FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 


Gerd Rudolf

Strukturbezogene Psychotherapie

Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen

(bei Schattauer, 2004, 219 Seiten, 29,95 Euro)


Manfred Cierpka, der mit Gerd Rudolf im Arbeitskreis ’Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)’ zusammenarbeitet, schreibt in seinem Geleitwort:
„Gerd Rudolf ist für dieses Buch zu danken. Es schlägt die Brücke zwischen der Psychotherapieforschung, den Erkenntnissen aus der Entwicklungs- und Emotionspsychologie und den praktischen Notwendigkeiten in der Behandlung. Das Buch kommt einem Therapiemanual sehr nahe. Für den Forscher stellt es die Möglichkeit dar, Subpopulationen von Patienten mit schweren strukturellen Störungen vor dem Hintergrund einer überzeugenden Theorie und davon abgeleiteten Strukturdimensionen reliabel zu untersuchen und vergleichend mit nichtmodifizierten Behandlungsformen zu studieren. Dem Praktiker gibt es einen Leitfaden an die Hand, wie strukturelle Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung mit bestimmten psychotherapeutischen Methoden behandelt werden können.“

Die Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses geben Einblick in die logische Architektur des Buches:

  1. Einleitung: Strukturelle Störungen und strukturbezogene Psychotherapie
  2. Entwicklungspsychologie der Struktur
  3. Die Emotionen
  4. Strukturelle Störungen
  5. Schwierigkeiten der Behandlung struktureller Störungen im psychoanalytischen Rahmen
  6. Manual zur strukturbezogenen psychodynamischen Therapie:
    allgemeine Strategien und spezifische Interventionen
  7. Die strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung
  8. Struktur und strukturelle Störungen: gesellschaftliche Aspekte
  9. Literatur

In der folgenden Textprobe wird deutlich, wie breit das Fundament ist, auf dem Rudolf sein Konzept der Persönlichkeitsstörungen aufbaut: entwicklungspsychologische Kleinkindforschung, psychoanalytische Objektbeziehungstheorie, ethologische Bindungslehre werden schlüssig integriert. In späteren Kapiteln kommen emotionspsychologische, soziologische und philosophische Aspekte hinzu.
„Die triebpsychologisch ausgerichtete ältere Psychoanalyse betonte als das erste emotional wichtige Ziel des Säuglings (der als biologisch und psychisch hilflos verstanden wurde) die Mutterbrust und die dort erfahrene orale Sättigung. Aus heutiger Sicht, nach einigen Jahrzehnten intensiver Säuglingsforschung hat sich die Überzeugung gefestigt, dass das erste Interesse des als sehr aktiv verstandenen Babys dem Gesicht der Mutter gilt (beziehungsweise der wichtigsten Betreuungsperson) und den Möglichkeiten der Kommunikation über Mimik und Körper. Hier wächst ein System der körperlichen Nähe und wechselseitigen Bezogenheit, in welchem die Grundlagen positiver Emotionen gelegt werden: mit Anderen sein können und sich wohlfühlen dürfen unter ihrem Einfluss, eine basale Erfahrung von ’es gibt mich und es gibt die anderen und es gibt eine tragfähige Beziehung zwischen uns’.

Kind und Mutter bilden miteinander ein Ganzes, ein Beziehungssystem, in welchem der eine (das Baby) körperlich und präverbal Äußerungen von Lust-Unlustqualität tut, während der Andere (die Mutter) diese Signale auf ihre bedürfnishaften und emotionalen Qualitäten hin entschlüsselt, sie in Sprache fasst und nach ihren Möglichkeiten handelnd darauf eingeht. Auf diese Weise lernt das Kind nicht nur seine Mutter kennen, ihre Emotionen, ihre Sprache und ihr Handeln, sondern es lernt durch die permanente Widerspiegelung sich selbst kennen, seine eigene körperliche und emotionale Verfassung, die im Lauf der Entwicklung zu einem individuellen kohärenten Selbst heranwächst.

Bereits für die Schwangere bzw. die werdenden Eltern ist das Kind eingebettet in ihre Beziehungsphantasien, welche sie auf ihr Kind richten. So ist das Kind bei seiner Geburt für eine strukturell stabile und im Sinne der Bindungstheorie sicher gebundene Mutter bereits eine aus ihren Phantasien wohlbekannte und willkommene menschliche Persönlichkeit, während eine psychisch belastete, z.B. desorganisiert gebundene Mutter das Kind als etwas Fremdes, nicht zu Verstehendes, möglicherweise Bedrohliches erleben kann. Die Auswirkungen für die gemeinsam zu entwickelnde emotionale Beziehung und speziell Bindung liegen in beiden Fällen auf der Hand. Im einen Falle ergreift die Mutter die neue Aufgabe mit Stolz und Selbstbewusstsein, im anderen Falle ist sie ihrer Beunruhigung oder Verzweiflung ausgeliefert.

Die frühe Entwicklung des Beziehungssystems, welches in den ersten Lebensmonaten fundiert wird, geht nahtlos über in die Entwicklung des Bindungssystems. Die wichtigsten Bezugspersonen hinterlassen immer deutliche Erinnerungsspuren im Inneren des Babys, und diese verdichten sich zu einem wiedererkennbaren Bild jener Person, auf welche die Bedürfnisse des kommunikativen Austauschs, des Spiels, der Versorgung, der Sättigung, der Tröstung und Animierung bevorzugt gerichtet werden. Es entsteht das innere Bild eines "guten Objekts", d.h. einer durch und durch erfreulichen, wünschenswerten, interessanten Person, welche die Macht hat, Gutes heranzutragen und Schlechtes wegzunehmen. In diesem Kontext werden bereits vielfältige Emotionen erkennbar: das freudige Interesse, welches sich auf diese Person richtet, der spielerische Spaß im kommunikativen Austausch mit ihr, das Wohlbefinden in ihrer körperliche Nähe, die Annehmlichkeit der Sättigung und körperlichen Pflege und Versorgung, die wütende Erregung, wenn diese Person das erwartete Gute zu lange vorenthält, die schmerzliche Verzweiflung bei zu langer Abwesenheit der Bindungsperson, die Erleichterung des Getröstetwerdens bei ihrer Wiederkehr und durch ihre handelnde Antwort. Hier sind bereits die meisten zwischenmenschlichen Emotionen angelegt, und es beginnt ihre hochgradig individuelle Ausgestaltung unter dem Einfluss der jeweiligen persönlichen Erfahrung. Hier hinterlassen die freudigen Erlebnisse der Bezugsaufnahme und des gelungenen Umgangs ebenso ihre Spuren wie die erlittene Unlust und die schmerzlichen Erregungen. Eine mittelgroße Belastung mobilisiert die Fähigkeit zu suchen, zu probieren, zu lernen, die Situation zu verändern. Wenn dagegen die Belastungen über ein erträgliches Maß hinausgehen, wenn Daueranspannung und persistierende Erregung vorherrschen, wird das Kind nicht mehr zum Lernen angeregt, sondern es kann die Situation nur noch notfallmäßig bewältigen, z.B. durch emotionales Abschalten.“ (S. 10/11)

Der Autor sorgt immer wieder mit Tabellen und Graphiken für lehrbuchartige Übersichtlichkeit. Die pathogenen Bedingungen struktureller Störungen werden wie folgt zusammengefaßt:

  • Ererbte Anlagen und angeborene Werkzeugstörungen (z.B. motorische Impulsivität, sensorische Über-/Unterempfindlichkeit, spezifische Wahrnehmungsstörungen und Leistungsschwächen)
  • Belastungen / Traumatisierung durch emotional überfordernde Ereignisse (z.B. schutzloses Ausgeliefertsein an körperliches Unbehagen / Schmerz durch aggressive / sexuelle Handlungen anderer; emotionale und körperliche Vernachlässigung; Ausgeliefertsein an heftige Affekte der Angst und Verzweiflung)
  • Defizitäre soziale Lernerfahrungen in destabilisierten und unstrukturierten Familien (z.B. bezüglich des Herstellens und Regelns von Nähe, der Entscheidung über Aktivität / Passivität, bezüglich Mitteilung und Verständigung oder Konfliktlösung)
  • Fehlende Befriedigung von basalen Beziehungsbedürfnissen (Möglichkeiten zur Beruhigung, Tröstung, Erfahrung von Sicherheit, Bestätigung, Anleitung, Miteinander, Austausch, Zärtlichkeit)
  • Fehlende Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen (körperlich versorgt werden, gesättigt werden, gepflegt werden, in Ruhe gelassen werden) (S. 21)

Desgleichen werden die Ergebnisse der neuropsychologischen Traumaforschung - wenn auch leider zu kurz - hineingenommen:
„Eine spezielle Sichtweise der kindlichen Entwicklungsstörung resultiert aus der psychosomatischen Perspektive. Sie wurde durch die sich rasch vermehrenden Befunde der neurobiologischen Forschung möglich und bezieht sich bevorzugt auf das Stress-Paradigma. Während die leichten bis mittleren Belastungen des Kindes geeignet sind, Vorgänge des Lernens, der Adaptation und der Stressbewältigung in Gang zu setzen, überfordern sehr starke oder traumatisierende Belastungen das Stressverarbeitungssystem und führen letztlich zu seiner irreversiblen Schädigung. Diese erfolgt auf dem Wege über die Dauerstimulierung der sympathikonen Erregung und der Kortisolausschüttung, welche zumindest bei traumatischen Erfahrungen zur Schädigung des Hippokampus und damit, bei unterbrochener Rückkopplung, zur anhaltenden Stimulierung der Amygdala führt. Es entstehen kreisende emotionale Erregungszustände, abgekoppelt von reflexiven und steuernden Einflüssen der kortikalen Zentren, so dass sie Gefahr laufen, schließlich in einen Bumed-out-Zustand einzumünden.“ (S. 21/22)

Besonders spannend ist die Dialektik aus klarer Identifikation mit der Psychoanalyse und scharfer Kritik an ihren dogmatischen Verkrustungen:
„Jemand, der innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft kritische Fragen aufwirft, wird daher nur zu leicht als nicht mehr zum inneren Kreis gehörig eingeschätzt und den äußeren Verfolgern zugerechnet. Natürlich teilen nicht alle Psychoanalytiker diese fundamentalistische Haltung, aber diejenigen, die sie vertreten, sind dennoch öffentlichkeitswirksam genug, um auf die Übrigen Druck auszuüben und jenen, die nicht strikt konservativ-psychoanalytisch sind, zuzurufen: "Ist das noch Psychoanalyse?" So geht die Verweigerung kritischer Selbstreflexion einher mit einer Selbstidealisierung des eigenen Tuns. Die Selbstidealisierung des Rechthabens und auf der richtigen Seite-stehens verleugnet die Position des Getrenntseins des Einzelnen, der die Welt stets nur aus seiner Perspektive wahrnehmen kann, der einseitig, einsam und irrtumsanfällig ist.

In diesem Zusammenhang scheint es auch wichtig, sich über die Rolle des Patienten Gedanken zu machen. Er darf an der Bedeutsamkeit des Psychoanalytikers qua Dyade partizipieren, ohne allerdings jemals wirklich in die Geheimnisse eingeweiht zu werden. So bleibt der Patient ein Laie unter Priestern, jemand, auf dessen Meinung und Überzeugung es letztlich nicht ankommt. Das erklärt z.B. den Widerspruch, den Forschergruppen hervorrufen, welche Patienten in Interviews nach ihren Meinungen und Erklärungen befragt haben. Im äußersten Falle muss man manchen traditionellen Gruppierungen der Psychoanalyse eine theokratische Grundorientierung zuschreiben, welche sehr weit entfernt ist von den Idealen der Aufklärung mit ihren gleichberechtigten Menschen und dem zentralen Appell: ’Wage es, selber zu denken’. Für die große Menge der praktizierenden Psychoanalytiker trifft das nicht zu, sie ist aber dennoch anfällig für Verlautbarungen aus einem ’heiligen Offizium’, welches über die psychoanalytische Wahrheit wacht. ....

So zeichnet sich im psychodynamischen Bereich eine Entwicklung in Richtung auf ein sehr breites Spektrum von therapeutischen Konzepten und Praktiken ab; es reicht von kleinen konservativen psychoanalytischen Gruppierungen (die sprachmächtig ihr Verfahren gegen wirkliche und vermutete Angriffe verteidigen) über die große Gruppe der pragmatischen Psychoanalytiker, (die an ihren Patienten und deren wirksamer Behandlung interessiert sind) über die Gruppe der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten (die durch eine große Heterogenität ihrer psychodynamischen und humanistischen Vorerfahrungen gekennzeichnet ist) zu den psychosomatischen Psychotherapeuten (die ihre therapeutischen Erfahrungen im klinisch-stationären Bereich an schwer gestörten Patienten erworben haben). Auch in der Gruppe der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten spiegelt sich dieses Spektrum wider.

Künftighin werden die gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen und speziell ökonomischen Bedingungen alle diese Gruppen zwingen, sich stärker als bisher zu verständigen und sich gemeinsam um konzeptuelle Klärung und wissenschaftliche Fundierung und um Wege der Qualitätssicherung zu bemühen. Darin liegt die Chance der kreativen Weiterentwicklung in einem bereits differenziert ausgestalteten und gesellschaftlich zur Zeit noch gut verankerten Therapiesystem.“ (S. 134/135).

Das zentrale Programm des Buches sind die Konsequenzen, die der Autor aus seiner psychoanalytischen Strukturtheorie für die differenzierte Diagnostik und darauf aufbauende Therapie zieht. Hier nur ein kurzer Katalog in diesem Rahmen gewonnener Interventionsformen:

  • Anregungen zu psychischen Produktionen des Patienten (narrative Mitteilungen über Situationen, Erfahrungen, Erinnerungen, Selbstwahrnehmungen, Träume etc.) möglichst in Worten, aber auch in anderen Medien (Gestaltungen, Zeichnungen, Aufzeichnungen)
  • Klärende Fragen zur Förderung und therapeutischen Zentrierung/Ordnung der Mitteilungen des Patienten; Notwendigkeit der Mitteilungen anstelle des ’ wortlosen Verstehens’ wird betont
  • Einladung zur Selbstreflexion: Wie sehen Sie es, was läuft in Ihnen ab, welche Gefühlsregungen bekommen Sie von sich mit?
  • Antwortende Mitteilungen des Therapeuten beziehen dessen eigenes emotionales Erleben ein. Sie können aus den unterschiedlichen therapeutischen Positionen heraus akzeptierend identifikatorisch, aber auch konfrontativ, die Alterität unterstreichend sein.
  • Spiegelnde Äußerungen: Zur Verfügungstellen der persönlichen Wahrnehmung des Therapeuten, welcher das bewusstseinsfähige Erleben und Verhalten des Patienten beschreibt und zusammenfasst; ggf. verknüpft mit antwortenden Aspekten des emotionalen Erlebens.
  • Strukturierende Interventionen: aktive Unterstützung des Patienten beim Planen, Vorsorgen, Begrenzen
  • Aufzeigende und hypothesengeleitete Interventionen: das spiegelnde Beschreiben von Wahrnehmungen des Therapeuten hat Übergänge zu Interventionen, in welchen der Therapeut auf Zusammenhänge, Parallelen, Widersprüche oder Lücken aufmerksam macht oder die Situation anhand von Fremdbeispielen durchspielt.
  • Interventionen des Therapeuten als Chronist für die Erfahrungen des Patienten: er sammelt Episoden der biographischen Erfahrung, der gemeinsamen Therapieerfahrung, Ereignisse, Affekte, Träume, Wendepunkte als ’guter Zuhörer’, der Erinnerungen aufbewahrt und sie dem Anderen zur Verfügung stellt.“ (S. 151)

Da sich die psychodynamischen Deutungen und erst recht die Dominanz des Übertragungskonzepts in der Therapie strukturgeschädigter Patienten nicht bewährt haben, treten andere, reflektorische und persönlichkeitsstärkende Kommunikationsstile in den Vordergrund.
„In der psychoanalytischen Technik der Deutung weist der Therapeut den Patienten auf etwas hin, das dieser nicht sehen kann und will, während der Therapeut es in voller Klarheit erkennt und damit seine Überlegenheit dokumentiert. Dagegen beschränkt sich die vom Therapeuten gegebene spiegelnde Beschreibung nur auf eine persönliche Wahrnehmung (’Mir fällt bei Ihnen auf, dass Sie ...’), u.U. verknüpft mit einer persönlichen emotionalen Antwort (’Als ich das hörte, habe ich mich gewundert’). Er verbindet sie mit einer Aufforderung an den Patienten, seine eigene Wahrnehmung dazu beizusteuern (’Was ist Ihre Meinung dazu, welche Gefühle bekommen Sie von sich mit, was könnte dabei in Ihnen ablaufen?’). Er unterstellt damit die Existenz einer vom Patienten wenig beachteten inneren psychischen Realität und versucht ihn für eine selbstreflexive Aktivität zu gewinnen (’Ich sehe Sie so, wie sehen Sie sich selbst?’)     

Im Weiteren macht er das Angebot, dass sich Patient und Therapeut gemeinsam um dieses Thema bemühen könnten (’Vielleicht versuchen wir, gemeinsam zu klären, was hier bei Ihnen geschieht und wie Sie damit umgehen könnten’).

Damit wird eine Beziehung geschaffen, in der zwei Personen eine geteilte Intention entwickeln: Therapeut und Patient richten ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf ein Drittes. Dieses dritte, gemeinsam interessierende Thema ist z.B. die typische Reaktionsweise des Patienten, sein typisches emotionales Muster, sein dysfunktionales oder selbstschädigendes Verhalten. Während im Kleinianischen Therapieansatz der Analytiker sein Denken zur Verfügung stellt und den Patienten in der Deutung sprachliche Begriffe für seine Beziehungserfahrungen anbietet, stellt der strukturbezogene Psychotherapeut seine von emotionalem Interesse getragene Wahrnehmung zur Verfügung. Eine Kleinianische Deutung könnte z.B. lauten: ’Sie sind sehr hungrig, bedürftig und überzeugt, dass ich Ihnen alles geben könnte, was Sie brauchen, und Sie sind sehr enttäuscht, dass ich Ihnen nicht genügend anbiete; aus Ärger darüber würden Sie den Kontakt am liebsten abbrechen.’

Die strukturbezogene Intervention könnte lauten: ’Aus Ihrer Mitteilung könnte man entnehmen, dass ein Teil von Ihnen sich sehr angespannt und überfordert fühlt und sich selbst und die Situation nur schwer verstehen kann. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, was Ihnen helfen könnte, die Situation auszuhalten oder zu verändern.’ Der strukturbezogene Therapeut versucht nicht, das Thema in die Übertragung zu ziehen, um die Abhängigkeit des Patienten von der Therapie und vom Therapeuten zu unterstreichen, sondern er betont die gemeinsame Suche nach einer Lösung für schwer verbalisierbare und schwer verstehbare Zustände des Patienten, die ihn massiv belasten und zu dysfunktionalem und selbstschädigendem Handeln drängen. Dabei ist es klärend und entlastend, gemeinsam herauszuarbeiten, in welcher Entwicklungsphase ein Kind solche Hilflosigkeit erleben kann und welche Art der Unterstützung/Förderung/ Entlastung es gesunderweise in einer tragfähigen Beziehung hätte erfahren können.“ (S. 151/152)

Rudolf und der ganze OPD-Arbeitskreis vertreten eine betont qualitäts- und effizienzorientierte Position und bemühen sich deshalb sehr um Erfolgskontrolle mit folgendem Resultat:
„Daraus lässt sich schlussfolgern: In einer therapeutischen Institution (wie der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg), in der ein großer Anteil strukturell beeinträchtigter Patienten behandelt wird, führt die Tatsache, dass in der Eingangsdiagnostik strukturelle Themen sorgfältig beachtet und in der Therapie fokal bearbeitet werden, dazu, dass eine deutliche Besserung sowohl in den affektiven Strukturthemen als auch in der generellen Stabilisierung und Symptomentlastung dieser Patienten erzielt werden kann.

Nimmt man als Ergebniskriterium die Intensität der erzielten Umstrukturierung (auf der Heidelberger Umstrukturierungsskala) hinzu, so zeigt sich in der katamnestischen Nachuntersuchung eine bessere Bewältigung von neu auftauchenden Lebensproblemen bei jenen Patienten, die eine stärkere Umstrukturierung aufweisen (Grande et al. 2003).“ (S. 200/201)

Trotz aller Zentriertheit auf das leidende Individuum gerät das gesellschaftliche Umfeld nicht aus dem Blick. Das letzte Kapitel schließt an Mitscherlichs soziologische Psychoanalyse an und endet mit einer pessimistischen Diagnose und einer optimistischen Hoffnung:
„Eine zunehmend wenig strukturierte Gesellschaft stellt ihren Kindern unzureichende Sozialisierungsbedingungen zur Verfügung und die unter diesen Bedingungen ’mangelnder Anleitung in vielen Lebensbereichen’ (Mitscherlich) herangewachsenen strukturell beeinträchtigten Individuen formen eine Gesellschaft, die sich zunehmend zwischen Entleerung und Überstimulierung, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstmitleid, zwischen illusionistischen Fortschrittshoffnungen und Perspektivelosigkeit bewegt. Vielleicht lässt sich der Grundgedanke strukturbezogener Psychotherapie auch auf die strukturellen Funktionen des sozialen Ganzen anwenden.“ (S. 203)

Rudolfs Buch ist Seite für Seite hoch informativ und lehrreich, aber es hat drei ganz überflüssige Mängel: ihm fehlen ein Autorenregister, ein Sachwortverzeichnis und sogar die Vorstellung des Verfassers. Das ist schade, denn Gerd Rudolf ist auf der Bühne der deutschen Psychiatrie eine sehr beachtliche Erscheinung und wie nur wenige international anerkannt. Schon als junger Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in der Berliner Universitätsklinik hatte er in dem dort ziemlich psychoanalysefeindlichen Klima den Mut, eine psychoanalytische Ausbildung anzutreten und sich auch dort mit therapiebegleitenden Videofilmen unbeliebt zu machen, die damals noch als Beweis verhaltenstherapeutischer Unkultur galten. Sein Insistieren auf empirische Forschung und Therapieerfolgskontrolle paßte ebenfalls nicht zur hermeneutischen Renaissance der deutschen Psychoanalyse. Inzwischen ist er ein vielseitig theoretisch gebildeter Hochschullehrer und gleichzeitig ein in ambulanter und stationärer Praxis erfahrener Therapeut für Kinder, Jugendliche und Erwachsene im psychiatrischen und psychosomatischen Arbeitsfeld.  

Der Bilanz seines Kollegen Cierpka können wir uns voll anschließen:
„Es gibt also viele gute Gründe, um dem Buch eine weite Verbreitung  unter den Psychotherapeuten zu wünschen.“ ..... und darüber hinaus unter den Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Sozialpädagogen!

Kurt Eberhard (August, 2004)

 

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