FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2007

 

Interview zum Kinderschutz durch Pflegefamilien

von Christoph Malter und Mathias Rohde

 

M. Rohde: Herr Malter, Sie haben unlängst einen Zwischenbericht über eine empirische Untersuchung zum Thema: 'Gelingende und misslingende Rückführungen von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien' vorgelegt. Haben Jugendämter ihr Interesse an einem Schlussbericht signalisiert, oder gab es u.U. sogar das Angebot, Ihre Untersuchung zu unterstützen?

C. Malter: Die Untersuchung wird unterstützt von der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien (BAG-KiAP) und der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP). Was vor dem Hintergrund von Vernachlässigung und Misshandlung interessiert, ist, wie sichergestellt wird, dass zu ihren Eltern zurückgeführte Kinder nicht erneut Opfer von Gewalt und Traumatisierung werden. Diese Frage interessiert auch die meisten in Jugendämtern tätigen Kolleginnen und Kollegen. Oft verlieren sie aber die zurückgeführten Kinder wegen wechselnder Zuständigkeiten aus den Augen. Bei uns haben sich viele Pflegeeltern gemeldet, deren ehemalige Pflegekinder in erneute Misshandlungssituationen zurückgeführt wurden, und das sind leider keine bedauerlichen Einzelfälle. Die Einwände und Warnungen von Pflegeeltern vor einer Rückführung wurden von Fachkräften, Gutachtern oder Richtern oftmals bagatellisiert oder nicht ernst genommen. Insgesamt gibt es noch keine verlässlichen Zahlen aus Deutschland darüber, wie viele Rückführungen gelingen oder misslingen. Obwohl das Pflegekinderwesen in jüngster Zeit mehr Aufmerksamkeit von forschend Tätigen erfährt, haben die Universitäten und Institute die hier vorgetragene Fragestellung bisher vernachlässigt. Ich hoffe, dass unser Zwischenbericht sensibilisiert und sich dies ändern wird. An der Universität Siegen gibt es einen Forschungsschwerpunkt Pflegekinderwesen und von dort müssten in naher Zukunft verwertbare Resultate kommen. Auch beim Deutschen Jugendinstitut ist die Problematik bekannt und wird bearbeitet. Von der KiAP ist das Problem an mehreren Stellen politisch Verantwortlichen vorgetragen worden. Die befragten Jugendhilfeausschüsse sind zur Auskunft verpflichtet, und ich bin sehr gespannt auf die ersten Antworten. 

M. Rohde: Wenn Warnungen von Pflegeeltern bagatellisiert werden, dann stellt sich die Frage, welchen Stellenwert das Kindeswohl bei einer Entscheidungsfindung zu einer beantragten Rückführung hat. Kinder werden aus ihren Familien herausgenommen, weil ihr Wohl gefährdet ist und Pflegeeltern werden damit beauftragt, eben für dieses Wohl Sorge zu tragen. Geschieht dies in der Folge im Rahmen einer Dauerpflege, ist es dann nicht geradezu vermessen von Richtern, Politikern und Gutachtern, die Kompetenz der Pflegeeltern bei der Entscheidungsfindung hinter die Interessen der leiblichen Eltern zu stellen?

C. Malter: Das Kindeswohl sollte selbstverständlich im Mittelpunkt stehen und im Zweifelsfall ist ihm auch der Vorrang vor dem Elternrecht einzuräumen! Es ist doch so, dass bei den allermeisten Kindern der Staat eben gerade kein kontrollierend eingreifender ist, weil Eltern die Sorge für ihr Kind verantwortungsvoll ausüben. Kinder, die in Pflegefamilien kommen, haben aber in den meisten Fällen Schlimmes erlebt. Traumatische Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn und äußern sich in lang anhaltenden Störungen von Verhalten und Erleben. Ein Kind, das aus einer misshandelnden Situation zu neuen, liebevoll annehmenden Pflege- oder Adoptiveltern kommt, benötigt lange Zeit, um wieder Vertrauen in enge Beziehungen zu fassen und positive und entwicklungsfördernde Bindungen einzugehen. Viele Juristen erkennen diesen Zusammenhang erst gar nicht und behandeln Umgangs- oder Zuordnungskonflikte bei Pflegekindern so, als handele es sich um Scheidungskinder in einer Krise zwischen streitenden Erwachsenen. Eine Angstbindung zwischen Kind und Eltern – so wie man sie zwischen Entführungsopfern und Entführern kennt – registrieren oftmals sogar Fachkräfte und Gutachter nicht. Es ist geradezu typisch, dass die Kindesmisshandlung immer wieder verleugnet wird und der verständliche Wunsch, dass aus versagenden Eltern fähige werden, wird in der Praxis dann leider oft enttäuscht. Man tut erziehungsunfähigen Eltern keinen Gefallen, wenn sie ihre eigenen Probleme und ihr Leben kaum bewältigen, sie dann auch noch mit der Erziehung eines anstrengenden Kindes zu überfordern. Längst nicht alle, aber doch viele Sozialarbeiter, Psychologen oder Richter glauben, für jedes Kind und immer die Rückführung forcieren zu müssen. Juristen, weil sie den Gesetzesauftrag fälschlich einseitig interpretieren, Sozialarbeiter und Psychologen, weil sie ungeeignete Theorien anwenden. Wen wundert es da, wenn der Kinderschutz auf der Strecke bleibt?

M. Rohde: Offensichtlich bietet das Gesetz den misshandelten Kindern keinen ausreichenden Schutz?

C. Malter: Das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990/1991 hat den Ausbau anbietender Hilfen begünstigt. Aufsuchenden und eingreifenden Hilfen wurde von vielen Jugendämtern nicht die notwendige Bedeutung zugeschrieben. Während mittlerweile die meisten Experten für Risikogruppen vermehrt wieder aufsuchende Hilfen fordern und anwenden, gibt es noch keinen hinreichenden Konsens darüber, wie mit schwierigen, uneinsichtigen Klienten umzugehen ist. Es kann nicht sein, dass Eltern die Kooperation verweigern, um unentdeckt oder ungehindert Kinder zu misshandeln. Eingreifende Hilfen und die Kooperation zwischen Gesundheits-, Sozial- und Ordnungsbehörden bedürfen weiterer gesetzlicher Regelungen, damit Kinder besseren Schutz vor Misshandlung erhalten und als Opfer Nachteilsausgleich geltend machen können. Immerhin haben die vielen öffentlich gewordenen Misshandlungsskandale dazu geführt, dass Gesetzesänderungen zur Verbesserung des Kinderschutzes diskutiert werden, und zum Teil schon vollzogen sind.    

M. Rohde: Sicherlich ist das Bewusstsein bei den politisch Verantwortlichen in den letzten Monaten und Jahren angesichts der Berichterstattung über die Misshandlungsfälle gewachsen. Aber gleichzeitig werden in einigen Bundesländern finanzielle Anreize geboten, Kinder eben nicht in Kindertagesstätten betreuen zu lassen, sondern ein weiteres Jahr damit zu warten. Nun berichten aber die Fachkräfte der KiTas, dass dieses Angebot vornehmlich von den Familien wahrgenommen wird, die man unter Vorbehalt als „sozial auffällig“ bezeichnen könnte. Was ist davon zu halten?

C. Malter: Das ist ein Beispiel dafür, wie sich sozial auffällige Familien abschotten und mir fallen viele weitere ein: Die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger stellt seine Kinder regelmäßig einem Arzt zu den Vorsorgeuntersuchungen vor. Für die wenigen Unvernünftigen, die ihre Kinder nicht daran teilhaben und gleichzeitig verkümmern oder verhungern lassen, wird jetzt gerade nach und nach die gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme eingeführt. Beispielsweise die Forderungen nach der Ganztagsschule, Kindergartenpflicht etc. spielen eine Rolle dabei, Entwicklungsrisiken zu erkennen und Defizite bei der Erziehung zu kompensieren. Weil der Staat den Bürger aber nicht unnötig bevormunden will, all diese Maßnahmen viel Geld kosten und Bürokratien auch noch dafür anfällig sind, an den falschen Stellen zu sparen, kommt es immer wieder zu gegenläufigen Entwicklungen.

M. Rohde: Noch mal zur Rückführbarkeit von Pflegekindern: Selbst mit der vagen Hoffnung, dass aus vormals erziehungsunfähigen Eltern erziehungsfähige Eltern werden könnten, darf dann bei einer Entscheidung - ob Rückführung oder nicht - die Zeit, die ein traumatisiertes Kind in einer Pflegefamilie gelebt hat außer acht gelassen werden? Haben sich bei Ihren Forschungen und Untersuchungen Zeitfenster herauskristallisiert, die eine Rückführung vor dem Hintergrund des Kindeswohls ausschliessen?

C. Malter: Wenn es um die Rückführung eines in seiner Herkunftsfamilie geschädigten Kindes aus einer Vollzeitpflege geht, müsste eine gesteigerte Begründungspflicht vor der Rückführung verlangt werden. Drei Bereiche sind dabei besonders zu betrachten: (1.) Die Vorgeschichte des Kindes mit den wichtigsten Fragen: Wurde es traumatisiert? – Über welchen Zeitraum hinweg? – In welchem Alter und von wem? – Wie, bzw. wurde das Trauma überhaupt verarbeitet? (2.) Bei den Eltern stellt sich grundsätzlich die Frage der Erziehungsfähigkeit und ggf. nach ihrer Rolle bei einer Misshandlung oder Vernachlässigung des Kindes. Haben sie ihrerseits Beratung/Unterstützung/Hilfe oder Therapie erfolgreich angenommen oder abgeschlossen? (3.) Der Zeitfaktor: Wie lange ist das Kind von seinen Eltern getrennt (ggf. wie oft), und sind zu den Pflegeeltern positive Bindungsbeziehungen entstanden? Unter Betrachtung dieser Gesichtspunkte sollte eine sorgfältige Prognose dafür erstellt werden, was für die gedeihliche Entwicklung eines Kindes und dessen Wohl zukünftig kurz- und langfristig benötigt wird.
   Alleine die Tatsache, dass Eltern Erziehungsfähigkeit (wieder) erlangt haben, ist keine hinreichende – wohl aber eine notwendige – Bedingung zur Rückgabe des Kindes. Wenn die Rückgabe dem Kindeswohl widerspricht, ist das Kind sogar dann in der Pflegefamilie zu belassen, wenn die Eltern Erziehungsfähigkeit (wieder) erreicht haben. Das ist zum Beispiel dann gegeben, wenn die Prognose für das Kind unsicher ist oder es schon so lange bei den Pflegeeltern lebt, dass die Herausnahme aus seinem neuen Sozialraum und die Wegnahme von den lieb gewonnenen Pflegeeltern ihm schadet. Die Zeiträume für eine mögliche Rückgabe sind bei Babys und Kleinkindern sehr kurz. Man sollte diese nach drei bis sechs Monaten der Unterbringung nicht mehr leichtfertig von Pflegeeltern trennen. Bei älteren Kindern sind diese Zeiträume länger. Als allgemeine Regel kann die Frist von zwei Jahren, nach der ein Zuständigkeitswechsel in der Betreuung zum Jugendamt am Wohnort der Pflegeeltern erfolgen soll, angenommen werden. Die Deprivationsforschung, beispielsweise die Untersuchungen von René Spitz oder von Marie Meierhofer und ihrem Kollegen Wilhelm Keller zeigten schon in den 50iger und 60iger Jahren auf, dass Mutterentbehrung bei Babys zu negativen Beeinträchtigungen in der kindlichen Entwicklung führen, die bei einer Dauer der Entbehrung von ca. drei Monaten wieder aufgeholt werden können, nach fünf Monaten aber oft schon irreversible Schädigungen zur Folge haben. Trennungen des Kindes von der Bezugsperson im Alter zwischen sechs und 24 Monaten – also den bindungssensiblen Phasen – sind sehr heikel. Dennoch darf man Kinder nicht bei misshandelnden Eltern verwahrlosen lassen. Zum Problem der Rückführung: Heather N. Taussig und Kollegen haben 2001 eine Studie vorgelegt, der zufolge Jugendliche, die aus Familienpflege zu ihren Herkunftsfamilien zurückgeführt wurden, mehr emotionale und Verhaltens-Probleme entwickelten, als Jugendliche, die nicht zurückgeführt wurden. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut hat in einem Überblicksartikel gleich mehrere internationale Studien angeführt, die über einen hohen Anteil von erneuter Misshandlung nach einer Rückführung berichten. In der Studie von Martin und Beezley aus dem Jahr 1976 finden die Autoren nach einem Zeitraum von viereinhalb Jahren nach dem ersten Auftreten der Kindesmisshandlung, dass sogar 68% der in Psychotherapie Befindlichen ihr Kind weiter misshandeln. Von erfolgreichen Rückführungen habe ich – obwohl ich diese Frage oft gestellt habe – viel seltener gehört, als von Gescheiterten. Manchmal frage ich mich, ob Gutachter, Sozialarbeiter  oder Richter selbst die morschen Brücken betreten würden, über die sie Kinder mit einer Selbstverständlichkeit gegen jedwede Vernunft zu ihren Eltern locken.

M. Rohde: Die drei von Ihnen angeführten Bereiche einer gesteigerten Begründungspflicht bei einem Rückführungsantrag oder –ersuchen sind auf eine Weise miteinander verbunden, dass aus meiner Sicht alleine die Nichterfüllung eines Bereiches zu einer abschlägigen Bescheinigung kommen müsste, denn selbst für den Fall einer (wiedergekehrten oder erstmalig erlangten) Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern sind die Behandlungszeiten von frühkindlichen Traumata so unbestimmt, dass dem Kind ein dauerhafter Schutz vor erneuten traumatischen Erlebnissen durch die Täter gewährt werden muss. Gibt es Ihrer Ansicht nach Vorbehalte in unserer Gesellschaft und vor allem bei den Berufsgruppen, die mit solchen Anträgen und Ersuchen tagtäglich zu tun haben hinsichtlich der Terminologie? Warum werden misshandelnde Erziehungsberechtigte in erster Linie Mutter und Vater und nicht Kindesmisshandler genannt?

C. Malter: Ganz klar: Kinder gehören nicht in die Obhut erziehungsunfähiger Eltern. Kevin aus Bremen hätte niemals seinem drogenabhängigen Ziehvater überlassen werden dürfen. Wäre er als Säugling zu Pflege- oder Adoptiveltern gekommen, so hätte der Staat auch die Pflicht gehabt, ihm dort eine dauerhafte Lebensperspektive zu sichern. Spätestens nach zwei Jahren, vermutlich aber schon viel früher, hätte die Rückkehr zum Ziehvater oder der Mutter auch für den Fall ausgeschlossen werden müssen, wenn diese von den Drogen weg und sozial integriert gewesen wären. Die fachliche Einschätzung im Fall Kevin war falsch und unmenschlich. Immer wieder überlassen Fachkräfte drogenabhängigen Eltern die Erziehung ihrer Kinder, während der Staat ihnen im Vergleich dazu das Führen eines Kraftfahrzeuges nicht zutraut und die Zuwiderhandlung mit Sanktionen belegt. Misshandelte Kinder dürfen grundsätzlich nicht gegen ihren Willen den Tätern zugeführt werden. Sogar wenn sie vorgeben dies zu wollen, in Wahrheit aber Angst vor weiterer Misshandlung haben und nur nicht glauben können, dem Horror entkommen und sicher zu sein, muss man solche Kinder schützen. Wie sollte sonst in einer solchen Situation das Trauma verarbeitet werden? Eine Rückführung widerspräche den Interessen des Kindes. Man muss bedenken, dass viele misshandelnde Eltern selbst misshandelt wurden. Weil ihnen Einfühlungsvermögen fehlt und sie unter Stress ihren Kindern schlimme Dinge antun, darf man ihnen die Gelegenheit dazu nicht geben.    

M. Rohde: Wie schnell können (bzw. müssen) unsere Bildungssysteme auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren? In wie weit finden die neuen Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft Einzug in den Lehrplan für angehende Juristen, Sozialarbeiter und Gutachter?

C. Malter: Für Gutachter gibt es keine Lehrpläne und für Richter ist die Unabhängigkeit bei Entscheidungen ein hohes Gut. Verständlicherweise tun sie sich mit dem Familienrecht schwer, zumal es in deren Ausbildung keinen besonderen Stellenwert hat. Viele Juristen sind interessiert an psychologischen Erkenntnissen – aber oft wird Ihnen Halbwissen als allgemein anerkanntes Wissen präsentiert, oder man liefert Ihnen widersprüchliche Theorien, ohne deren Bedeutsamkeit bei Pflegekindern zu benennen. Sozialarbeiter sind nach ihrem Studium in den seltensten Fällen ausreichend auf eine Tätigkeit im Pflegekinderwesen vorbereitet. Ich habe viele Gutachter kennen gelernt – entschuldigen Sie, wenn ich das so direkt sage – die eine Ideologie vertreten, sich überschätzen und von Pflegekindern nur wenig verstehen. In der Arbeit mit erlebnis- und verhaltensgestörten Kindern haben sich die psychoanalytische Ich-Psychologie, die Bindungstheorie und die neuropsychologische Traumatheorie als Konzepte des Verstehens und Handelns gut bewährt, allerdings nicht als dogmatische Fundamente, sondern lediglich als Quellen für praxisanleitende Anregungen. Mit der oft falsch verstandenen und überstrapazierten Systemtheorie gerät das Wohl des (Pflege)Kindes regelmäßig aus dem Blick der Betrachtung. Mir scheint ein kontinuierlich gut qualifizierter Spezialdienst für Pflegekinder innerhalb des Jugendamtes  deshalb eine der wichtigsten Forderungen.

M. Rohde: Wie könnte ein solcher Spezialdienst in der Praxis in Ihrer Vorstellung aussehen? Könnten Fachkräfte aus den unterschiedlichen Bereichen einbezogen werden?

C. Malter: Es gab und gibt diese sehr gut arbeitenden Spezialdienste. In Zeiten der allgemein anhaltenden Sozialkostendämpfung höre ich aber immer wieder auch davon, dass sie aufgelöst werden oder in reduzierter personeller Besetzung dem Allgemeinen Sozialdienst untergeordnet sind. Sie müssen bedenken, dass das Pflegekinderwesen ein hochkomplexes System ist. Die Kolleginnen und Kollegen profitieren vom Austausch und lernen wechselseitig aus den Erfahrungen und entwickelten Handlungsstrategien. Wertvolles Wissen bleibt in solchen Teams erhalten oder geht nicht so schnell verloren. Auch ist es dann leichter, sich fortzubilden, weil es für den Einzelnen, der sonst mit vielen anderen praktischen Aufgaben betraut wäre, besser möglich ist die wichtigsten Bücher und Artikel zu lesen und die entscheidenden Veranstaltungen zu besuchen. Neben Sozialarbeitern wäre zuerst ein/e Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/in verbindlich in einem solchen Team aufzunehmen. Andere Berufsgruppen, bspw. Juristen oder Fachärzte, sollten auf Anfrage zu Rate gezogen werden können. Weil die gut betreute Pflegefamilie nicht nur eine effektive Hilfe für traumatisierte Kinder ist, sondern auch eine kostengünstige, wäre es falsch an den Betreuungskosten für die Pflegeeltern zu sparen. Das führt nur zu unnötigen Abbrüchen, im Vorfeld zu Fehlvermittlungen und langfristig zu Mehrausgaben.

M. Rohde: Herr Malter, Sozialkostendämpfung ist ein gutes Stichwort. Während unseres Gesprächs gab es mehrere schockierende Nachrichten über misshandelte und getötete Kinder in unserem Land. Wie viel darf und muss sich unser Staat leisten, um Kinder vor Übergriffen, Vernachlässigung durch die leiblichen Eltern zu schützen? Stellt nicht die Not dieser Kinder die Bedingungen?

C. Malter: Genau so ist es. Wenn es brennt, muss die Feuerwehr rasch ausrücken, auch am Wochenende, und das Löschfahrzeug muss einsatzbereit sein. Diese gleiche Verpflichtung muss der Staat Kindern gegenüber einlösen. In einem reichen Land müssen die Mittel dafür zur Verfügung stehen. Vielleicht wären die fünf von ihrer Mutter ermordeten Kinder aus Schleswig-Holstein noch am leben, wenn der Kreis die Familienhilfe rechtzeitig ausgebaut und weiterbewilligt hätte. Dennoch muss ehrlich gesagt werden, dass in anderen, weniger dramatischen Fällen viel Geld unnötig verschleudert wird. Da werden Kinder jahrelang in desolaten Familien gelassen und diese mit enormem finanziellen Aufwand stabilisiert, obwohl von vorne herein abzusehen ist, dass die Kinder unverändert unter unzumutbaren Bedingungen leben müssen. Später landen diese Kinder in der teuren Heimerziehung, in Gefängnissen oder Psychiatrien und belasten den Staat in vielerlei Hinsicht mit Kosten, die vermeidbar gewesen wären, wenn die Indikation für bspw. eine heilpädagogische Pflegefamilie rechtzeitig gestellt und langfristig gesichert worden wäre. Kurt Eberhard und ich haben in einer Längsschnittstudie den empirischen Beleg dafür erbracht, dass diese Hilfe eine sehr wirksame ist, späterer Kriminalität vorbeugt und die Pflegefamilienkinder sich sozial anpassen und gesellschaftlich besser integrieren, als man erwarten kann. Auch andere Studien legen diese Erkenntnis nahe. Dennoch meinte der Berliner Senator, mit der Streichung ausgerechnet dieser sehr effizienten Hilfeart für traumatisierte Kinder Kosten sparen zu können. Sogar die Proteste der Pflegeeltern vor der Abschaffung wurden weitgehend ignoriert, weil der Pflegeelternlobby ausschließlich eigennützige Interessen unterstellt wurden. Dem war aber nicht so. Die Kosten für Fremdunterbringung sind in Berlin in Folge gestiegen! Auch Kevin ist nicht aus finanziellen Gründen gestorben. Die Familie wurde mit viel Geld und Aufwand falsch behandelt.

M. Rohde: Von Pflegeeltern wird erwartet, dass sie die Besonderheiten der Pflegekinder, die sie betreuen, erkennen und damit sorgsam umgehen.  Wie schwer der Weg mit einem traumatisierten Kind sein kann, berichten viele Pflegeeltern in ihren erlebten Geschichten. Was können Pflegeeltern noch tun, außer sich zu wünschen, dass die politisch Verantwortlichen die Erfahrungen der Pflegeeltern bei ihren Entscheidungen berücksichtigen?

C. Malter: Pflegeeltern werden in ihrem Alltag mit einer derartigen Fülle von Problemen und Widrigkeiten konfrontiert, dass sie nur die Wichtigsten lösen können. Sie lernen in der Regel sehr schnell für ihr Kind einzustehen und ihm zu helfen, damit es sich im geschützten Rahmen entwickeln kann. Manches in der Entwicklung kann nachgeholt werden, aber oft nicht alles, und deshalb müssen Pflegeeltern meistens auch lernen, ungerechtfertigten oder überzogenen Sozialisationsansprüchen, wie sie beispielsweise die Schule immer wieder verlangt, entgegenzutreten. Damit tun Pflegeeltern sehr viel. Sie setzen sich für die Belange eines Kindes ein, um die sich meist sonst niemand gekümmert hat. Nicht selten werden sie dafür angefeindet oder müssen sich Unverschämtheiten bieten lassen. Mir sind ‚Rückführungsfälle’ bekannt, in denen die Pflegeeltern unter hohen Zwangsgeldandrohungen von Richtern gedemütigt wurden. Nach der erzwungenen Rückführung wurden die Kinder erneut schwer misshandelt, ohne dass die für die Entscheidung Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. An diesen bitteren Niederlagen sollten Politiker teilhaben. Vielleicht könnte der Gatte unserer Bundeskanzlerin einen Wohltätigkeitsfond ins Leben rufen, aus dem gegen Pflegeeltern verhängte Zwangsgelder gesponsert werden? Zum Glück geht es aber den meisten Pflegekindern bei ihren Pflegeeltern sehr gut, weil diese gelernt haben, gemeinsam Freude und Leid zu teilen. In der Individualität der Pflegefamilie und der damit verbundenen Immunität gegen moderne Ideologien liegt meines Erachtens die große Chance für die Kinder.

M. Rohde: Welche modernen Ideologien sind hier gemeint?

C. Malter: Beispielsweise im Online-Familienhandbuch schlagen der Psychologe Wilfried Griebel und der Sozialpädagoge Dietmar Ristow ein Konzept der  Pflegefamilie als binukleares Familiensystem, als Kernfamilie mit zwei Kernen, vor. Das Modell wurde eigentlich für die Nach-Scheidungsfamilie entwickelt. Das linear-kausale Denken von Ursache und Wirkung findet im systemischen Denken keine Anwendung. Somit meinen die Autoren, wenn man dieses Modell auf Pflegefamilien überträgt, es gäbe keinen Schuldigen für die Fremdunterbringung, weder das Kind, noch die Herkunftsfamilie. Einen Wirksamkeitsnachweis ist dieses Modell schuldig geblieben, und ich bezweifle, dass er jemals erbracht werden wird, weil es in diesem Modell ja gar nicht um das Pflegekind geht, sondern um das System. Fragen Sie doch einmal eine Pflegefamilie, ob die sich als binukleares Familiensystem versteht? Sylvia Koppe, Martina Stallmann und ich hatten 187 Familien aus einem der großen Bundesverbände nach ihrem Selbstverständnis gefragt. Wir fanden zwar keinen einheitlichen Typus der Pflegefamilie, aber nur 10% hatten sich mit einem klaren ja als ‚Erziehungshilfe außerhalb des Elternhauses’ anfreunden können. Zum Selbstverständnis hatten 91% den Wunsch, einem Kind den Heimaufenthalt oder eine schwierige Familiensituation zu ersparen genannt und 90% die Aufgabe, Hilfen für das Kind durchzusetzen. Dabei fühlten sich die überwiegende Mehrheit der Pflegeeltern (88%) als ‘echte Mutter’ bzw. ‘echter Vater’. Deutlich weniger Pflegeeltern (39%) verstehen sich als eine Familie auf Zeit und nur 20% sehen ihre Aufgabe darin, die Herkunftsfamilie zu unterstützen.

M. Rohde: Ohne die Vorgaben, der von Ihnen hier angesprochenen Untersuchung näher hinterfragen zu wollen, lässt sich eine klare Tendenz erkennen. Es stellt sich doch die Frage, ob unsere Gesellschaft ungeachtet aller Theorien präventive Maßnahmen für das Kindeswohl ergreifen kann, bevor es zu Misshandlungen und sogar Tötungen kommt. Stehen hier nicht so einige kulturelle Werte, wie „Elternrecht vor Kindeswohl“ oder „my home is my castle“ zur Disposition? Wenn in Ersatzfamilien ein bewusster Umgang mit in Not geratenen Kindern gepflegt wird, ist es dann nicht Zeit, die Ersatzfamilie vor alle anderen Hilfen zu stellen?

C. Malter: In den letzten Wochen ist immer wieder von Experten öffentlich der Satz gesagt worden, dass es keine absolute Sicherheit für Kinder gegen Misshandlung gibt. Dennoch glaube ich, dass viele Fälle hätten verhindert werden können. In sämtlichen Diskussionen geht es darum, noch mehr und noch bessere Hilfen anzubieten und die Schwelle für Eingriffe in das Elternrecht herabzusetzen. Wenn Kinder dann von ihren Eltern nicht nur vorübergehend getrennt werden müssen, benötigen sie nach Möglichkeit eine Adoptiv- oder Pflegefamilie. Dass auch die Pflegefamilie geschützt werden muss, wird derzeit noch viel zu wenig diskutiert. Vielleicht stehen am Ende der aktuellen Debatte neben den derzeit geplanten und diskutierten strukturellen Veränderungen hochqualifizierte Kinderschutzbeauftragte, die Ansprechpartner für die Bevölkerung sein sollen und die Arbeit der zuständigen Behörden kontrollieren und koordinieren! Dann wäre wirklich viel erreicht.

M. Rohde: Vielen Dank für das Gespräch.  

 

Christoph Malter ist Diplom Sozialpädagoge/Sozialarbeiter und Pflegevater, vier Kinder, Förderpreisträger der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes für herausragende Leistungen im Dienste des Pflegekinderwesens, forschend und publizierend tätig, Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP), Vorstandsmitglied im Landesverband für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien in Schleswig-Holstein e.V. (LV-KiAP), wissenschaftlicher Beirat im Aktivverbund Berlin e.V. und wissenschaftlicher Referent der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG-KiAP)

 

Mathias Rohde ist Pflegevater und Herausgeber/Moderator von Pflegeelternnetz.de

 

veröffentlicht im Pflegeelternnetz (www.pflegeelternnetz.de)

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