FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 


Annegret Eckardt-Henn und Sven Olaf Hoffman (Hg.)

Dissoziative Bewußtseinsstörungen

Theorie, Symptomatik, Therapie

Schattauer 2004 (480 Seiten, 69 Euro)

„Das Hauptmerkmal der Dissoziativen Störungen ist eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewußtseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt. Die Störung kann plötzlich oder allmählich auftreten und sowohl vorübergehend wie chronisch verlaufen. ....
     Dissoziative Symptome kommen auch in den Kriterien für die Akute Belastungsstörung, die Posttraumatische Belastungsstörung und die Somatoforme Störung vor. Die zusätzliche Diagnose einer Dissoziativen Störung wird jedoch nicht vergeben, wenn die dissoziativen Symptome ausschließlich im Verlauf dieser Störungen vorkommen. In einigen Klassifikationen wird die Konversionsreaktion als dissoziatives Phänomen betrachtet. Im DSM-IV befindet sich die Konversionsstörung im Kapitel der Somatoformen Störungen, um zu betonen. daß auch neurologische oder andere medizinische Krankheitsfaktoren bei der Differentialdiagnose in Erwägung zu ziehen sind.
     Bei der Beurteilung einer Dissoziativen Störung sind insbesondere auch transkulturelle Aspekte wichtig, da dissoziative Zustände in vielen Gesellschaften ein häufiger und akzeptierter Ausdruck kultureller Aktivitäten oder religiöser Erfahrungen sind. Dissoziation sollte nicht unbedingt immer als pathologisch beurteilt werden und führt häufig auch nicht zu bedeutsamem Leiden, zu Beeinträchtigungen oder zum Wunsch nach Hilfe. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch einige kulturell festgelegte Syndrome, die durch Dissoziation charakterisiert sind, die Leiden und Beeinträchtigungen verursachen und als pathologische Ausprägungen anerkannt werden.“ (DSM IV, Vbm. zu ’Dissoziative Störungen’)

Über diese Dissoziativen Störungen haben Annegret Eckhardt-Henn (Oberärztin und Psychotherapeutin in der Psychosomatischen Universitätsklinik Mainz) und Sven Olaf Hoffmann (Psychologe, Psychiater und Psychoanalytiker in derselben Klinik) ein umfangreiches Werk herausgegeben, dessen Motive und Programm im Vorwort  skizziert werden:

„Der Begriff der Dissoziation und das Konzept der Dissoziativen Bewusstseinsstörungen werden derzeit inflationär und vor allem widersprüchlich verwendet. Das ist ein Schicksal, das die Dissoziation mit dem Trauma-Konzept teilt, zu dem auch eine besondere Beziehung besteht. Dass die Einführung der Dissoziation in das Verständnis der Folgen anhaltender Traumata (besonders in der Entwicklung) das Verständnis dieser Störungsbilder verbessert, mag man als Fortschritt würdigen. Der Rückschritt liegt dicht daneben: Die Vorstellung, dass solche Störungen therapeutisch reprozessiert werden können, verführt in ihrer Schlichtheit nicht selten zu problematischem Handeln und damit -günstigenfalls - zu einem erneuten Missverständnis des Patienten. .... Viele Anteile der Dissoziationstheorie werden auch falsch rezipiert und interpretiert. Flashbacks sind sicher keine »photographischen Erinnerungen« -das widerspräche allen Kenntnissen, die wir heute von der Organisation des Gedächtnisses als sich ständig neu konstituierende Erregungsmuster in der Struktur des neuronalen Netz- werkes haben. ....
     So ergibt sich ein erstes Anliegen dieses Bandes gleichsam von allein: Intendiert ist eine valide Übersicht zum gegenwärtigen Stand von Theorie, Klinik und Therapie der Dissoziativen Bewusstseinsstörungen. Bei uneinheitlichen Ansätzen im Verständnis und im Umgang mit diesen Störungsbildern sind kontrastierende Perspektiven die Folge. Für die Herausgeber bedeutet das, dass sie bemüht waren, diese Unterschiede in der Betrachtung zuzulassen, was natürlich einschließt, dass sie kaum alle hier niedergelegten Ansichten teilen können. Ein Buch mit 27 Autoren muss notwendigerweise in seinen Darstellungen und Auffassungen variieren.
     Integrative Verständnisansätze, die zum Teil in neuen Modellen (Kap. 8) entwickelt werden, sind ein weiteres Anliegen der Herausgeber. Mit Integration ist hier allerdings keine weitere Vermischung von Differentem, sondern eine Analyse der Grundinhalte und Vorschläge für deren widerspruchsfreiere Verwendung gemeint.“

Die Gründlichkeit, mit der ihr Anliegen umgesetzt wurde, spiegelt sich im Inhaltsverzeichnis wider. Hier nur die Hauptüberschriften:
A. Begriffsgeschichte
1. Die Dissoziation: eine Standortbestimmung
2. Dissoziation und Gedächtnis als Ergebnisse neurobiologisch beschreibbarer Prozesse
3. Neurobiologie von Hypnose, Dissoziation und Konversion
4. Erinnern, Vergessen und Dissoziation neuro- und kognitionspsychologische Perspektiven
5. Dissoziation, Traum, Reassoziation
6. Dissoziative Mechanismen und Persönlichkeitsentwicklung
7. Somatoforme Dissoziation
8. Konversion, Dissoziation und Somatisierung:
   historische Aspekte und Entwurf eines integrativen Modells

B. Klinische Perspektive
9. Die Dissoziative Amnesie
10. Die Dissoziative Fugue
11. Der Dissoziative Stupor
12. Besessenheits- und Trancezustände
13. Dissoziative Anfälle
14. Das Ganser-Syndrom
15. Die Dissoziative Identitätsstörung
16. Depersonalisation und Drealisation
17. Dissoziative Bewußtseinsstörungen im Kindes- und Jugendalter

C. Dissoziative Störungen als spezifische Folge schwerer Traumatisierung
18. Die Trauma-Pathogenese dissoziativer Bewußtseinsstörungen: empirische Befunde
19. Dissoziation als spezifische Abwehrfunktion schwerer traumatischer Erlebnisse
     - eine psychoanalytische Perspektive
20. Dissoziation und Posttraumatische Belastungsstörung

D. Diagnostik und Differenzialdiagnostik
21. Problem der aktuellen Klassifikation dissoziativer Störungen
22. Psychometrische Diagnostik dissoziativer Symptome und Störungen
23. Das Strukturierte Klinische Interview für Dissoziative Störungen (SKID-D)

24. Zur differenzialdiagnostischen und therapeutischen Bedeutung diskursiver Stile bei
     dissoziativen versus epileptischen Patienten- ein klinisch-linguistischer Ansatz
25. Dissoziative Identitätsstörung - nosologische Entität oder Variante der
     Borderline-Störung?

E. Therapeutische Ansätze
26. Phasenorientierte Behandlung komplexer dissoziativer Störungen:
     Die Bewältigung traumabezogener Phobien
27. Der psychodynamische Ansatz zur Behandlung komplexer dissoziativer Störungen
28. Konzepte der kognitiven Verhaltenstherapie bei Dissoziation und dissoziativen
     Störungen
29. EMDR - ein Verfahren zur Behandlung dissoziativer Störungen in der Folge schwerer
     Traumatisierungen
30. Die psychopharmakologische Therapie dissoziativer Bewußtseinsstörungen
31. Aktuelle Kontroversen: die False-Memory-Debatte

Als Autoren haben die Herausgeber 25 einschlägige Experten hinzugewonnen:

Dr. med. Romuald Brunner
Psychiatrische Universitätsklinik, Heidelberg, Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie

Dr. med. Dipl.-Psych. Gerhard Dammann
Psychiatrische Universitätsklinik Basel, Psychotherapeutische Abteilung

Dr. med. Birger Dulz
Klinikum Nord/Ochsenzoll, Hamburg, Abt. Psychiatrie und Psychotherapie

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Peter Fiedler
Universität Heidelberg, Psychologisches Institut

Priv.-Doz. Dr. med. Ursu!a Gast
Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin , Bielefeld

Professor Dr. phil. Onno van der Hart
Department of Clinical Psychology, University Utrecht

Dr. med. Arne Hofmann
EMDR-Institut Deutschland Bergisch-Gladbach

Professor Dr. med. Fritz Hohagen
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Dr. med. Kai G. Kahl
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Professor Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych. Hans-Peter Kapfhammer
Universitätsklinik für Psychiatrie, Graz

Prof. Dr. med. Friedhelm Lamprecht
Medizinische Hochschule Hannover, Abt. Psychosomatik und Psychotherapie

Dr. med. Wolfgang Leuschner
Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt a.M.

Ellert R.S. Nijenhuis. Ph.D.
Assen, Netherlands

Prof. Dr. med. Franz Resch
Universität Heidelberg, Psychiatrische Klinik, Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie

Dipl.-Psych. Frauke Rodewald
Göttingen, Mitteldorfstrasse 12

Dr. phil. Dipl.-Psych. Valerija Sipos
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Dr. med. Carsten Spitzer
Universität Greifswald, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Prof. Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych. Manfred Spitzer
Universitätsklinikum Ulm, Abteilung Psychiatrie III 89075 Ulm

Kathy Steele, M.N., C.S.
Metropolitain Psychotherapy Associates, Atlanta, USA

Um erst einmal Klarheit über den sehr schillernden Begriff der Dissoziation zu schaffen, werden 130 Seiten für dessen Geschichte und seine Verbindungen zu zahlreichen Nachbarbegriffen investiert. Diese Analyse mündet in einem ’übergeordneten Modell’, das u.a. die konkurrierenden Ansätze vom Pierre Janet und Sigmund Freud zusammenführt . Sie endet mit folgender Bilanz:
„Die ’Bündelung’ einer Reihe von Störungen als ’Trauma Related Disorders’ ist sinnvoll und berechtigt, zugleich gilt aber, dass einzelne von ihnen - wie vor allem die Somatisierungs- Störung - regelhaft auch traumaunabhängig vorkommen können. Und auch für alle dissoziativen Störungen gilt, dass die leichteren Formen - z. B. die Dissoziativen Amnesien -traumaunabhängig vorkommen können und in der Mehrzahl der Fälle wohl auch so vorkommen. Die chronische Posttraumatische Belastungsstörung schließlich ist per definitionem natürlich traumabedingt, und hier weisen definitionsgemäß alle Fälle dissoziative Phänomene auf. Kommen Trauma-Ätiologie und dissoziative Symptomatik in dieser Form zusammen, so handelt es sich ausnahmslos um schwere psychische Störungen.“ (S. 128)

Im folgenden Teil werden die verschiedenen Dissoziativen Störungen abgehandelt. Für uns ist das Kapitel über die dissoziativen Bewußtseinsstörungen im Kindes- und Jugendalter von Brunner und Resch interessant und dort besonders folgende Passage:
„Sexuelle Traumatisierungen und emotionale elterliche Vernachlässigungen stellen mehreren Studien zufolge (Brunner et al. 2000; Chu u. Dill 1990; Sanders u. Giolas 1991) die bedeutsamsten Prädiktoren für die Ausbildung eines pathologischen Ausmaßes an dissoziativen Erlebnissen bei jugendlichen Patienten dar; jedoch wurde die Bedeutung umschriebener oder chronischer sexueller Traumatisierungen überschätzt (Merckelbach u. Muris 2001). Durch jüngere Untersuchungen (Brunner et al. 2000; Irwin 1999), die das weite Spektrum potenziell traumatogener Faktoren wie zum Beispiel emotionale Vernachlässigung und andere Life-Events mit einschlossen, konnte das Ausmaß an dissoziativem Erleben nicht eindeutig auf den Schweregrad der traumatischen Erfahrungen bezogen werden. Insbesondere schien die emotionale Vernachlässigung in der Kombination mit sexuellen Missbraucherfahrungen einen wichtigen Prädiktor darzustellen. Neuere Studien (u. a. Simeon et al. 2001) bestätigten Untersuchungen der eigenen Arbeitsgruppe (Brunner et al. 2000; Prohl et al. 2001) dahingehend, dass insbesondere der Risikofaktor der emotionalen Vernachlässigung sowie das Ausmaß des psychischen Beschwerdedruckes aufgrund einer psychischen Erkrankung für die Entwicklung einer dissoziativen Symptomatologie pathogenetisch bedeutsam erscheint. Um die ätiopathogenetischen Mechanismen dissoziativer Störungen weiter aufzuklären, scheint es notwendig, jenseits von Trauma-Variablen andere potenzielle Mediatoren, wie insbesondere neuropsychologische Faktoren und die der Stressreaktivität und Affektregulation und deren neurobiologischen Grundlagen, einzubeziehen (Resch et al. 1998).“ (S. 258)

Auch die Beziehung zwischen Dissoziation und Bindungsstörungen unter Berücksichtigung der neuropsychologischen Traumaforschung verdient es, zitiert zu werden.
„Bowlby (1984) beschrieb, wie missbrauchte Kinder gegenüber den missbrauchenden Eltern durch eine Überwachheit und Überaufmerksamkeit reagieren, wie sie ihre Affekte gewissermaßen ’einfrieren’ (frozen watchfulness), um ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Umgebung, d. h. potenzielle neue Übergriffe richten zu können.
    
Schore (2000; 2001) spricht in Bezug auf den Zusammenhang von Dissoziation, Trauma und Bindungsstörungen von einem ’Beziehungs- oder Bindungstrauma’ (attachment-, relational trauma) und unterscheidet zwei Typen von Beziehungstraumatisierungen:

  • Misshandlung/Missbrauch (abuse), die/der zu Überstimulation und zu Hyperarousal führt, was auch bereits von Shengold (1989) eindrücklich beschrieben wurde;
  • Vernachlässigung (neglect), die zu einer Unterstimulation und in der Folge zu Überstimulation und zur Down-Regulation führen kann.

Die Dissoziation kann als eine Art Notfallreaktion, die zu einem Rückzug von der Außenwelt, also von äußeren bedrohlichen Reizen, aber auch von der Innenwelt, also inneren bedrohlichen Reizen und überflutenden Affekten führt, verstanden werden (vgl. auch Sachsse 2003). Schore verbindet diese Ansätze mit neueren neurobiologischen Ergebnissen der Trauma-Forschung und zeigt auf, dass sich traumatisierende Bindungserfahrungen, wenn sie in einer bestimmten vulnerablen Lebensphase auftreten, schädigend auf die Organisation der rechten Hirnhemisphäre auswirken. Eine bleibende Vulnerabilität und Dysfunktion in Stress-Situationen ist die Folge und bedingt eine Prädisposition für die spätere Entwicklung Posttraumatischer Störungen.
Schore versteht Bindung als eine Regulation interaktioneller Synchronizität, als einen regu- latorischen Prozess der Affekt-Synchronizität, der einen Zustand eines positiven Arousals schafft und damit eine innerpsychische Basis für die Fähigkeit, negative Affektzustände zu modulieren. Damit bietet eine sichere Bindungserfahrung und Bindungsfähigkeit das Fundament für die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stresserfahrungen und Belastungssituationen.“ (S. 285)

Unter psychoanalytischer Perspektive verdeutlicht Eckhard-Henn die einerseits schützende und andererseits gefährdende Funktion der Dissoziation:
„Die Dissoziation stellt eine Möglichkeit dar, die lebensnotwendige Bindung und Liebe zu den missbrauchenden Eltern zu erhalten (vgl. Spiegel 1986). Es gibt zwei oder mehrere Wirklichkeiten, und die enormen inneren Affekte, die zu bedrohlichen intrapsychischen Konflikten führen, können mit dem Abwehrmodus der Dissoziation in Schach gehalten werden - vorübergehend. Später kann das Kind bzw. der Erwachsene den dissoziativen Mechanismus einsetzen, um auch anderen ängstigenden, konflikthaften realen Lebenssituationen zu begegnen bzw. zu entkommen. Ein Vorgang, der in einem Lebensabschnitt einen Bewältigungsversuch traumatischer Belastung darstellt, fuhrt - repetitiv eingesetzt - in späteren Lebenssituationen zu einer klinischen Symptomatik, d. h. zu einer Verschlechterung der Anpassung (vgl. auch Eckhardt u. Hoffmann 1993). Die Dissoziation kann als eine im Ansatz sinnvolle Überlebensstrategie, als eine entgleiste Abwehrfunktion des Ich verstanden werden. Sie ermöglicht einerseits, dass das übrige Selbst weiter funktioniert und nicht durch die unerträglichen Affekte, die mit der Erinnerung an die traumatischen Ereignisse verbunden sind, bedroht ist; andererseits kommt es aber zu einer kontinuierlichen, fortschreitenden Schwächung der Identität. Ein Gefühl für ein kohärentes Selbst, eine kohärente Identität kann sich nicht entwickeln, weil wesentliche autobiografische Faktoren nicht zugänglich sind und weil es durch die dissoziativen Zustände immer wieder zu einem Bruch des Identitätsgefühls kommt.“ (S. 287)

Seit den 90er Jahren erleben wir eine Debatte zwischen denen, die Partei für diejenigen ergreifen, die Anklagen erheben, weil sie sich an sexuellen Mißbrauch in ihrer Kindheit erinnern und denen, die solche Erinnerungen als unglaubwürdig zurückweisen. Dieser überwiegend ideologisch und zum Teil sehr aggressiv geführten Kontroverse setzen die Herausgeber in ihrem letzten Kapitel wissenschaftliche Aufklärung entgegen.
„Aufgrund der gegenwärtigen klinischen und empirischen Forschung lässt sich Folgendes bezüglich der Frage so genannter ’wieder aufgetauchter’ Erinnerungen an sexuelle oder andere körperliche Misshandlungen abschließend sagen:

  • Erinnerungen an sexuelle oder andere Misshandlungen in der Kindheit können vorübergehend durch Prozesse des ’normalen’ Vergessens und durch psychodynamische Abwehrprozesse (Dissoziative Amnesie,Verdrängung) dem Bewusstsein nicht zugänglich sein und dann - meist aufgrund spezifischer Triggersituationen/Auslösereize - wieder auftauchen.
  • Ebenso können ’falsche’ Erinnerungen durch suggestive Maßnahmen in einem Menschen hervorgerufen werden. Dafür sprechen u. a. Berichte von Betroffenen, die später ihre Erinnerungen als ’falsch’ zu- rückgezogen haben.
  • Es bleibt dennoch fraglich, ob Erinnerungen an schwere traumatische Erlebnisse suggeriert werden können. Erlebnisse schwerer sexueller oder anderer körperlicher Misshandlungen lassen sich nicht in einem Laborexperiment nachvollziehen. Es gibt berechtigte Zweifel daran, dass die Ergebnisse der Erinnerungsforschung beweisen, dass wieder auftauchende Erinnerungen prinzipiell falsch sind.
  • Explizite und autobiografische Erinnerungen unterliegen konstruktiven Prozessen und können nicht als historische Wahrheiten angesehen werden.
  • Implizite Erinnerungen sind weniger ’löschungsgefährdet’ und gehen auch auf frühere Lebensphasen zurück. Aber aufgrund impliziter Erinnerungen lässt sich nicht automatisch auf ein stattgefundenes Trauma schließen.
  • Erinnerungen an emotional hoch erregende traumatische Erlebnisse sind in der Regel genaue Erinnerungen, wobei zentrale bedrohliche Ereignisse exakter erinnert werden als periphere Details und Details von einzelnen Ereignissen genauer erinnert werden als von wiederholten Ereignissen.
  • Patienten, die schwere posttraumatische psychische Störungen erlitten haben und an Ich-strukturellen Störungen leiden, sind empfindlicher für Suggestionen als andere.
  • Patienten, die sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, sind aufgrund der vorübergehenden Abhängigkeitsbeziehung und der Übertragungsprozesse empfänglicher für Suggestion durch ihre Therapeuten. Suggestive Techniken sollten daher mit Zurückhaltung angewendet werden.
  • Die Behandlung schwer traumatisierter Patienten mit dissoziativen Bewusstseinsstörungen sollte klinisch und vor allem psychiatrisch erfahrenen Therapeuten vorbehalten werden. Die Kenntnis von und der Umgang mit Übertragungs- und Gegen-Übertragungsmechanismen sollte unbedingt vorhanden sein und durch kontinuierliche Inter- und Supervision begleitet werden.
  • Ob das durch suggestive Techniken induzierte Wiedererinnern und die kathartische Abfuhr im Rahmen solcher ’Trauma-Sitzungen’ adäquate Behandlungsformen für traumatisierte Patienten darstellen, ist gegenwärtig nicht gesichert.
  • Die Auseinandersetzung um die False-Memory-Debatte verdeckt in keiner Weise die Tatsache, dass Kindesmissbrauch sowohl in Amerika als auch in Europa ein leider verbreitetes und sehr komplexes Problem darstellt.“ (S. 465/466)

Der hier vorgestellte Band kann wegen der noch längst nicht abgeschlossenen Fachdiskussion keine einheitlichen Antworten auf die phänomenalen, kausalen und aktionalen Fragen zu den Dissoziativen Störungen bieten, aber einen sehr gründlichen und lehrreichen Überblick über die vielfältigen Facetten einer Problematik, die in einer Welt, die uns immer mehr zum Abschalten nötigt, an Bedeutung ständig zunimmt. Wenn wir die Ursachen und Folgen der Dissoziation nicht verstehen, wird es uns kaum gelingen, einander zu verstehen. 

Kurt Eberhard (August, 2004)

 

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