FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2007

 

Gelingende und misslingende Rückführungen
 von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien

Zwischenbericht über eine empirische Untersuchung
der ArbeitsGemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) und der BundesArbeitsGemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien (BAG-KiAP)

von Christoph Malter und Birgit Nabert

 

1. Zum Stand der empirischen Forschung
Empirische Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum, die Auskunft über das Verhältnis von gelungenen zu misslungenen Rückführungen geben, liegen derzeit nicht vor oder wurden jedenfalls nicht veröffentlicht.

„Leider ist bislang nirgends erfasst, für wie viele Kinder unter welchen Umständen eine Rückführung ins Auge gefasst wird und wie oft sie realisiert wird. Aus der durch das KJHG vorgeschriebenen Dokumentation der Hilfeplanung – wenn sie denn stattfindet – müsste das jedoch ohne weiteres zu ermitteln sein.“ (Zenz, 2001, S. 29)

Gegenwärtig läuft eine umfangreiche Erhebung des Deutschen Jugendinstitutes (DJI) und des Deutschen Institutes für Jugend und Familienrecht (DIJuF) zu dem Thema (vgl. DJI, 2006), die aber erst Ende 2008 abgeschlossen wird.

Anders sieht es mit der Forschung im Ausland aus, die zumindest Hinweise auf die forschungsrelevanten Fragen gibt und als Warnung vor einer Rückführungspraxis ohne überprüfbare Kriterien und Erfolgskontrolle verstanden werden muss. Einen Überblick über internationale Forschungen liefern Kindler, Lillig und Küfner (2006) mit folgenden Resultaten:
„Belegt wird die Stabilität von Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsrisiken durch Befunde zur Häufigkeit wiederholter Misshandlung bzw. Vernachlässigung. In einer groß angelegten amerikanischen Längsschnittstudie wurden bspw. im Verlauf von viereinhalb Jahren nach einem berichteten Gefährdungsereignis – trotz aller Jugendhilfemaßnahmen – in über 40 % der Fälle ein oder mehrere Gefährdungsereignisse bekannt. Entsprechend finden sich in den international hierzu vorliegenden Studien auch bei Pflegekindern.... erschreckend hohe Raten erneuter Misshandlung bzw. Vernachlässigung nach einer Rückführung. Die folgende Tabelle zeigt die verfügbaren Studien im Überblick:

Längsschnittuntersuchungen zur Rate erneuter Misshandlung
bzw. Vernachlässigung nach einer Rückführung aus Familienpflege

Autor der Studie

Anzahl der Probanden (N)

Rate erneuter Gefährdung

Farmer (1996)

172

25 %

Jones (1998)

445

29 % nach Misshandlung in der Vorgeschichte,
33 % nach schwerer Vernachlässigung

Terling (1999)

1515

20 % erneute Fremdunterbringung aufgrund von Misshandlung bzw. Vernachlässigung

Dale et. al. (2002)

15

47 %

Frame (2002)

1009

41 % erneute Gefährdungsmeldung,
14 % erneute Fremdunterbringung

zit. nach Kindler, Lillig u. Küfner, 2006, S. 12


Diese Ergebnisse sind alarmierend, weil den betroffenen Pflegekindern die Chancen genommen wurden, die ihnen der Verbleib in ihren Pflegefamilien wahrscheinlich geboten hätte.

2. Häufigkeit der Rückführungen
Schon 1987 wird im »Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich« des Deutschen Jugendinstitutes berichtet, dass differierende Schätzungen über die Rückführungshäufigkeiten vorliegen, die zwischen 6% und 42% von allen Pflegeverhältnissen streuen. Die Rückführungspraxis geschehe nicht nach objektiven oder fachlich anerkannten Kriterien; allgemein anerkannte Richtlinien für die Rückführung von Pflegekindern seien nicht vorhanden (vgl. Permien, 1987, S. 255). 

Für das Land Berlin liegt eine Studie vor, in deren Verlauf alle beendeten Pflegeverhältnisse der (damals) zwölf Bezirke von Januar 1985 bis Juni 1987 erfasst wurden. In diesem Zeitraum wurden 505 Pflegeverhältnisse in insgesamt 448 Pflegefamilien beendet, wegen Volljährigkeit 44%, wegen Abbruch mit nachfolgender Heimeinweisung oder Pflegestellenwechsel 22%. Insgesamt wurden 88 Pflegekinder zu ihren Herkunftsfamilien zurückgeführt, 18 davon sogar nach einer Pflegedauer von über 3 Jahren (vgl. Nielsen, 1990, S. 216).

In der Untersuchung »Strukturen der Vollzeitpflege in Niedersachsen« wurden von  217 im Jahr 2001 beendeten Hilfen in Pflegefamilien 11,1% geplante Rückführungen durchgeführt (vgl. Erzberger, 2003, S. 126). Von 239 dort untersuchten Pflegschaften wurden 24,3% mit Rückkehroption geplant (a.a.O. S. 118). Insgesamt 54 Kinder und Jugendliche sind nach Beendigung der Hilfe in die Herkunftsfamilie zurückgekehrt. „In 20% der Fälle kehrten die Kinder und Jugendlichen in stabile Verhältnisse ohne weiteren Unterstützungsbedarf zurück, 30% fanden stabile Familien vor, allerdings musste hier weiterhin eine Unterstützung gewährleistet sein, und 50% schließlich wechselten von der Pflegefamilie in instabile Verhältnisse ihrer Herkunftsfamilie.“ (a.a.O. S. 132)

Aus den Zahlen der Bundesstatistik, die Rückführungen von Pflegekindern zu Herkunftseltern nicht explizit erfasst, leitet Blandow eine Quote der ‚Rückkehrer’ von rund 20% - 30% ab (vgl. Blandow, 2004, S. 144).

Nach den Ausführungen des Familienrechtsexperten Salgo kehren 39 Prozent der Pflegekinder wieder in familiäre Verhältnisse zurück. Er bezieht sich bei dieser Aussage auf die Dokumentation der Kom-Dat Jugendhilfe (vgl. Rauschenbach, 1998) und vermutet, dass die Arrangements nach der Rückkehr in der Regel nicht stabil seien. Es gibt zwar keine gesicherten Erkenntnisse über anschließend notwendig werdende Fremdplatzierungen, jedoch Hinweise dafür, dass diese bei gut der Hälfte der betroffenen Minderjährigen eintreten. Die Fraglichkeit dieser Rückführungspraxis ergibt sich schon aus den Vorgeschichten der Fremdunterbringungen, nach denen wegen des intensiven Ausbaus der ambulanten Hilfen „...zunehmend solche Kinder und Jugendliche in Betracht kommen, die nicht mehr über familienunterstützende Hilfen erreicht werden können.“ (Salgo, 2001, S. 37)

3. Ausgangspunkt eigener Recherchen
In einer kleinen Umfrage der AGSP bei verschiedenen Jugendämtern kam zutage, dass es Jugendämter mit sehr niedrigen Rückführungsquoten gibt (unter 5 % von allen bestehenden Pflegschaften) und andere mit sehr hohen Rückführungsquoten (zwischen 30 % und 50 %). Niedrige Rückführungsquoten meldeten solche Jugendämter, die ein umfangreich ausgestaltetes Bereitschaftspflegekonzept anwenden und ein sorgfältiges Clearing vor der Vermittlung in eine unbefristete Vollzeitpflegefamilie betreiben. Das entspricht dem gesetzlichen Auftrag des § 37 (1) KJHG, in dem es heißt:
„...Durch Beratung und Unterstützung sollen die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraumes so verbessert werden, dass sie das Kind oder den Jugendlichen wieder selbst erziehen kann.... Ist eine nachhaltige Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb dieses Zeitraumes nicht erreichbar, so soll mit den beteiligten Personen eine andere, dem Wohl des Kindes förderliche und auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden...“  

Dass dieser gesetzliche Auftrag aus bindungstheoretischen und entwicklungspsychologischen Überlegungen ernst genommen werden muss, belegt Brisch mit einer Falldarstellung und zieht aus seinen klinischen Erfahrungen folgende Bilanz:
„Nicht selten scheitern frühzeitige und unter Zeitdruck geplante und realisierte Rückführungen aus ähnlichen Gründen, so dass es durch den ‚Versuch einer Rückführung’ zu erneuten Trennungserfahrungen für die Kinder und im schlimmsten Fall zu erneuten traumatischen Erlebnissen in der Ursprungsfamilie kommen kann. Eine erneute Herausnahme und manchmal sogar eine erneute Fremdunterbringung – gelegentlich auch bei einer anderen, neuen Pflegefamilie oder in einem Heim – bedeuten für die Kinder eine erneute Traumatisierung und führen nicht zur Beruhigung des Bindungssystems, sondern fördern die Entwicklung von Bindungsstörungen.“ (Brisch, 2006, S. 244ff.)

Es erweist sich also als sehr dringend, empirisch festzustellen,

  • wie viele Rückführungen überhaupt stattfinden,
  • nach welchen Gesichtspunkten und Regeln sie vorgenommen werden,
  • wie viele Rückführungen gelingen bzw. misslingen und
  • ob es Indikatoren gibt, die das Misslingen bzw. Gelingen vorhersehen lassen.

4. Sammlung von Rückführungsfällen
Im Mai 2005 begann die Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP – www.agsp.de) in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien (BAG-KiAP – www.kiap.de) und mit Unterstützung der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes eine Sammlung von Rückführungsfällen. Diese Recherche und die weitere Untersuchung wurde von der Holzmindener Kinderschutzkonferenz vom 3. September 2005 begrüßt und unterstützt (vgl.
www.agsp.de/html/n295.html).

Für eine Voruntersuchung baten wir per Internet, im persönlichen Kontakt und auf Tagungen sowie durch Publikation in Pflegeelternfachzeitschriften alle Pflegeeltern, Sozialarbeiter, Verfahrenspfleger, Rechtsanwälte, Richter, Lehrer, Ärzte etc., die mit der Rückführung von Pflegekindern zu tun haben oder hatten, mit uns in Kontakt zu treten und sich für ein telefonisches Interview zur Verfügung zu stellen. Die Auswertung wurde unter Wahrung des Datenschutzes anonym durchgeführt. Auf den Forschungsaufruf (vgl. www.agsp.de/html/n241.html) sind mittlerweile ca. 200 Rückmeldungen erfolgt, überwiegend von Pflegeeltern.

Für ungefähr die Hälfte der Kinder, zu denen Angaben zum derzeitigen Aufenthaltsort vorliegen, musste nach der Rückführung zu den leiblichen Eltern erneut eine Fremdunterbringung beschlossen werden. Wegen des nun höheren Alters kam häufig nur eine Heimunterbringung in Betracht. Insgesamt hatten ungefähr zwei Drittel einen ungünstigen Verlauf genommen, was allerdings an der Art der unsystematischen Auswahl liegt und deshalb nichts über die tatsächliche Misserfolgsquote aussagt. Es war aber in vielen Fällen offensichtlich, dass schon vor der Rückführung deutliche Anzeichen für wahrscheinliches Misslingen vorlagen. Zwei typische Beispiele:

Bernd kam im Alter von 2½ Jahren zu Pflegeeltern. Der Unterbringung ging eine Sozialpädagogische Familienhilfe voraus. Er wurde vernachlässigt und war ein sehr unruhiges Kind. Der Vater war alkoholabhängig, die Mutter im Alltag oft überfordert. Besuchskontakte gab es monatlich.  Die Perspektive des Pflegeverhältnisses war unklar. Die Rückführung wurde gegen die Empfehlung des Jugendamtes vom Gericht angeordnet, als Bernd 4½ Jahre alt war. Über diese sehr dramatische Rückführung wurde in der Zeitschrift PATEN (Heft 1, 2000, S. 20ff.) ausführlich berichtet. Der heute 8-jährige Bernd musste 1½ Jahre nach der Rückführung wieder untergebracht werden und lebt jetzt in einer Erziehungsstelle.

Lisa wurde im Alter von drei Jahren zu Pflegeeltern gegeben. Die Eltern hatten sie stark vernachlässigt und sind suchtmittelabhängig. Besuchskontakte fanden monatlich statt. Lisa bot eine Reihe von Verhaltensauffälligkeiten, besonders im Zusammenhang mit der Umgangsgestaltung. Im Alter von fünf Jahren wurde Lisa zu den leiblichen Eltern zurückgeführt. Die Entscheidung wurde vom Gericht gegen die Empfehlung des Jugendamtes und des Vormundes ausgesprochen. Nach der Rückführung in die Herkunftsfamilie musste Lisa dort wiederholt Gewalt erleben. Mutter und Ehemann seien drogenrückfällig geworden, die Ehe stehe kurz vor der Auflösung. Mittlerweile lebt die Mutter mit dem 7-jährigen Kind im Frauenhaus. Lisa wurde erst mit sieben Jahren eingeschult und erhielt während der Zeit davor keinerlei Förderung. Auch zur regulären Einschulungsuntersuchung wurde sie nicht vorgestellt. Lisa lebe in instabilen und ihre Entwicklung gefährdenden Verhältnissen. Das Scheitern sei laut Aussage der betreuenden Fachleute vorauszusehen (vgl. Malter, 2005).

Die Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen haben zum Teil die zuständigen Jugendämter und zum Teil die Familiengerichte zu verantworten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Arbeitsbedingungen in vielen Jugendämtern und Gerichten eine sorgfältige psychosoziale Diagnostik kaum ermöglichen.

5. Ein Fallbeispiel – Die Geschichte der Kinder Laura und Luigi
Wir greifen im folgenden eine uns genauer bekannte Fallgeschichte heraus, um zu veranschaulichen, wie problematisch im einzelnen Rückführungsaktionen verlaufen können, insbesondere wenn man sie aus bindungstheoretischer Perspektive betrachtet:

Am 7. Juni 2003 wurden die Zwillinge Laura und Luigi Valentin geboren. Familie Valentin lebte mit zwei weiteren Kleinkindern im Alter von zwei und drei Jahren in einer 43 qm kleinen Dachgeschosswohnung ohne Badewanne. Die Mutter gilt als minderbegabt und leidet an Depressionen. Vom Vater war bereits bekannt, dass er des öfteren gewalttätig in Erscheinung trat. Beispielsweise hatte der Hausverwalter wegen Pöbeleien in seinen Geschäftsräumen ein Hausverbot gegen ihn erlassen. Einmal musste Herr Valentin von der Polizei wegen Hausfriedensbruch aus dessen Büroräumen abgeführt werden. Zudem bedrohte er einen Mitarbeiter der Hausverwaltung. Die Bemühungen der Familie Valentin um eine größere Wohnung blieben lange Zeit erfolglos.

Anlässlich der Geburt von Laura und Luigi reiste die Großmutter aus Italien an. Von Juni bis Oktober wurden die Kinder überwiegend von ihr versorgt und betreut. Gleichzeitig erhielt die Familie eine ‚flexible Betreuung’ von einem Verein für Jugendhilfe sowie zusätzlich eine Haushaltshilfe. Die Betreuerin berichtete von der Überforderung der Mutter. Beispielsweise sei sie einmal beim Füttern der Kinder eingeschlafen, mit der Folge, dass Laura ihr vom Arm und auf die Erde fiel. Laura und Luigi seien zwei sehr unruhige Kinder, die nur sehr wenig und unregelmäßig schliefen und sehr viel und lange weinten. Eine positive emotionale Bindung der Mutter zu den Zwillingen sei kaum erkennbar gewesen.

Ende Oktober wurde erstmals eine Unterbringung bei benachbarten Pflegeeltern notwendig. Familie Valentin stimmte der Unterbringung zu, und die Kinder kamen zu der Familie Fuchs und Familie Wriedt. Die  Pflegemütter sind befreundet und  ermöglichten den Kindern den Kontakt zueinander.

Im November wurde Frau Valentin für 3 Wochen stationär psychiatrisch behandelt. Am 21. Dezember kehrten die Kinder in den Haushalt der Eltern zurück.

Bereits Ende Januar mussten Laura und Luigi erneut zu den Pflegeeltern. Frau Valentin wurde wegen psychosomatischer Leiden abermals stationär behandelt. Ende Februar holte Herr Valentin die Kinder wieder zu sich. Bis Ende April erhielt er Hilfe von einer Betreuerin.

Wiederum konnte Familie Valentin sich nicht dauerhaft stabilisieren. Im Mai kamen die Kinder deshalb zu den Familien Fuchs und Wriedt in Wochenpflege, welche im Juli in eine befristete Vollzeitpflege umgewandelt wurde. Als Ziel der Hilfe wurde die Rückführung in ca. 2 Jahren vereinbart. Besuchskontakte sollten möglichst oft stattfinden.

Schon nach 6 Wochen war Frau Valentin mit der Unterbringung nicht mehr einverstanden, und nahm den Antrag auf Hilfe zur Erziehung zurück. Laura und Luigi kamen noch einmal zu ihren Eltern und die Familie erhielt ‚flexible Hilfe’.

Am 25. September begab sich die Mutter erneut stationär in psychiatrische Behandlung. Sie äußerte dort Suizidgedanken und auch die Kinder umbringen zu wollen. Laura und Luigi kamen wieder zu den gleichen Pflegeeltern. Dieses mal erwirkte aber das Jugendamt die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes auf einen Amtsvormund. Im März 2005 wurde der Beschluss erweitert und die Personensorge entzogen.

Im Gutachten an das Familiengericht schrieb die Sachverständige, dass „....die Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern deutlich eingeschränkt ist....“, und das Jugendamt berichtete, dass „....eine weitere Rückführung nur dann erfolgen sollte, wenn Frau Valentin sich erfolgreich einer Therapie unterziehen würde und sich die familiären Verhältnisse ändern. Die Familiensituation war nach wie vor sehr angespannt, die Valentins akzeptieren die Fremdunterbringung nicht, und das Verhältnis zu den Pflegemüttern wurde immer schwieriger... Die Pflegemütter halten die Besuchsregelung für schädlich und traumatisierend für die Kinder.“

Die Pflegemütter berichteten von Gewalt und Vernachlässigung in der Herkunftsfamilie. Herr Valentin soll Frau Valentin immer wieder geschlagen haben und für dieses Verhalten gegenüber seiner Frau keinerlei Unrechtsempfinden zeigen. Einmal mussten die Pflegemütter bei einem Besuchskontakt die Polizei herbeirufen, um sich und die Kinder vor dem angetrunken, randalierenden Vater zu schützen. Er beabsichtigte, Laura und Luigi gewaltsam zum Besuchskontakt mitzunehmen.

Umgangskontakte sollten deshalb nun unter Begleitung stattfinden. Zwei Mitarbeiter einer Jugendhilfe GmbH wurden damit beauftragt. Sie sollten Familie Valentin darüber hinaus soweit helfen, dass die Kinder im Mai 2006 zurückgeführt werden können. Zunehmend verweigerten die Kinder aber die Besuchskontakte in der Art, dass sie nicht mehr mitgehen wollten.

Ab Mai 2005 ließ sich Frau Valentin regelmäßig ambulant therapeutisch behandeln. Die Besuchskontakte wurden daraufhin intensiviert. Für die negativen Reaktionen der Kinder wurden die Pflegemütter verantwortlich gemacht. In einem Bericht des Betreuers wurde darauf hingewiesen, dass Familie Valentin sich den Umständen entsprechend gut stabilisiert hätte: „Familie Valentin bewohnt z.Zt. eine 80 qm große 3 Zimmer Wohnung.... Herr Valentin ist arbeitslos gemeldet. Seinen Führerschein hatte Herr Valentin letztes Jahr abgeben müssen, erhält ihn aber Mitte Februar zurück. Die Familie lebt von Arbeitslosengeld II und dem Kindergeld für die Söhne S. und M.. Schulden zahlt die Familie selbständig an die Gläubiger zurück.... Wir erleben die Familie Valentin im vergangenen Betreuungszeitraum als ausgesprochen stabil... Wir erachten eine Weiterführung der Hilfe für notwendig, um weiterhin an der inneren Stabilität zu arbeiten und vor allem unterstützend bei der geplanten Rückführung der Zwillinge zu wirken.“

Die Pflegemütter hatten Zweifel daran, dass die geplante Rückführung gut gehen könne. Sie stellten deshalb im Januar 2006 beim Familiengericht den Antrag auf Verbleib der Kinder in der Pflegefamilie gem. § 1632 BGB mit den Argumenten:

  • Die Kinder haben in der Zwischenzeit tiefe und starke Bindungen an die Pflegeeltern gefunden.
  • Die Kinder reagieren außerordentlich stark auffällig auf die stattfindenden Umgangskontakte. Es bilden sich Verhaltensauffälligkeiten, auch starke Kontaktverweigerung der Kinder gegenüber den Umgängen.
  • Die Kindesmutter befindet sich wegen ihrer schweren Depressionen in ambulanter Therapie.
  • Die Kinder leben seit dem vierten Lebensmonat überwiegend und seit September 2004 ganz bei den Familien der Antragsteller.

Der Familienrichter ließ daraufhin ein mündliches, psychologisches Gutachten erstellen. Nach der Anhörung sah er keine Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung durch die beabsichtigte Übersiedlung der Kinder in den elterlichen Haushalt. Das Gericht kam in Übereinstimmung mit der Sachverständigen und den Ausführungen des Jugendamtes zu der Überzeugung, dass eine schnelle Rückführung die beste Alternative für die Kinder sei.

Die Gutachterin, welche ein Jahr zuvor ‚erhebliche Erziehungsdefizite’ registrierte, kam nun aufgrund einer ca. 4-stündigen Verhaltensbeobachtung von den Eltern und Kindern zu dem Ergebnis, dass die Rückführung schnell erfolgen müsse. Daraufhin wurde der Antrag der Pflegeeltern zurückgewiesen.

Der Rechtsanwalt der Pflegeeltern beantragte eine schriftliche Ausfertigung des Sachverständigengutachtens und legte vier Tage nach der Ausfertigung des Familiengerichtsbeschlusses Beschwerde beim Oberlandgericht ein. Mit einem Antrag auf Erlass einer vorläufigen Anordnung auf Verbleib wollte er erwirken, dass die Kinder vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag zur Hauptsache in der Pflegefamilie verbleiben. Er trug vor, dass das Jugendamt beabsichtige, die Kinder in der laufenden Woche aus den Pflegefamilien zu nehmen und machte geltend, dass Laura und Luigi schützenswerte Bindungen bei ihren Pflegemüttern gefunden haben, deren Zerstörung bei den Kindern nachhaltige Schäden verursachen würde. Auch rügte er, dass die Sachverständige in ihrer kurzen Begutachtung die Möglichkeit, dass es sich bei den Bindungen der Kinder zu ihren Eltern um Angstbindungen handeln könnte, überhaupt nicht in Betracht gezogen habe.

Der Rechtsanwalt der Familie Valentin beantragte die Herausgabe der Kinder und sah im Verhalten der Pflegeeltern das Wohl von Laura und Luigi erheblich gefährdet. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes trug dazu folgende Argumente vor: „Unserer Meinung nach trägt die Spannung zwischen Eltern und Pflegeeltern dazu bei, dass die Kinder sich stark an ihre Bezugspersonen klammern. Wir beobachten, dass die Pflegemütter die Kinder nicht gut loslassen können. Dies trägt zur Belastung der Kinder erheblich bei.... Das Wohl der Kinder kann derzeit nicht mehr als gefährdet angesehen werden, wenn sie zu den Eltern zurückkehren.... Mittlerweile ist die Lage dermaßen untragbar für die Kinder und die Familie Valentin, dass das Jugendamt auf eine schnelle Rückführung besteht..... Die sogenannte Angstbindung der Zwillinge ist also vielmehr ein Loyalitätskonflikt der Kinder.... Des weitern scheint mir auch eine verzehrte [gemeint ist wohl ‚verzerrte’] Wahrnehmung der Pflegemütter in Bezug auf die leiblichen Eltern statt zu finden.“   

Der Richter des Oberlandgerichtes wies den Antrag der Pflegeeltern mit der Begründung zurück: „Die Herausnahme der Kinder aus dem Haushalt der Pflegeeltern dient.... der Rückführung der Kinder in den Haushalt ihrer leiblichen Eltern und damit in ihren elterlichen Kulturkreis. Diese Zielrichtung der Rückführung dient dem grundgesetzlich geschützten Elternrecht.“

Laura und Luigi wurden am 25.2.2006 zurückgeführt und eine Umgangsregelung mit den Pflegeeltern wurde vereinbart. Zwei Monate später wurde die Nachfrage, ob das mündlich erstellte Gutachten zwischenzeitlich schriftlich vorliege, vom Richter verneint:
„Die Sachverständige hat ihr Gutachten zu Protokoll vom 28.1.06 gegeben. Diese Beurteilung der Sachverständigen ist auch Grundlage der abschließenden Entscheidung der ersten Instanz vom 1.2.06 geworden. Zwar lässt sich dem Protokoll entnehmen, dass Sie den Antrag gestellt haben, der Sachverständigen aufzugeben, das Gutachten in schriftlicher Form zu erstellen; jedoch enthält die Akte keinen Hinweis darauf, dass der Sachverständigen der Auftrag erteilt worden ist, bis Ende März 2006 das Gutachten in schriftlicher Form vorzulegen. Aus der Sicht des Senates erscheint dies auch nicht mehr erforderlich zu sein.“

Konflikthaft blieb weiterhin die Umgangsregelung. Nach der Rückführung gab es im Juli 2006 einen ersten Kontakt der Kinder mit den Pflegemüttern. Familie Valentin lehnte – entgegen vorher anderslautenden Erklärungen – eine Umgangsregelung nun ab. In einem Vorgespräch erklärte die zuständige Sozialarbeiterin vom Jugendamt, dass die Pflegeeltern mit ihrer Einschätzung, dass Familie Valentin nur wenig kooperationsbereit sei, recht behalten hätte. Die Familie lasse schon wieder nicht genügend Hilfen zu. 

Ein Nachbar der Familie Valentin berichtete, dass es in der Wohnung sehr laut sei, die Kinder oft angebrüllt würden und nur selten draußen zu sehen seien. Er beobachtete, wie die Mutter mit den Kindern sehr schroff und wenig liebevoll umging.

Nach dem Umgangskontakt berichtete Frau Fuchs: „Ich sah Luigi dort stehen und dachte bei mir, oh Gott, er steht dort wie eine Leiche, völlig aschfahl im Gesicht, dünn, keine Mimik und weit aufgerissene Augen. Wo war das fröhliche Kind von vor der Rückführung?“

Dieser traumatische Verlauf ist nur einer von vielen ähnlichen uns vorliegenden. Zusammen mit den anderen genannten Befunden unserer bisherigen Untersuchung zeigt er sehr eindringlich, wie wichtig weitere Forschung über die Rückführung von Pflegekindern ist, um Jugendämtern und Familiengerichten bessere Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen und um Kindern und Familien wiederholtes Scheitern mit verheerenden Folgen zu ersparen.

Literatur:

Blandow, J.: Pflegekinder und ihre Familien. Weinheim, München, 2004

Brisch, K.: Adoption aus der Perspektive der Bindungstheorie und Therapie. In: Brisch, Hellbrügge: Kinder ohne Bindung. Deprivation, Adoption und Psychotherapie. Stuttgart, 2006, S. 222ff.

Deutsches Jugendinstitut (DJI): Projekt Pflegekinderhilfe. http://www.dji.de/cgi-bin/projekte/output.php?projekt=439 , Laufzeit: 2005-2008

Eberhard, K.; Malter, C.: Aktuelle Perspektiven des Kinderschutzes gegen Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch. In: Paten, H.1, 2006, S. 22 oder unter http://www.agsp.de/html/a71.html

Erzberger, C.: Strukturen der Vollzeitpflege in Niedersachsen. Eine Untersuchung im Auftrag des Ministeriums für Frauen, Soziales, Familie und Gesundheit und der Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“. Bremen, 2003

Kindler, H.; Lillig, S. u. Küfner, M.: Rückführung von Pflegekindern nach Misshandlung bzw. Vernachlässigung in der Vorgeschichte: Forschungsübersicht zu Entscheidungskriterien. In: Das Jugendamt, H.1, 2006, S. 9ff.

Malter, C.: Zur Problematik der Rückführung von Pflegekindern. Voruntersuchung der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien. In: Forum, 2005; http://www.agsp.de/html/a58.html

Nielsen, H.: Beendigung von Pflegeverhältnissen und die Folgen für die Betroffenen. In: Güthoff, F.; Jordan, E.; Steege, G. (Hg.): Hamburger Pflegekinderkongress „Mut zur Vielfalt“. Münster, 1990, (S. 211-216)

Permien, H.: Rückführung von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim, München, 1987, S. 255ff.

Rauschenbach, T. (Hg.): Kommentierte Daten der Kinder und Jugendhilfe. Informationsdienst der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder und Jugendhilfestatistik.
1998, H. 2

Salgo, L.: Zielorientierung und Hilfeplanung nach dem SGB VIII (KJHG). In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001, (S. 36-67)

Schweinberger, P.: Sechs Personen in zwei Zimmern. In: P. Tageblatt Nr. 182, 146. Jg, S. 1 und 5.

Zenz, G.: Zur Bedeutung der Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflegekindern. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001, (S. 36-67)

veröffentlicht im 4. Jahrbuch des Pflegekinderwesens

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