FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2006

 

Aktuelle Perspektiven des Kinderschutzes
gegen Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch

von Kurt Eberhard und Christoph Malter

Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie

 

Im Jahr 2000 begann die Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) mit der systematischen Sammlung und Veröffentlichung von Presseartikeln über Vernachlässigungs- und Mißhandlungsfälle, bei denen das zum Teil vorwerfbare und zum Teil systembedingte Versagen der Jugendbehörden bei der Wahrnehmung ihres Wächteramts unübersehbar war (vgl. www.agsp.de/html/sachgebiete.html). Damals wurden zwar spektakuläre Fälle sexuellen Mißbrauchs in den überregionalen Medien, Vernachlässigungsfälle aber fast nur in den Lokalteilen der Regionalpresse publiziert. Eine erste Zwischenbilanz präsentierten wir 2001 (www.agsp.de/html/d15.html). Die sozialhistorische Analyse jener Befunde und unserer beruflichen Erfahrungen erschien 2001 unter dem Titel »Das Kindeswohl auf dem Altar des Elternrechts« und eine thesenhafte Kurzfassung unter dem Titel »Sieben Sünden gegen das Kindeswohl«, die wir hier noch einmal zitieren wollen:

  1. In den siebziger Jahren begann die Rechtsprechung, die im JWG kodifizierten Interventionsmöglichkeiten des Jugendamtes gegen verwahrlosende Eltern in Frage zu stellen und schließlich als verfassungswidrig zu erklären.
  2. Der Gesetzgeber verschärfte diesen Trend durch ersatzlose Streichung des § 64 JWG (Fürsorgeerziehung wegen Verwahrlosung oder drohender Verwahrlosung) und durch weitere Stärkung des Elternrechts (§ 1666a BGB).
  3. Der im KJHG betonte Dienstleistungscharakter ermutigt die Jugendämter, die Pflichten des staatlichen Wächteramts nachrangig zu behandeln bzw. zu vernachlässigen (anbietende Jugendhilfe statt aufsuchende Familien- und Säuglingsfürsorge).
  4. Der Mythos der ambulanten Hilfen wird auch dort gesungen, wo alle Erfahrung dagegen spricht, nämlich in den vernachlässigenden, mißhandelnden und mißbrauchenden Familien.
  5. Die Privatisierung der Heime und ambulanten Hilfen führt zu einem rücksichtslosen Konkurrenzkampf um die traumatisierten Kinder, statt sie rechtzeitig in angemessen betreute Pflegefamilien zu geben.
  6. Eine ökonomisch motivierte und dementsprechend ideologisierende statt sorgfältig forschende Sozialpädagogik produziert ständig neue Begriffe, Theorien und Methoden, ohne sie in der Praxis empirisch zu überprüfen.
  7. Die in den vernachlässigenden, mißhandelnden und mißbrauchenden Familien festsitzenden Kinder haben keine Lobby, wohl aber ihre traumatisierenden Eltern, denn sie sind die Klienten der kommerzialisierten Jugendhilfe.

Erst der qualvolle Tod Jessicas 2005 in Hamburg führte zur Alarmierung der Öffentlichkeit und zusammen mit ähnlichen Skandalen in anderen Bundesländern zur allgemeinen Mobilisierung der politischen Szene, zunächst allerdings nur im Sinne einer Polarisierung von empörten Vorwürfen gegenüber den zuständigen Behörden einerseits und deren defensiven Rechtfertigungen andererseits.

Um die Diskussion zu versachlichen, luden die »Stiftung zum Wohl des Pflegekindes«, die »Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien« (BAG-KiAP) und die AGSP zu einer interdisziplinären Kinderschutzkonferenz ein, die am 3. Sept. 2005 in Holzminden stattfand und in 14 Forderungen mündete.

Die Liste der Erstunterzeichner zeigt, daß einschlägig erfahrene Praktiker und fachlich ausgewiesene Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen hinter diesen Forderungen stehen. Weitere Befürworter haben inzwischen unterschrieben und fast täglich kommen neue hinzu.

Mittlerweile ist das erste Ziel unserer und anderer gleichgesinnter Initiativen erreicht: alle politischen Parteien haben erkannt, daß der Kinderschutz in Deutschland unzureichend ist und dringend etwas unternommen werden muß. Unklar ist noch, welche Maßnahmen hinreichend effektiv, verfassungsgerecht, unbürokratisch und kostengünstig sein könnten.

Folgende Absichten scheinen sich herauszukristallisieren:

  • Umfassende Aufklärung der Bürger und Fachkräfte über die gravierenden Folgen von Kindesvernachlässigung und -mißhandlung und Ermutigung, den Kinderschutz als gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen.
  • Ausbau und bessere personelle Ausstattung der sozialdienstlichen Beratungs- und Hilfsangebote.
  • Schwangeren- und Mütterbetreuung unter Mitwirkung angemessen geschulter Hebammen.
  • Zusammenarbeit der zuständigen Behörden und Institutionen (Jugendämter, Gesundheitsämter, Polizei, Gerichte, Schulen, Kindertagesstätten, Kinderärzte etc.) im Sinne von Netzwerken zwecks gemeinsamer Verwirklichung des staatlichen Wächteramts.
  • Aufbau eines Frühwarnsystems zwecks Koordination und Weiterleitung alarmierender Signale.
  • Obligatorische kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen oder - falls eine solche Verpflichtung wider Erwarten am Verfassungsgericht scheitern sollte - finanzielle Prämierung der Teilnahme an freiwilligen Untersuchungen.

Kein Konsens besteht bislang in der Frage, wie sehr die anbietende und aufsuchende durch eingreifende Jugendhilfe ergänzt werden muß. Das aber ist gerade die drängendste und heikelste Frage: wann dürfen, wann sollen und wann müssen die Familiengerichte zwecks Herausnahme des Kindes eingeschaltet werden?

Wir haben dazu – wie übrigens auch schon jetzt etliche Jugendämter – eine klare Position: wenn die ambulante Beratung von vernachlässigenden, mißhandelnden, mißbrauchenden Eltern erfolg- oder aussichtslos ist, muß (ggf. nach Inobhutnahme) unverzüglich das Familiengericht mit dem Ziel angerufen werden, das Kind in einem geeigneten Heim oder noch besser in einer dafür qualifizierten Pflegefamilie unterzubringen. Auch wenn nach anfänglichen, noch mehrdeutigen Indizien kindeswohlgefährdendes Verhalten der Eltern für möglich gehalten wird und die Eltern eine Klärung dieser Befürchtung z.B. durch Ablehnung von Hausbesuchen verhindern, ist ebenfalls schnellstens ein familiengerichtliches Verfahren einzuleiten. Der resignative Verzicht vieler Jugendamtsmitarbeiter auf solche Anträge aus enttäuschenden Erfahrungen mit unkooperativen Richtern ist unverantwortlich und bestärkt diese in ihrer kinderschutzfeindlichen Spruchpraxis.

Verfassungsrechtliche Bedenken (Elternrechte und Unverletzlichkeit der Wohnung) müssen wegen Vorrangs des Kindeswohls zurückstehen (vgl. z.B. das »Neuköllner Modell« - www.agsp.de/html/n323.html). Artikel 6 und Artikel 13 GG erlauben ausdrücklich entsprechende gesetzliche Einschränkungen. Deshalb planen einige Bundesländer bereits eine Gesetzesinitiative im Bundesrat. Das Saarland hat diesen Schritt als erstes schon vollzogen.

Im übrigen unterstützen wir die oben genannten Reformvorschläge und fordern alle am Kinderschutz interessierten Bürger, Verbände und Institutionen auf, mit gleicher Entschiedenheit in dieser durchaus aussichtsreichen Diskussion mitzuwirken.

Literatur:

Dassler, Sandra: Alles, was Recht ist. Jugendämter können auch gegen den Willen der Eltern eingreifen – so steht es im Grundgesetz. Tagesspiegel, 8.1.2006

Eberhard, K., Eberhard, I., Malter, C.: Das Kindeswohl auf dem Altar des Elternrechts. In: Sozial-Extra, H. 2, 2001

Eberhard, G. u. K.:  Sieben Sünden gegen das Kindeswohl. Thesen aus unseren Erfahrungen mit dem staatlichen Kinderschutz. http://www.agsp.de/html/d3.html, 2000

Malter, C., Eberhard, G. u. K.:  Bilanz zu unserer Pressedokumentation über Vernachlässigungs- und Jugendamts-Skandale. http://www.agsp.de/html/d15.html, 2001

veröffentlicht in der Zeitschrift PATEN, Heft 1/2006, S. 22/23

 

 

 

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