FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Stefan Lautenbacher und
Siegfried Gauggel (Hrsg)

Neuropsychologie psychischer Störungen

Springer-Verlag, Heidelberg,
2004 (531 Seiten, 59,95 Euro)

 

Ursprünglich beschäftigte sich die Neuropsychologie ganz überwiegend mit den psychischen Folgen hirnorganischer Schäden (z.B. Folgen von Hirnverletzungen und Schlaganfällen). Es ging also um relativ eindeutige lineare Kausalitäten. Das hat sich gründlich geändert. Erstens werden durch die Einführung moderner Erfassungstechniken, insbesondere bildgebender Verfahren, die verschiedene Hirnregionen umgreifenden Netzwerke in den Blick genommen, und zweitens geht es um komplizierte Wechselwirkungen, in denen psychische Störungen nicht nur als Folgen somatischer Verletzungen, sondern umgekehrt auch als Ursachen hirnorganischer Schädigungen betrachtet werden.

In diesem Sinne mahnen die Herausgeber:
“Die Erkenntnis, dass psychische Störungen Struktur- und Funktionsstörungen des mensch- lichen Gehirns sind, sollte nicht den Blick dafür verschließen, dass hier eine andere Art von Neuropsychologie notwendig wird. Bei psychischen Störungen gibt es meist weder fokale Schädigungen noch monokausale Ätiologien. Das Gehirn ist in seinen Netzwerkeigenschaften verändert, seine funktionelle Konnektivität ist gestört, wobei meist multiple Risikofaktoren und Auslöser interagieren.“ (S. 2)

Zum Inhalt des Buches:
“Die Beiträge von Preilowski (»Entwicklung und Stand der Psychiatrie und der Neuropsychologie«) und Zihl und Münzel (»Der Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie«) liefern Bestandsaufnahmen zur Entwicklung der Neuropsychologie in der Psychiatrie und zu ihren unterschätzten Möglichkeiten. Bartl und Dörner (»Der kognitive Kern in der Neuropsychologie«) versuchen zu erklären, dass die Neuropsychologie nie nur einzelne kognitive Funktionen widerspiegelt, sondern immer auch der Motivation und den Emotionen offen steht, eine Einsicht, die bei der Analyse psychischer Erkrankungen besondere Relevanz besitzt. Der erste Beitrag von Gauggel (»Neuropsychologie der Motivation«) unterstreicht diese Perspektive mit der Akzentuierung motivationaler Prozesse als zentraler Größe in der Neuropsychologie. Braus, Demirakca und Tost (»Bildgebende Verfahren bei psychischen Störungen«) liefern mit den Resultaten der modernen Bildgebung nochmals den Nachweis, dass psychische Störungen Erkrankungen des Gehirnes sind und unterstreichen den Netzwerkcharakter der neuronalen Pathophysiologie. Die wichtige Rolle von neurochemischen Prozessen wird von Wagner und Born (»Psychoendokrine Aspekte neuropsychologischer Funktionen«) und die hohe Relevanz der modernen Genetik von Wagner (»Genetische Aspekte der Neuropsychologie psychischer Störungen«) vermittelt, wobei es jeweils Ziel ist, zu verdeutlichen, dass auf diesen Feldern besonders ätiologierelevantes Wissen zu erwarten ist.

Nach der Darstellung der historischen und theoretischen Momente der neuropsychologi- schen Perspektive auf die psychischen Störungen werden jetzt im Störungsteil des vorliegenden Buches die einzelnen psychischen Störungen mit ihren neuropsychologischen Auswirkungen und Ursachen dargestellt. Die Darstellung unterscheidet Störungen im Erwachsenenalter mit Beiträgen von Beblo (»Neuropsychologie affektiver Störungen«), Jahn (»Neuropsychologie der Demenz«), Lauer (»Neuropsychologie der Essstörungen« ), Lautenbacher und Kundermann (»Neuropsychologie der Angststörungen«}, Lautenbacher und Möser (»Neuropsychologie der Schizophrenie«), Leplow (»Neuropsychologie der Zwangsstörung«), Markowitsch und Fast (»Neuropsychologie des PTSD») und Rist (»Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit») von Störungen im Kindes- und Jugendalter mit Beiträgen von Konrad und Herpertz-Dahlmann (»Neuropsychologie von Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen; ADHS«), Remschmidt und Schulte-Körne (»Neuropsychologie von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen«) und Schulte-Körne und Remschmidt (»Neuropsychologie von umschriebenen Entwicklungsstörungen«).

Über die ersten Ansätze zum Verständnis der im Zuge von Psychotherapien möglichen und notwendigen, funktionalen Veränderungen des Gehirnes und deren neuropsychologische Relevanz berichtet Gauggel in seinem zweiten Beitrag (»Bildgebende Verfahren und deren Bedeutung für die Psychotherapie«). Diener und Olbrich (»Neuropsychologische Therapie psychischer Störungen«) widmen sich der Frage, inwieweit die aus der neurologischen Rehabilitation bekannten Funktionstrainings bei Patienten mit psychischen Störungen -gegebenenfalls mit entsprechenden Modifikationen - erfolgsversprechend anzuwenden sind. Sind die neuropsychologischen Wirkungen von Psychotherapien noch weitgehend unbekannt, ist die Neuropsychologie in Form der »Neurokognition« schon lange zentrales Thema bei der psychopharmakologischen Behandlung psychischer Störungen. Krieger, Lis und Meyer-Lindenberg (»Neuropsychologische Wirkungen und Nebenwirkungen von Psychopharmaka«) zeigen auf, welche neuropsychologischen Wirkungen Psychopharmaka haben und wie dieser Nachweis schlüssig zu erbringen ist. Gauggel und Lautenbacher (»Ausblick: Die Neurowissenschaften als integrative Kraft für die klinische Psychologie, Psychiatrie und Neurologie«) versuchen sich zur Abrundung des Buches an einem Entwurf, der den Neurowissenschaften und hier speziell der Neuropsychologie eine zentrale Rolle bei der Integration von Psychiatrie, Neurologie und klinischer Psychologie zuweist, die den intradisziplinären Isolationismus überwinden helfen könnte.” (S. 3-5)

In ihrer Zusammenfassung des letzten Kapitels demonstrieren die Herausgeber abermals eine wohltuende Bescheidenheit und eine entschieden antireduktionistische Grundposition:
“Es sollte aber auch deutlich geworden sein, dass noch ein sehr weiter Weg vor uns liegt, bis das eigene Denken und dessen neuronale Implementierung, aber auch seine Pathologie auch nur annähernd verstanden wird. Der Forschungsgegenstand ist zugegebenermaßen äußerst komplex und beinhaltet ganz unterschiedliche Betrachtungs- und Analyseebenen. Er beinhaltet auch grundsätzliche philosophische Fragen, wie z. B. die nach der Entstehung von Bewusstsein aus der Aktivität einfacher Neuronen (Erklärungslückenproblem; Pauen 2001).
Warnen möchten die Autoren nachdrücklich vor einer Sichtweise, bei der nur noch die biologische Betrachtungsebene gesehen wird. Kandel (1998, 1999) und andere Forscher leiten zwar mit Recht unter Berufung auf die Neurowissenschaften die Bildung eines neuen Fundamentes und einer neuen Identität für die Psychiatrie und klinische Psychologie ab, übersehen und vergessen aber in ihrem Enthusiasmus die psychosozialen Seiten der Medaille.“ (S. 502)

Eine derart geläuterte Neuropsychologie hat für uns Praktiker und Wissenschaftler des Pflegekinderwesens den Vorteil, daß wir die uns anvertrauten Kinder in ihren schweren seelischen und hirnorganischen Verwundungen gründlicher verstehen und doch ergänzend unsere psychosoziale Betrachtungsweise sowie unsere therapeutische Zuversicht beibehalten können. Darüber hinaus sind die neuropsychologischen Erkenntnisse eine wirksame Waffe gegen Personen und Institutionen, die aus ideologischen oder ökonomischen Motiven die Traumatisierungen der vernachlässigten, mißhandelten und mißbrauchten Kinder bagatellisieren wollen.

Kurt Eberhard (November 2003)

 

 

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