präoptischen Hypothalamus und des ventrotegmentalen Areals. Wir wissen, dass diese Bereiche bei niederen Säugetieren für das Sexual- und Bemutterungsverhalten eine wichtige Rolle spielen. Ebenso wie alle anderen basisemotionalen Steuerungssysteme führen auch in diesem Fall Verbindungen von diesen Regionen aufwärts zum (ventralen) periaquäduktalen Grau. Die Neurochemie des Systems wird in erster Linie von endogenen Opioiden gesteuert. Etliche Untersuchungen lassen vermuten, das Oxytozin und Prolaktin entscheidend an seiner Aktivität beteiligt sind. Auch dies unterstreicht   wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden den Zusammenhang zwischen Panik-System und Bemutterungsverhalten. ....
     Tiere, deren Panik-System stimuliert wird, produzieren 'Distress-Vokalisationen' oder 'Trennungsrufe'. Diese Äußerungen unterscheiden sich je nach Spezies, gehen aber immer mit Weinen, Jaulen oder Piepsen einher. Bei frei umherstreifenden Tieren löst die längerfristige Stimulierung dieses Systems eine Abfolge interessanter Verhaltensweisen aus. Zunächst wird, verbunden mit Distress-Vokalisationen, das Such-Verhalten intensiviert   dies erhöht die Chance, die Mutter zu finden oder von ihr gefunden zu werden. Nach einer Weile jedoch beginnt das Tier, sich zurückzuziehen; es isoliert sich und zeigt eine Art 'Winterschlafverhalten', das für alle Welt wie eine Depression aussieht. Diese Veränderung vom Suchen zum Rückzug hängt wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, dass es gefährlich ist, allzu lange nach der Mutter Ausschau zu halten   das Risiko, die Aufmerksamkeit eines Räubers zu wecken, ist zu hoch. Wenn die Mutter nicht in der Nähe ist, scheint es sicherer zu sein, still liegen zu bleiben und darauf zu warten, von ihr gefunden zu werden." (S. 144/145)

Im Abschnitt 'Neurobiologie der Redekur' wird den physiologischen Wirkmechanismen der psychoanalytischen Psychotherapie nachgegangen:
     "Im 1. Kapitel haben wir gesehen, dass die Präfrontallappen eine allen anderen Teilen des Gehirns übergeordnete Struktur, einen 'Oberbau' darstellen. Dies verleiht ihnen die Fähigkeit, sämtliche Informationen, die das Gehirn über die augenblicklichen viszeralen Zustand und die Umweltsituation erreichen, mit all den Informationen in Verbindung zu bringen, die aus früheren Erfahrungen stammen und an anderen Orten im Gehirn gespeichert wurden. Auf dieser Grundlage kann sodann, bevor eine motorische Reaktion erfolgt, der optimale Handlungsablauf berechnet werden.
     Wir können die 'Verdrängung' daher als einen Vorgang definieren, der diesen Prozess kurzschließt. Jeder Teil der Hirnaktivität, der von dem übergreifenden Netzwerk der Exekutivkontrolle durch die Präfrontallappen ausgenommen ist, ist in einem gewissen Sinn das Verdrängte. ....
     Das Ziel der Redekur muss also unter neurobiologischem Blickwinkel darin bestehen, den funktionellen Einflussbereich der Präfrontallappen zu erweitern. Daher ist es für uns durchaus interessant zu erfahren, dass die wenigen Studien, in denen mit bildgebenden Techniken die Auswirkungen verschiedenartiger psychotherapeutischer Behandlungen untersucht wurden, im Wesentlichen allesamt zum selben Ergebnis gelangten ..... Sie zeigen erstens, dass die funktionelle Aktivität des Gehirns durch Psychotherapie tatsächlich verändert wird. Zweitens zeigen sie, dass mit dem therapeutischen Ergebnis spezifische Veränderungen einhergehen. Drittens  und dieser Punkt ist in unserem Zusammenhang am wichtigsten  haben sie nachgewiesen, dass diese ergebnisspezifischen Veränderungen im Wesentlichen in den Präfrontallappen lokalisiert sind." (S. 298/299)

Im letzten Kapitel wird noch einmal eindringlich auf die Chancen der neurowissenschaftlichen Perspektive für die Zukunft der Psychoanalyse hingewiesen:
"Die Psychoanalyse wird am besten fahren, wenn sie sich den neurowissenschaftlichen Themen zuwendet, deren direkte Relevanz für ihre eigenen Belange sie mittlerweile erkannt haben sollte. Dies ist keine einfache Aufgabe. Den meisten Psychoanalytikern sind die komplexen Fragestellungen der Neurowissenschaft nicht vertraut, und häufig sind sie (wie man leider zugeben muss) auch kaum gerüstet, um systematische wissenschaftliche Untersuchungen zu planen und durchzuführen. Es gibt aber Psychoanalytiker, die darauf brennen, sich der Herausforderung zu stellen. Für sie ist dieses Buch als Unterstützung gedacht. Wenn sich eine nennenswerte Anzahl von Psychoanalytikern entscheidet, den Weg der Kooperation einzuschlagen, werden sie für die erforderlichen Anstrengungen reich entschädigt werden, indem sie eine radikal neue Psychoanalyse hervorbringen. Diese Psychoanalyse wird ihre Vorrangstellung als Wissenschaft der menschlichen Subjektivität behalten   als jene Disziplin, die den 'Stoff' der individuellen Erfahrung erforscht, das Leben eines Lebens. Ihre Thesen aber werden auf deutlich soliderer Grundlage stehen. Wir werden besser verstehen, wie sich psychische Störungen entwickeln. Wir werden in der Lage sein, jene Patienten mit unseren Therapien anzusprechen, die am meisten von ihnen profitieren können, und sie den jeweiligen Erfordernissen optimal anzupassen. Und wir werden unsere klinische Arbeit in Richtungen erweitern, von denen wir bislang nicht zu träumen wagten, um dann schießlich von gesichertem Terrain aus erklären zu können: So funktioniert der menschliche Geist wirklich." (S. 323/324)

Dieser emphatische Versuch, die Psychoanalyse auf naturwissenschaftliche Fundamente zu stellen, ist sehr zu begrüßen und entspricht ganz den Intentionen ihres Begründers, aber das enthebt sie nicht der Pflicht, ihre eigene Arbeit validitätsorientiert zu gestalten, was auf Basis des abduktionslogischen Indizienparadigmas ohne weiteres möglich wäre und von Sigmund Freud in hohem Alter selbst gefordert wurde (vgl. Eberhard, 1999, S. 117 ff).

Solms und Turnbull haben eine hochnotwendige und wegen ihrer überragenden Sachkunde sehr überzeugende Synthese von Neurowissenschaft und Psychoanalyse vorgelegt, die mindestens von allen Neurologen, Psychiatern und Psychotherapeuten, aber auch von jenen Praktikern im sozialen Arbeitsfeld gelesen werden sollte, die aus einer einseitigen entweder psychologischen oder biologischen Betrachtung ihrer Klienten und ihrer selbst immer schon heraus wollten.

Kurt Eberhard  (Nov. 2004)

 

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