FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2001

 

Nachuntersuchungen zur „Berliner Studie über dissoziales Verhalten bei Jugendlichen“

 (eine Längsschnittstudie)

von Prof. Dr. Klaus Hartmann (1998)


Seminar für Heilpädagogische Psychologie und Psychiatrie der Universität zu Köln

 

Zusammenfassung: 1970 publizierte der Autor eine Studie über dissoziales Verhalten bei Jugendlichen. Dieser Untersuchung folgten zwei katamnestische Studien, die erste fünf Jahre, die zweite 27 Jahre nach der initialen psychiatrischen Begutachtung. In seiner Monographie Lebenswege nach Heimerziehung (1996) stellte der Autor eine Übersicht über seine erste Untersuchung und seine katamnestischen Studien vor. Dieser Artikel resümiert wesentliche statistische Befunde und schließt mit Anmerkungen über die Interpretation dissozialen Verhaltens und die Evaluation von Prognosen.


1961 wurde von der Landesjugendbehörde in Berlin eine Abteilung für die psychiatrische Begutachtung männlicher Jugendlicher im Rahmen der Öffentlichen Erziehung eingerichtet, um den stationären Maßnahmen jugendamtlicher Hilfe ein Sachverständigengutachten vorzuschalten.

Dieser Einrichtung („Grünes Haus“, 1968 in „Han s-Zulliger-Haus“ umbenannt) wurden in den folgenden Jahren bis 1974 alle männlichen Minderjährigen zur Begutachtung überwiesen, für die in Berlin (West-Berlin) wegen der Gefahr der „Verwahrlosung“ Öffentliche Erziehung beantragt worden war.

Von 1059 Probanden der Aufnahmejahrgänge 1961-1965 wurde zunächst eine Basisdokumentation sozialpsychiatrischer Daten erstellt, die unter dem Titel „Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung“ - im folgenden als „Berliner Studie über dissoziales Verhalten bei Jugendlichen“, kurz „Berliner Studie“ bezeichnet - 1970 in erster, 1977 in zweiter Auflage erschien. Hartmann, 1977.

Der Basisdokumentation folgten Nachuntersuchungen über die Entwicklung einer Untersuchungsgruppe von 253 Probanden: eine erste Nachuntersuchung durchschnittlich fünf Jahre nach dem Sachverständigengutachten, eine zweite Nachuntersuchung durchschnittlich 27 Jahre danach.

In einer Monographie („Lebenswege nach Heimerziehung“) wurde 1996 eine Zusammenfassung von Ergebnissen der Berliner Studie und der Nachuntersuchungen vorgelegt (Hartmann, 1996). Auf diese Zusammenfassung und ihre Bibliographie wird verwiesen. Der folgende Beitrag beschränkt sich auf eine Auswahl der Ergebnisse und einen Exkurs über Interpretationen der Dissozialität und Evaluationen ihrer prognostischen Einschätzung.

Ergebnisse der Berliner Studie

Die Aufgabe, Jugendliche zu begutachten, für welche wegen sogenannter „Verwahrlosung“ Öffentliche Erziehung beantragt wurde, setzt Vorannahmen darüber voraus, welche pathognostischen Symptome zum reklamierten Störungsbild gehören.

Für die Dissozialitätssymptomatik (nach amerikanischer Begriffskonvention auch unter „Delinquency“ subsumiert) hatten S. und E. Glueck mit „Unraveling Juvenile Delinquency“ eine spektakuläre Vergleichsuntersuchung vorgelegt. Indem die Autoren 500 Delinquents

mit 500 Non-Delinquents von annähernd gleicher Umwelt, Nationalität, Altersgruppe und Intelligenz systematisch hinsichtlich ihrer soziologischen, biologischen und psychologischen Konstitution miteinander verglichen, konnten sie feststel len, welche Merkmale überzufällig häufiger bei ihren Delinquents auftraten, also als typische Symptome juveniler Dissozialität gelten können (Glueck & Glueck, 1957).

Danach ist das Störungsbild juveniler Dissozialität durch eine charakteristische Anamnese und Symptomatologie gekennzeichnet. Die Familienanamnese dissozialer Jungen zeigt signifikante strukturelle und psychosoziale Auffälligkeiten. Die Eigenanamnese dissozialer Jugendlicher ist überzufällig häufig durch „Kränklichkeit“ in der Kindheit sowie Verhaltensstörungen und Leistungsschwierigkeiten in der Schule auffällig. Zur typischen Symptomatologie dissozialer Jugendlicher gehören Verhaltensstörungen im Sinne von „Labilität“ (Bindungsschwäche, Belastungsschwäche), „Impulsivität“ (Schulschwänzen, Weglaufen, Bummeln), „Aggressivität“ (Aggressionen gegen Personen, Aggressionen gegen Objekte) und „Kriminalität“ (häufig als Eigentumskriminalität, Wiederholungskriminalität, Frühkriminalität).

Dissoziale Jugendliche zeigen im Vergleich zu anderen Jugendlichen auch schlechtere Intelligenzleistungen, wie eine Untersuchung von 1037 Probanden des Kollektivs der Berliner Studie ergab. Sie lagen im „Intelligenz-Struktur-Test“ von Amthauer (Amthauer, 1953) mit einem mittleren Intelligenzquotienten von 84,6 deutlich unter dem mittleren Intelligenzquotienten des Eichkollektivs (vgl. Abb. 1).



Daß Dissoziale auch ein schlechtes Arbeitsverhalten zeigen, demonstrierten Registerdaten der AOK von Probanden eines Pilotprojekts der Berliner Studie zur Vorbereitung der ersten Nachuntersuchung (unveröffentlichter Forschungsbericht, Eberhard & Hartmann, 1968). Von 188 Probanden (einer Stichprobe von 214 aus der Öffentlichen Erziehung entlassenen Probanden) wurde der Arbeitsquotient, die Anzahl der Arbeitstage pro Anzahl der Arbeitsstellen, ermittelt. Die Häufigkeitsverteilung war deutlich linksschief und näherte sich fast einer J-Verteilung. Der Median lag bei 60,8 Tagen pro Arbeitsstelle, das heißt, die Hälfte der Probanden hatte im Durchschnitt weniger als zwei Monate pro Arbeitsstelle gearbeitet (vgl. Abb. 2).



Die Daten, die danach, in der ersten und zweiten Nachuntersuchung, nicht mehr erhoben werden konnten, bestätigen die soziale Inkompetenz der Dissozialen, wie sie Remschmidt (1987; S. 172) beschrieben hat: „Das primär Auffällige dieser jungen Menschen ist nicht eigentlich ihre Delinquenz, sondern ihre soziale Inkompetenz, ihr Versagen im Umgang mit erwarteten Fähigkeiten und Fertigkeiten.“

Der Beitrag der Berliner Studie bestand im wesentlichen in der Dokumentation dieser typischen Befunde, um sie für die Forschung zu nutzen. Schmidt (1995; S. 209): „Wenn Institutionen, die Jugendhilfe planen und sie durchführen, wesentliche Daten so aufzeichnen, daß sie für die Forschung nutzbar gemacht werden können, und sich einer Analyse dieser Daten stellen, können handlungsrelevante Rückmeldungen aus der Jugendhilfeforschung in die praktische Arbeit zurückgelangen.“

Ein anderer Beitrag war der Versuch, von der Dokumentation zu einer Quantifikation zu gelangen, also die Dissozialität eines Jugendlichen nach der Ausprägung pathognostischer Befunde zu messen. Zum Beispiel nach seiner Soziallabilität, nach seiner Legalprognose und nach seinem Intelligenzquotienten.

Die Soziallabilität wurde nach Belastungsindices (1. Sozialindex, 2. Sozialindex) in fünf Bereichen mit insgesamt 25 diagnostisch relevanten Items bestimmt. Nach Hartmann & Adam, 1966 (vgl. Abb. 3).



Die Legalprognose wurde nach dem „Legalprognosetest für dissoziale Jugendliche“ (LDJ) nach elf prognostisch relevanten Items bestimmt. Nach Hartmann & Eberhard, 1972 (vgl. Tab. 1).



Der Intelligenzquotient wurde in den meisten Gutachten nach dem „Intelligenz-Struktur- Test“ von Amthauer ermittelt, der sich für große Untersuchungskollektive besonders empfiehlt, weil er auch in Gruppen durchgeführt werden kann.

Ergebnisse der ersten Nachuntersuchung

Zur ersten Nachuntersuchung, durchschnittlich fünf Jahre nach dem Sachverständigengutachten, gehörten u.a. Strafregisterauskünfte über alle 253 Probanden, Interviews von allen 253 Probanden und ein sogenannter „Beurteilungsbogen“, in denen der Interviewte aufgefordert wurde, die Effizienz der jugendamtlichen Maßnahmen und der Heimerziehung sowie seine Stimmungslage, sein Arbeitsverhalten, sein legales Verhalten und seine sozialen Kontakte zu beurteilen.

Eine detaillierte Auswertung der Interviews erfolgte nicht. In den Beurteilungsbögen zeigten die interviewten Probanden in der Eigenbeurteilung (EB) eine deutliche Tendenz zu positiven Urteilen. Nur die jugendamtlichen Maßnahmen erhielten als durchschnittliches Prädikat 3,3. Die Heimerziehung wurde besser beurteilt, durchschnittliches Prädikat 2,7! Die Fremdbeurteilungen (FB) der Interviewer fielen im Gesamtdurchschnitt mit 0,9 Zensureinheiten schlechter aus (vgl. Tab. 2).

Aufschlußreich waren die aus den Strafregisterauskünften ermittelten Straffälligkeitsquotienten und ihre Korrelationen. Nach den Strafregisterauskünften wurden nach den vorgegebenen Bewertungskriterien bei 27,3 % der Probanden (69 Probanden) eine „positive Legalkatamnese“ und bei 72,7 % der Probanden (184 Probanden) eine „negative Legalkatamnese“ registriert, und die „negative Legalkatamnese“ zeigte sich signifikant mit einer überdurchschnittlichen Soziallabilität, einer ungünstigen Legalprognose und einer unterdurchschnittlichen Testintelligenz korreliert.

Von Probanden mit überdurchschnittlicher Soziallabilität (1. Sozialindex > 13 Items) wurden 83,46 % straffällig, von Probanden mit unterdurchschnittlicher Soziallabilität (1. Sozialindex < 12 Items) nur
61,90 % (vgl. Tab. 3).

Von Probanden mit ungünstiger Legalprognose nach dem LDJ (LDJ > 5 Items) wurden 86,43 % straffällig, von Probanden mit günstiger Legalprognose nach dem LDJ (LDJ < 4 Items) nur
55,75 % (vgl. Tab. 4).

Von Probanden mit einem unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten (Intelligenzquotient < 90 Items) wurden 77,9 % straffällig, von Probanden mit einem durchschnittlichen / überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten (Intelligenzquotient > 91 Items)
nur 60,9 % (vgl. Tab. 5).



Ergebnisse der zweiten Nachuntersuchung

Die zweite Nachuntersuchung, durchschnittlich 27 Jahre nach dem Sachverständigengutachten, strebte ebenfalls statistische Erhebungen an. Doch konnten nur 106 Probanden der Stichprobe interviewt werden, was der statistischen Beschreibung Grenzen setzte. In dieser Situation war es naheliegend, von der statistischen Beschreibung des Kollektivs auf die Beschreibung von Einzelfällen zu rekurrieren. Um so mehr als sich dieser Rekurs als informativ und interessant erwies.

Anfänglich erscheint das Bild jugendlicher Dissozialität eher uniform. „Die Eintönigkeit solcher Lebensläufe kann kaum genug betont werden, ebenso die Typizität, mit der sie sich bei jenen Jugendlichen wiederholen, die der öffentlichen Jugendhilfe die meisten Sorgen bereiten“ (Schüler-Springorum & Sieverts, 1970, S. 28 ). Die Langzeit-Einzelfallstudie zeigte jedoch viele verschiedene Verläufe: günstige Verläufe, ungünstige Verläufe, Verläufe mit rückläufiger Kriminalität, Verläufe mit persistierender Kriminalität, Verläufe mit Tötungsdelikten, Verläufe, die mit Suchtentwicklungen, Psychosen, Suizid dekompensierten. In der Monographie wurden 33 exemplarische Krankengeschichten vorgestellt. Für die Krankheitsgeschichte jugendlicher Dissozialität lassen sich aus diesen Krankengeschichten zwei Tendenzen ablesen.

Zu 1. Im Verlauf lassen sich häufig drei Phasen der Entwicklung feststellen. Dissozialität äußert sich im Kindesalter überwiegend in Symptomen von Labilität und Impulsivität, zeigt im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter mehr und mehr auch Symptome von Aggressivität und Kriminalität, um sich im mittleren Lebensalter wieder mehr auf Symptome von Labilität und Impulsivität zu reduzieren. Ihrem Verlauf entsprechend erscheint Dissozialität typischerweise im Kindesalter als Behandlungsfall für Erziehungsberatungsstellen, mit zunehmender Aggressivität und Kriminalität als Reglementierungsfall für Gerichte und mit abnehmender Aggressivität und Kriminalität mehr und mehr als Sozialfall für Versorgungsämter.

Unsere Langzeitkatamnesen zeigten einen sehr deutlichen Rückgang der Kriminalität. Bei der ersten Nachuntersuchung wurde bei 72,7 % eine „negative Legalkatamnese“ festgestellt. Bei der zweiten Nachuntersuchung wurden bei den Fällen der vorliegenden Kasuistik nur noch 54,6 % als straffällig registriert, davon allerdings drei mit Tötungsdelikten.

Auch S. und E. Glueck registrierten bei den Nachuntersuchungen ihrer Delinquents eine Reduzierung der kriminellen Aktivität (Glueck, S. & Glueck, E., 1968). Die Quote der „serious offenders“ nahm von 90,4 % bei der Aufnahmeuntersuchung auf 59,6 % bei der ersten und auf 28,9 % bei der zweiten „Follow-Up-Period“ ab. Während die „serious offenses“ in der Berichtszeit abnahmen, wurde im gleichen Zeitraum eine Zunahme an „lesser offenses“ registriert. Vor allem zeigte sich eine Zunahme an „mental pathology“. Die Pathologie verliert also an „krimineller Energie“, schwelt aber weiter im Sinne einer „heterotypischen Kontinuität“.

Zu 2. „Nosos“ und „pathos“, „pathologische Vorgänge“ und „pathologische Zustände“, können sich auf vielfältige Weise kombinieren und interagieren. Auch die Dissozialität kann sich mit anderen pathologischen Zuständen assoziieren und von diversen pathologischen Vorgängen überlagert werden. In der vorliegenden Kasuistik finden sich Beispiele für die Assoziation von Dissozialität mit intellektueller Retardierung sowie Beispiele für die Überlagerung von Dissozialität mit schizophrenen Psychosen, neurologischen Krankheitsbildern. Depressionen und Suizid, homosexuellen Problemen und Suchtproblemen, insonderheit Alkoholabhängigkeit.

Interpretationen

In einer Einführung zum DSM-IV schrieben Petermann et al. (1995, S. 171 ): „Eine der wesentlichen Neuerungen der vierten Ausgabe des 'Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders' (DSM-IV) der American Psychiatric Association (1994) gegenüber der vorhergehenden Fassung DSM-III-R (American Psychiatric Association, 1987; deutsche Übersetzung: Wittchen et al., 1989) ergibt sich aus der konsequenten Orientierung an den Ergebnissen der Entwicklungspsychopathologie.“

Diese Orientierung an der Entwicklungspsychopathologie ist an einer Reihe von Beispielen zu demonstrieren, aber bei den dissozialen Störungen immer noch nicht erfolgt, insofern soziopathische Dissozialität wieder nur bei Erwachsenen diagnostiziert werden darf, obwohl der Beginn in der Kindheit oder frühen Adoleszenz als ein „essential feature“ dieser Störung beschrieben wird.

Es ist durchaus nicht einzusehen, warum eine Störung, die früh diagnostiziert werden kann, nicht auch früh diagnostiziert werden darf!

In der vorletzten DSM-Ausgabe (DSM-III, S. 318) hieß es noch: „Manche Kinder oder Adoleszenten mit Verhaltensstörung, besonders der aggressiven Form mit Sozialisierungsmängeln, können den Kriterien für die Antisoziale Persönlichkeitsstörung beim Erwachsenen entsprechen, in solchem Fall soll die Diagnose geändert werden.“

Die ICD-10 ist gleichermaßen inkonsequent. Einerseits gilt für alle spezifischen Persönlichkeitsstörungen: „Die Störungen beginnen immer in der Kindheit oder Jugend und manifestieren sich auf Dauer im Erwachsenenalter.“ Andererseits wird die Diagnose einer solchen Störung „vor dem Alter von 16 oder 17 Jahren“ als „wahrscheinlich unangemessen“ bezeichnet (vgl. Dilling et al., 1993, S. 212 f.).

Mehr noch, die Diagnose soziopathischer Dissozialität bei Minderjährigen wird nicht nur verboten, sondern auch zu verhindern versucht: Indem die alternative diagnostische Kategorie, die „Sozialverhaltensstörung“, ausdrücklich für andere als die soziopathische Dissozialität reserviert wird; indem diese alternative diagnostische Kategorie eine Bezeichnung erhalten hat, die keine Beziehung zur soziopathischen Dissozialität erkennen läßt; und indem dieser alternativen diagnostischen Kategorie eine Subklassifikation verordnet wurde, in der sich auch die letzten Spuren soziopathischer Dissozialität verlieren.1

Auf der anderen Seite wird in der ICD-10 für die Diagnose der dissozialen Persönlichkeitsstörung bei Erwachsenen nicht nur der Nachweis einer „Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen“ gefordert (was zur Definition des Störungsbildes gehört), sondern auch der Nachweis solcher Eigenschaften wie „dickfelliges Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer und Mangel an Empathie“ oder „Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein“ verlangt, was auf Diskriminierung hinausläuft.

Im DSM-III-R (nicht im DSM-IV wiederholt!) findet sich eine Erklärung für das Verbot, soziopathische Dissozialität auch im Kindesalter zu diagnostizieren. Es wird geltend gemacht, daß „solches Verhalten spontan enden oder in andere Störungen, beispielsweise Schizophrenie, übergehen kann“.

Die Schwierigkeit entfällt, wenn die sozialen Inkompetenzen des Kindesalters (der intellektuellen Retardierung analog) auch als Retardierungen, nämlich als „soziale Retardierungen“ interpretiert werden.2

Wenn die sozialen Inkompetenzen des Kindesalters als Retardierungen verstanden werden, wird einerseits „die gegensätzliche Behandlung von Anlage und Umwelt“ hinfällig. „Die gegensätzliche Behandlung von Anlage und Umwelt ist (...) erst im Erwachsenenalter überzeugend, wenn die Umwelteinflüsse auf eine durchstrukturierte Persönlichkeit einwirken“ (Petrilowitsch, 1972, S.477-497). Wenn die sozialen Inkompetenzen des Kindesalters als Retardierungen interpretiert werden, lassen sich auch die Remissionen im Entwicklungsverlauf sowie die Assoziation dieser Retardierung mit anderen Retardierungen oder ihre Komplikation durch psychiatrische Krankheiten, beispielsweise Schizophrenien, verstehen. In der ICD-10 heißt es über „intelligenzgeminderte Personen“ (vgl. Dilling et al., 1993, S. 238): „Intelligenzgeminderte Personen können an allen psychiatrischen Störungen erkranken ...“ Was für intellektuell Retardierte gilt, gilt auch für sozial Retardierte, auch diese „können an allen psychiatrischen Störungen erkranken“!

Die Assoziation sozialer Retardierungen mit anderen Retardierungen ist übrigens häufig, insbesondere mit intellektuellen Retardierungen (vgl. Abb. 1). Auch eine Überlagerung sozialer Retardierungen durch schizophrene Psychosen ist „nicht ganz selten“ (Tölle, 1986). Die Assoziation dissozialer mit hyperkinetischen Störungen wurde u.a. von Esser et al. (1992) bestätigt. Im DSM-III-R wurden die Störung des Sozialverhaltens, die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung sowie die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten als „expansive Verhaltensstörungen“ („ disruptive behavior disorder“) zusammengefaßt und die bei diesen Störungen auftretenden Verhaltensweisen als „externalizing symptoms“ bezeichnet. (Im DSM-IV wird der Begriff „externalizing symptoms“ jedoch nicht mehr erwähnt und der Begriff „disruptive behavior disorders“ nur noch in der Überschrift des Kapitels zitiert: Attention-Deficit und Disruptive Behavior Disorders).

Evaluationen

Für das Qualitätsmanagement jugendamtlicher Hilfen hat Viola Harnach-Beck neben der Bedeutung der Diagnose auch und besonders die Bedeutung der Prognose hervorgehoben (Harnach-Beck, 1997).

Für die „Vorgehensweise der Prognostik“ empfahl Tölle „statistische und individuelle Befunde als Kriterien der Prognostik zugrunde zu legen“ (Tölle, 1991 ). Diese Empfehlung ist wohl begründet: Die Statistik kann feststellen, welche Faktoren mit der sozialen respektive legalen Entwicklung korrelieren. Weil sich aber perfekte Korrelationen bei sozialpsychiatrischen Befunden - das heißt, solche mit Korrelationskoeffizienten in der Nähe von r = + 1,0 - so gut wie niemals finden (Amelang, 1986), sind im Einzelfall falsch positive und falsch negative Entwicklungsprognosen nicht auszuschließen. Dann wird kasuistische Forschung erforderlich, die den Fehlurteilen nachgeht, um nach den kasuistischen Erkenntnissen die statistischen Erkenntnisse zu verbessern.

Die Erforschung des Allgemeinen und die Erforschung des Besonderen müssen sich wechselseitig ergänzen. Das Allgemeine, die Krankheitsgeschichte, wird aus dem Besonderen, den Krankengeschichten, entwickelt, im Besonderen konkretisiert und vom Besonderen von Fall zu Fall revidiert. Das ist ein zentrales Thema der zitierten Monographie. Für die „Vorgehensweise in der Prognostik“ werden zahlreiche statistische und kasuistische Befunde vorgestellt.

Statistische Befunde. Als statistische Parameter für die Legalentwicklung wurden die Soziallabilität, die Legalprognose und der Intelligenzquotient ermittelt. Sie sind signifikant mit der Legalentwicklung korreliert, wie in Tabelle 3, 4 und 5 dargestellt. Eine überd urchschnittliche Soziallabilität im Soziallabilitätsvergleich, eine ungünstige Legalprognose nach dem LDJ und ein unterdurchschnittlicher Intelligenzquotient im Intelligenztest sind danach zuverlässige Indikatoren für eine ungünstige Legalentwicklung.

Kasuistische Befunde. 33 kasuistisch Beispiele demonstrieren, wie sich die „Krankheitsgeschichte“ eines Syndroms auf sehr verschiedene Weise in ihren „Krankengeschichten“ konkretisieren kann - die statistischen Prognosen in der Regel bestätigend, aber auch, wie nicht anders zu erwarten3, Einzelfälle von falsch positiven und falsch negativen Legalprognosen nicht ausschließend.

Beispiel: falsch positive Legalprognosen infolge einer unzulässigen Anwendung des prognostischen Instrumentariums. Dies lag vor im Fall eines bei der Aufnahme vierzehnjährigen Minderjährigen (Fallgeschichte Uwe K.), dessen Legalprognose nach dem LDJ prognostiziert wurde, obwohl der Test an einer Stichprobe älterer Minderjähriger entwickelt worden war. Es wurde fälschlicherweise eine günstige Legalprognose attestiert. Mit sechzehn Jahren wurde der Begutachtete erstmals und danach immer wieder straffällig.

Beispiel: falsch positive Legalprognosen infolge von Komplikationen der Dissozialitätsproblematik durch eine psychotische Erkrankung. Dies lag vor im Fall eines bei der Aufnahme neunzehnjährigen Minderjährigen (Fallgeschichte Armin T.). Die gutachtlichen Befunde wurden in der „Gutachtenkartei“ wie folgt zusammengefaßt: Hauptschulabschluß. Intellektuelle Retardierung. Mäßige Soziallabilität im Soziallabilitätsvergleich. Legalkatamnese: keine Reklamationen. Mittelfristige statistische Legalprognose günstig. Siebenundzwanzigjährig brachte der Begutachtete seine Mutter um. Nun wurde bei der psychiatrischen Untersuchung eine Schizophrenie diagnostiziert und eine Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet. Ein Fehlschluß wäre es, aus der Entwicklung einer Psychose zu folgern, daß die erste Gutachtendiagnose einer Dissozialitätsproblematik falsch gewesen war. Bei dem Patienten lag auch eine intellektuelle Retardierung vor (Intelligenzquotient 76). Wie die Diagnose einer intellektuellen Retardierung durch die spätere Entwicklung einer Psychose nicht falsifiziert wird, so wird auch die Diagnose einer sozialen Retardierung durch die spätere Entwicklung einer Psychose nicht falsifiziert.

Die falsch negativen Legalprognosen (Entwicklung günstiger als prognostiziert) sind vor allem von individuellem Interesse. Es ließe sich vermuten, daß dabei besondere musische oder intellektuelle Begabungen als „protektive Faktoren“ ins Spiel kommen. Wie aber die Erfahrung belegt, pflegen so begabte Probanden bei der prognostischen Beurteilung von vornherein keine besonders ungünstige prognostische Beurteilung zu erhalten.

Es sind vielmehr oft nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare Ereignisse, deren Zusammenwirken die unerwartete Wendung (möglicherweise) erklärt. In manchen Fällen der zitierten Kasuistik mit unerwartet günstiger Entwicklung wurden beispielsweise stabile Partnerbeziehungen festgestellt. Auch Rutter, Quinton und Hill (1990) konnten in Fällen mit unerwartet günstiger Entwicklung häufig stabile Partnerbeziehungen registrieren. Aber was ist Ursache, was Folge in der Assoziation von positiver Entwicklung und stabiler Partnerschaft? „There is growing evidence that to some extent people select and shape their own environments” (Rutter et. al.,1990, S. 152).

Schließlich ist ein grundsätzliches Problem sozialpsychiatrischer Forschung zu bedenken: Wir brauchen Langzeituntersuchungen, um die Zeitgestalt des Phänomens „jugendliche Dissozialität“ zu erfassen; andererseits ist nicht zu übersehen, daß sich dieses Phänomen im Zeitverlauf verändert, was der Generalisierbarkeit unserer Forschungsergebnisse Grenzen setzt.

Die Berliner Studie bezieht sich auf 1.059 Probanden der Öffentlichen Erziehung aus den Aufnahmejahrgängen 1961 - 1965. Diese Probanden waren in der schwierigen Zeit zwischen den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs und den ersten Nachkriegsjahren geboren; bei 279 Jugendlichen war der Vater, bei 63 Jugendlichen die Mutter und bei 64 Jugendlichen Vater und Mutter tot oder verschollen. Andererseits waren sie noch nicht von der Drogenwelle erreicht! Von den in die Nachuntersuchung einbezogenen 253 Probanden der Stichprobe wurde bei der Begutachtung kein einziger und bei der ersten Nachuntersuchung durchschnittlich fünf Jahre später nur ein Proband durch einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz auffällig.

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1 Subklassifikation der Störung des Sozialverhaltens nach der ICD-10 auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens; Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen; Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen; Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten; andere Störungen des Sozialverhaltens; nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens; kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen; Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung; andere kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen; nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen.

2 Im DSM-IV werden „Personality Disorders“ auf der gleichen Achse II kodiert wie „Mental Retardations“!

3 „ Jeder Patient, der zur Behandlung oder zur Begutachtung kommt, konfrontiert uns mit der Antinomie von Individualität und Regeln“ (Bochnik, 1987).


Literatur:

Amelang, M. (1986). Sozial abweichendes Verhalten. Berlin: Springer.

Amthauer, R. (1953). I-S-T Intelligenz-Struktur-Test. Göttingen: Hogrefe.

Bochnik, H.J. (1987). Der einzelne Patient und die Regel - ein Grundproblem der Medizin. Der medizinische Sachverständige. 83, 5-11.

Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (Hrsg.). (1993). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Kapitel V (F) (2. korr. u. bearb. Aufl.). Bern: Huber.

DSM-III (1984). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (3. Aufl.) Weinheim: Beltz.

DSM-III-R (1989). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (3. Aufl., Revision) Weinheim: Beltz.

DSM-IV (1994). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4th ed.). Washington, DC: American Psychiatric Association.

Eberhard, K. & Hartmann, K. (1968). Lebensbewährung schwererziehbarer männlicher Minderjähriger: Unveröffentlichter Forschungsbericht.

Esser, G., Schmidt, M.H., Blanz, B., Fätgenheuer, D., Fritz, A., Koppe, T., Laucht, M., Rensch, B. & Rothenberger, W. (1992). Prävalenz und Verlauf psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 20, 232-242.

Glueck, S. & Glueck, E. (1957) Unraveling juvenile delinquency (3rd printing). Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.

Glueck, S. & Glueck, E. (1968). Delinquents and nondelinquents in perspective. Cambridge. Massachusetts: Harvard University Press.

Harnach-Beck, V. (1997). Informationsgewinnung durch Fachkräfte des Jugendamtes -Professionelle Datenermittlung als Aspekt des Qualitätsmanagements. Kindheit und Entwicklung, 6, 31-39.

Hartmann, K. (1977). Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung (2. Aufl.). Berlin: Springer.

Hartmann, K. (1996). Lebenswege nach Heimerziehung: Biographien sozialer Retardierung. Freiburg. Rombach.

Hartmann, K. & Adam, G. (1966). Ein Versuch zur Messung der Soziallabilität von sogenannten „erziehungsschwierigen“ Jugendlichen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. 49, 113-123.

Hartmann, K. & Eberhard, K. (1972 ). Legalprognosetest für dissoziale Jugendliche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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