Adressaten dieses Buches sind alle, die mit dem Pflegekinderwesen zu tun haben oder sich dafür interessieren.
Zum Inhalt: Im Wesentlichen geht es um eine Bestandsaufnahme des heutigen Pflegekinderwesens. Für eine Vielfalt von Gesichtspunkten sorgen 19 Autoren mit verschiedenen Berufen wie z.B. Pflegeeltern, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Rechtsanwälte, Soziologen oder Psychologen. Sie arbeiten z. T. "vor Ort", haben sich in Praxen niedergelassen oder lehren an Hochschulen. Bei der Betrachtung des Pflegekinderwesens aus so verschiedenen Gesichtswinkeln können widersprüchliche Darstellungen nicht ausbleiben, aber gerade sie zeigen dem Leser, wie komplex dieses Gebiet ist.
Will man sich einen kurzen Überblick über das Buch verschaffen, so bietet sich das Vorwort des Vorstandes als erste Lektüre an. Auf drei Seiten werden alle 15 Beiträge informativ skizziert und ihre Verflechtungen aufgezeigt. Die einzelnen Autoren behandeln folgende Themen:
- Die Bedeutung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse für den Umgang mit Pflegekindern
- Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
- Die Rechte von Pflegekindern und -eltern aus anwaltlicher Sicht
- Welche Qualitätsstandards sind z.B. bei Vollpflege, bei professioneller Familienpflege oder bei Pflegespezialdiensten anzustreben?
- Lokale Arbeitsanalysen von Sozialarbeitern vor Ort
- Berichte von Pflegeeltern über Entwicklungsverläufe
- Bewährungsuntersuchungen bestimmter Konzepte.
Um den Inhalt etwas konkreter zu machen, seien skizzenhaft 3 Beispiele herausgegriffen: Beispiel 1 betont wesentliche Entwicklungsfortschritte in den letzten 20 Jahren. Beispiel 2 zeigt genau das Gegenteil, nämlich einige Rückschritte, die in den letzten 10 Jahren eingetreten sind. Beispiel 3 zeigt völlig neuartige Lösungsmöglichkeiten für die Probleme des Pflegekinderwesens.
Beispiel 1: Gisela Zenz (Psychoanalytikerin und Universitätsprofessorin für Familien-, Jugend- und Sozialrecht) referiert über die Bedeutung neuerer entwicklungspsychologischer Erkenntnisse für die Pflegekinderarbeit. Wichtige für die Pflegekinderforschung bedeutsame Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, z.B. Entstehung von Bindungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen, ihre Notwendigkeit, Beeinflußbarkeit oder Austauschbarkeit (sie werden unter dem Begriff Bindungstheorie zusammengefaßt) waren vor einigen Jahrzehnten noch nicht in die Pflegekinderforschung integriert. Inzwischen gibt es einen lebhaften Austausch zwischen Psychologie und Rechtswissenschaft. Die Familienrechtswissenschaft, die Familienpolitik, die Literatur zum Jugendhilferecht greifen psychologische Erkenntnisse auf. Das kann man in den Lehrbüchern, wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch in den neueren Gesetzesentwürfen sehen. Solche entwicklungspsychologischen Forschungsergebnisse helfen z.B. bei der Lösung von Problemen wie
- ambulante Hilfe versus Vollzeitpflege
- Rückkehroption als Regel versus Ausnahme
- Umgangsrecht der Herkunftseltern bei der Dauerpflege.
- Die neuen juristischen Regelungen lassen, besonders im KJHG jeweils individuell angemessene Lösungen zu.
Auch wenn Gisela Zenz durchaus die Durchführungsschwächen dieser Neuerungen sieht, ist der Leser doch angetan von dem Entwicklungsfortschritt. Dieser Optimismus wird aber bei der Lektüre des nächsten Beispiels gedämpft.
Beispiel 2: C. Marquardt, R. Wilhelm u. S. Siefert (niedergelassene Rechtsanwälte) schreiben über Pflegekinder in familiengerichtlichen Verfahren aus anwaltlicher Sicht. In den letzten 10 Jahren seien in Gerichtsverfahren die grundlegenden Bedürfnisse des Kindes "aus dem Blickfeld geraten". Während früher vor einem Gerichtsverfahren die Sozialarbeiter selbstverständlich mit einem Kinde gesprochen hätten, sei dies jetzt nicht einmal immer dann der Fall, wenn es um schwere Gefährdung des Kindes ginge. Oft haben sie die Kinder nicht einmal gesehen. Viele Jugendamtsmitarbeiter reden nur noch mit den Erwachsenen, ermitteln aber nicht mehr in den Familien, wodurch sie sich natürlich auch leichter über die Gefühle der Kinder hinwegsetzen können (!). Die Autoren klagen auch darüber, daß Kleinkinder häufig nur vorläufig untergebracht werden, obwohl das Wissen über die Bedeutung einer sicheren Bindung gerade in den ersten Lebensjahren vorhanden ist. Manchmal haben Babys schon im zweiten Lebensjahr drei Pflegestellen hinter sich.
Außerdem würden Richtlinien für die Dokumentation schwerer Kindeswohlgefährdung fehlen. Alle gerichtsverwertbaren Informationen könnten verloren gehen, wenn eine Sachbearbeiterin im Jugendamt ihre Stelle wechselt.
Dem Leser fällt auf, daß die meisten Beiträge Planungen, Zielorientierungen, Hilfevorstellungen, anzustrebende Qualitätsstandards, Konzepte u.ä. beinhalten, jedoch kaum ein Beitrag Überprüfungen auf Bewährung vorhandener Konzepte durchführt. Das ist zwar verständlich, da eine solche Überprüfung, soll sie stichfest sein, eine Langzeitstudie sein muß. Dennoch ist die Lücke unübersehbar. Insofern stellt das Beispiel 3 eine Ausnahme und einen Höhepunkt des Buches dar.
Beispiel 3: C. Malter (Dipl.-Sozialpädagoge und Pflegevater) und K. Eberhard (Prof., Psychologe, Psychotherapeut und Leiter des IPP, s.u.) berichten über Entwicklungschancen für vernachlässigte und mißhandelte Kinder. Hier werden in einer optimalen Kombination aus wissenschaftlicher Theorie (Bindungsforschung) und praktischer Erprobung durch die "Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie" (AGSP) 73 Kinder, die in 42 sonderpädagogischen Pflegefamilien über insgesamt ca. 20 Jahre mit dem "Intensiv-Pädagogischen Programm" (IPP) betreut wurden, auf Erfolgskriterien nachuntersucht. Dieses Projekt hat einige Besonderheiten: Im Vergleich zu anderen Pflegefamilien werden die Kinder erst relativ spät aufgenommen, wodurch natürlich bei ihnen schon stärker ausgeprägte Verhaltensstörungen als bei jüngeren Kindern vorlagen. In solchem Alter haben Kinder i.A. eine geringe Chance, noch in eine Pflegefamilie zu kommen, meist kommen sie in ein Heim. Bei der Auswahl der Pflegemütter spielte nicht die Berufsausbildung, wie Erzieherin, eine Rolle, sondern, ob sie schon ihre eigenen Kinder zu "liebes- und arbeitsfähigen Menschen" erzogen haben. Nimmt man nun die zeitliche Länge der Pflegeerziehung als Erfolgskontrolle (Abbruchkriterium), so zeigt sich, daß sie länger war als im Bundesdurchschnitt. Auch inhaltlich konnten durch Erhebung von Interviewdaten signifikante positive Entwicklungstrends bzgl. sozialer Anpassung, Zugang zu eigenen Gefühlen und Identität mit der Pflegefamilie nachgewiesen werden. Keine positiven Trends zeigten sich bei der Bindungsfähigkeit und der emotionalen Labilität, was durchaus den wissenschaftlichen Voraussagen der Bindungstheorie entspricht. M.E. sollte das IPP Vorbildfunktion für das Pflegekinderwesen haben.
Diese drei Beispiele sollen die Vielseitigkeit des Jahrbuchs demonstrieren. Das Buch ist hervorragend geeignet, einem interessierten Laien eine Fülle von Informationen über das heutige Pflegekinderwesen zu geben. Außerdem ist es für den Fachmann ein Nachschlagewerk, um den momentanen Diskussionsstand spezieller Probleme zu erkunden.
Diesem Buch ist eine breit gestreute Leserschaft zu wünschen.
Prof. Dr. Fritz Mewe, Dipl.-Psych., Tübingen (Juni 01)
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