FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 



Günter
Schiepek (Hg.)

Neurobiologie der Psychotherapie

Schattauer Stuttgart, 2004 (Studienausgabe)

(522 Seiten, 89,00 Euro)


Das Ziel dieses Buches ist, die Veränderungen im Gehirn, die durch Psychotherapie und damit überhaupt durch psychische Prozesse entstehen, durch bildgebende Verfahren darzustellen. Mehr als 60 Mediziner, Psychologen, Physiker, Biologen u.a., die an deutschen und ausländischen Universitäten vorwiegend als Professoren oder wissenschaftliche Mitarbeiter lehren und forschen, beschreiben ihre Ergebnisse.


Inhaltsüberblick

Der Herausgeber Günter Schiepek hat nach einem einführenden ausführlichen Überblick versucht, die vielfältigen Beiträge in einzelne Abschnitte einzuordnen:

Im ersten Abschnitt geht es um theoretische Grundlagen. Ausgehend von Freud’s Ich-Instanzen wird nach ihren Zuordnungen im Gehirn gesucht, das als ein äußerst komplexes neuronales Netzwerk aufgefaßt wird und sich auch noch im Alter anatomisch verändern kann. Mögliche Untersuchungen zur Hirndynamik werden besprochen.

Abschließend wird die 'Synergetik' skizziert, die sich als interpretatives Modell durch das ganze Buch hindurchzieht.

Im zweiten Abschnitt geht es um die Beschreibung bildgebender Verfahren. Sie sind die technische Basis aller Untersuchungen. Materielles Substrat psychischer Vorgänge sind Veränderungen im Gehirn, die z.T. durch jene bildgebenden Verfahren dargestellt werden. Verwendet werden das Elektroenzephalogramm (EEG), die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und die Emissionscomputertomographie (PET, P für Positronen).

Das EEG zeichnet die vom Gehirn erzeugten elektrischen Spannungsschwankungen als Kurven über die Zeit auf und kann so Funktionsstörungen erkennen und lokalisieren.

Die fMRT erkennt Gebiete, in denen erhöhte oder erniedrigte Nervenzellaktivitäten auftreten. Durch die Blutflußveränderung verändert sich auch das Verhältnis von sauerstoffreichem zu sauerstoffarmem Blut. Das hat Auswirkungen auf die magnetischen Verhältnisse, die in Hirnbilder transformiert werden.

Die PET arbeitet mit radioaktiv markierter Glucose, die dem Untersuchenden in die Vene gespritzt wird. Aus den ausgesandten positiv geladenen Teilchen (Positronen) setzt der Computer das Bild zusammen.

In den weiteren Abschnitten wird genauer auf Gefühl, Denken, Gedächtnis und Schmerz eingegangen und immer wieder die Verbindung zur Psychotherapie hergestellt. Für die Psychotherapie und andere allgemeine psychische Prozesse grundlegende Abläufe wie Anpassung des Organismus durch vegetative Steuerungen werden untersucht. Es wird speziell auf die Hirnstammfunktionen wie Atmung und Herzkreislaufsystem eingegangen.

Schließlich werden in einem letzten Abschnitt die neurobiologischen Grundlagen klinischer Störungsbilder erörtert. Dazu gehören z.B. Ängste, posttraumatische Belastungsreaktionen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und der Zusammenhang zwischen Psyche und Immunreaktionen.

Es würde den Rahmen einer Buchbesprechung sprengen, alle Untersuchungen ausführlich darzustellen. Deshalb seien im folgenden nur einige Themen herausgegriffen.

Zunächst soll das immer wieder als Erklärung herangezogene Modell der Synergetik etwas erläutert werden.

Die Synergetik ist ein für die vorliegenden Untersuchungen wesentliches Auswertungsmodell. Sie stellt die Selbstorganisation komplexer Gebilde mathematisch dar. Aufgrund ihres hohen Abstraktionsniveaus ist sie vielseitig anwendbar. Physikalische, chemische, biologische, psychologische und viele andere Vorgänge können berechnet und entsprechende Voraussagen gemacht werden. Dafür seien zwei Beispiele genannt.

Eine Person sitzt Kaffee trinkend in gemütlicher Runde. Sie ist zunächst ruhig, ausgeglichen und unterhält sich mit den andern ganz unauffällig. Nach zwei Tassen Kaffee ist sie immer noch ausgeglichen. Aber nach einigen weiteren Tassen wird sie lebendiger, redet mehr, wird unruhiger und aufgeregter. In der Synergetik würde man die Anzahl der Tassen Kaffee als Kontollparameter, den Übergang vom Zustand relativer Ruhe zu größerer Aktivität und Aufgeregtheit als Instabilität bezeichnen. Den Zustand der Ruhe/Unruhe könnte man durch einige Ordnungsparameter (Zahl der Wörter, Handbewegungen, Themenwechsel im Gespräch, Spannung des elektrischen Hautwiderstands u.ä.) erfassen.

Ein zweites Beispiel stammt aus der Physik. In einer Glasröhre befinden sich Gasatome. Durch sie wird ein elektrischer Strom geleitet. Bei niedriger Stromstärke werden unkoordinierte Lichtwellen ausgesandt, wodurch ganz normales Licht entsteht. Bei höherer Stromstärke wird der Zustand normalen Lichts verlassen, die Lichtwellen koordinieren sich, es entsteht Laserlicht. Diesen Prozeß kann man als Selbstorganisation auffassen. Hier sind die Stromstärke der Kontrollparameter, die Lichtwellenkoordination ein Ordnungsparameter und der Phasenübergang vom Normal- zum Laserlicht die Instabilität.

Angewandt wurde die Synergetik auf so verschiedenartige Prozesse wie z.B. Pferdegangarten, epileptische Anfälle, Parkinsonscher Tremor, Bilderkennen, psychische Störungen oder Gruppenprozesse. Es geht hier immer um den Übergang von einer Struktur, die bestimmte eigene Ordnungsparameter hat, zu einer anderen Struktur mit wiederum ihren eigenen Ordnungsparametern. Bei der Pferdegangart vom Trab zum Galopp, beim Epileptiker vom Normalzustand zum Anfall, beim Parkinsonkranken vom Ruhezustand zum Tremor, beim Bildsehen vom Nichterkennen zum Erkennen, bei psychischen Störungen vom Gesunden zum Zwangsneurotiker oder bei der Gruppe vom meditativen Schweigen zur Diskussion zeigen sich immer typische Merkmale der Instabilität. Diese Übergänge sind häufig gekennzeichnet durch Schwankungen, Verzögerungen oder sogar chaotische Ausprägungen.

Welche Vorteile bringt nun eine so allgemeine Beschreibung ganz konkreter Prozesse? Das wichtigste Ergebnis ist wohl die Erkenntnis, daß die Phasenübergänge mit im Vergleich zur vorangehenden und nachfolgenden Struktur sehr wenigen Ordnungsparametern beschrieben werden können. Das sind offensichtlich sehr sensible Stellen, an denen man mit geringem Aufwand und besonders effektiv den gewünschten Aufbau der nächsten Struktur fördern kann. Das läßt sich für die Pferdedressur, für die Verhinderung eines epileptischen Anfalls, für die Einschränkung des Tremors, für das schnellere oder gründlichere Bilderkennen, für die Nichtentstehung oder Therapie einer Neurose oder für die Förderung einer Gruppendiskussion nutzen.

Einige Untersuchungen zeigen, daß sich die hirnphysiologischen Korrelate dieser motorischen und psychischen Prozesse und eine Reduzierung der Ordnungsparameter während der Instabilität finden lassen. In diesen Situationen kann man z.B. das Medikament Haloperidol zur Beruhigung oder Koffein zur Hebung des Aktivationsniveaus als Kontrollparameter effektiv verwenden.

Will man auch den Verlauf einer Psychotherapie hirnphysiologisch verfolgen, so sind dem Patienten allzuviele Messungen nicht zuzumuten. Als sehr informationshaltige Messungen bieten sich die instabilen Phasenübergänge an.

Was ist unter dem Begriff Neuronales Netzwerk zu verstehen? Wie kann man sich den Ablauf psychischer Prozesse im Gehirn vorstellen? Das Gehirn besteht aus ca. 1010 Nervenzellen (Neuronen), die vielfältig miteinander durch Synapsen verbunden sind. Lernprozesse schlagen sich nieder durch Verstärkung der Synapsenverbindung oder durch Aufbau neuer Neurone. Beides faßt man unter dem Begriff Neuroplastizität zusammen. Die Wissensspeicherung ist vorstellbar als ein Muster, das aus aktiven und inaktiven Neuronen besteht. Denkt man sich nun das Muster als eine Fläche, die aus Zeilen und Spalten besteht (Analogie Festplatte), können die inaktiven Neuronen numerisch als 0, die aktiven als 1 gesehen werden. Weiterhin ergibt eine Untereinanderanordnung der einzelnen Spalten mathematisch einen einspaltigen Vektor, der auch rechnerisch einfach gehandhabt werden kann.

Im Folgenden seien einige weitere Beispiele genannt, die psychische Vorgänge durch das Erkennen ihrer hirnphysiologischen Abläufe und Lokalisationen verständlicher machen:

Wie kommt es, daß ein Beinamputierter, der eine Berührung am Mundwinkel erfährt, sich an der Prothese kratzt? Das bildgebende Verfahren zeigt, daß sich das Cortexareal der Gesichtssensorik auf große Teile der ursprünglichen Beinsensorik, die jetzt ja nicht mehr gebraucht werden, ausgedehnt hat.

Was haben eine psychogene Beinlähmung und eine hypnotisch erzeugte Beinlähmung gemeinsam? Es zeigen sich gleiche Aktivitätsmuster in zwei Hirnarealen (orbito-frontaler und zingulärer Cortex), die der Bewegungsunterdrückung zugeschrieben werden.

Wie weit beeinflussen Entspannungsmethoden, z.B. das Autogene Training die einzelnen Funktionen? Zunächst denkt man, es handelt sich um eine Entspannung der Muskeln und damit auch um eine bessere Durchblutung des Körpers (Wärmebildung). Da es sich hier um ein ganz bewußtes Training handelt, würde man nur corticale Musterveränderungen erwarten. Frequenz- und Amplitudenanalysen zeigen aber, daß die Rhythmusveränderungen der Gehirnschichten bis in das Stammhirn hineinreichen.

Zusammenfassende Beurteilung:
Nur ein Insider kann die volle Information dieses Buches ausschöpfen, d.h. jemand, der auf diesem Gebiet wissenschaftlich arbeitet. Voraussetzung für volles Verständnis sind gründliche Kenntnisse der Physiologie des Nervensystems, der Psychotherapie und der Mathematik, hier insbesondere der linearen und nichtlinearen Gleichungssysteme. Für solche Experten gibt das Buch sicher einen sehr guten Überblick über die Arbeit der Autoren.

Es gibt aber einige Hinweise darauf, daß das Buch sich an einen größeren Adressatenkreis wenden möchte. Da ist zunächst einmal der Titel. Wird eine Neurobiologie der Psychotherapie angeboten, so horchen Mediziner, Psychologen und Pädagogen auf, weil hier vielleicht neues, handfestes Basiswissen angeboten wird. Einige Kapitel scheinen tatsächlich für den interessierten Laien geschrieben worden zu sein. Als ein Beispiel sei der Beitrag 'Neuronale Netzwerke und Psychotherapie' von Manfred Spitzer angeführt. Der schwierige Stoff ist didaktisch so hervorragend dargeboten, daß man ihn auch mit wenig Wissensvoraussetzungen verstehen kann.

Unter dieser Voraussetzung, daß sich das Buch an einen erweiterten Adressatenkreis wendet, wagt der Rezensent, der vieles nicht gut verstanden hat, auch einige kritische Bemerkungen:

Die Synergie taucht in der überwiegenden Zahl der Beiträge als Interpretationsmodell auf. Nicht nur ihr hohes Abstraktionsniveau, sondern auch ihre große Nähe zur Chaostheorie stimmen bedenklich. In einem Beitrag wird mit erheblichem Aufwand der Begriff des Ordners (Ordnungsparameter) erklärt, um dann in der Anwendung dahin zu kommen, daß der Mediziner hierunter Syndrome versteht. Wo bleibt da der Informationsgewinn? Die Chaostheorie hatte ihre Blütezeit in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Man versprach sich sehr viel von ihr. Konnte sie doch etliche komplizierte Ereignisse oder Sachverhalte mit sehr einfachen Formeln erklären. Sie berücksichtigte jedoch nicht viele weitere Einflußfaktoren der Wirklichkeit, die mehr oder weniger zufällig wirksam werden. Damit hielt sie nicht den Erwartungen stand, die auf sie gerichtet waren. Aufgrund der großen Ähnlichkeit könnte es dem Synergiekonzept, das auf einem noch viel höheren Abstraktionsniveau angesiedelt ist als die Chaostheorie, ähnlich ergehen.

Die Anwendung der bildgebenden Verfahren auf die Psychotherapie bleibt m.E. der Forschung vorbehalten, da praktizierende Therapeuten wenig geneigt sein werden, sie ihren Patienten zuzumuten.

Des weiteren sei bemerkt, daß die Abbildung der psychischen Prozesse im Gehirn sehr grob ist. Es wurden sehr viele psychische Prozesse untersucht, wobei die meisten sich vielfältig überlappten. Es ist kaum anzunehmen, daß in absehbarer Zeit ein Rückschluß von bildgebenden Verfahren auf spezielle psychotherapeutische Vorgänge möglich ist.

Der Hinweis auf erkennbare Ordnungsübergänge durch geringere Komplexität mag für den Forscher ganz interessant sein, der vor Ort arbeitende Therapeut erkennt die Auflösung eines Syndroms aber auch ohne bildgebende Verfahren.

Klaus Grawe schreibt in seinem Geleitwort „Dieses Buch ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem neuen Verhältnis zwischen Neurobiologie und Psychotherapie“. Statt von einem Meilenstein sollte bescheidener von ersten vielversprechenden Schritten die Rede sein.

Prof. Dr. Fritz Mewe (Nov. 2004)

 

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