FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

Hans-Joachim Markowitsch

Dem Gedächtnis auf der Spur –
vom Erinnern und Vergessen

Primus-Verlag, Darmstadt 2002
(200 Seiten, 22,90 Euro)

Prof. Dr. Markowitsch ist Neurowissenschaftler mit einem Lehrstuhl für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Er gilt als prominentester Gedächtnisforscher Deutschlands.

Im Vorwort formuliert er folgende Aufgabenstellung:
“Dieses Buch soll ’Gedächtnis’ für den interessierten Laien aus neurowissenschaftlicher Sicht in all seinen Facetten darstellen. Ich werde relativ ausführlich auf historische Beispiele und auf Beispiele aus den Anfängen der Hirnforschung eingehen, weil hierin die Wurzeln für ein Verständnis unserer heutigen Wissenschaft vom Gedächtnis und seiner hirnanatomischen und hirnphysiologischen Grundlagen liegen. Eingewoben in diese Beschreibungen werden aber viele Bezüge zur Jetztzeit und viele Vergleichsbeispiele, die eine Brücke zu unseren heutigen Auffassungen von funktioneller Anatomie und Informationsverarbeitung bilden.
Gedächtnis wird als zeitbezogen und als unterteilbar in inhaltlich unterschiedliche Systeme dargestellt. Beispiele für Gedächtnisleistungen im Tierbereich werden denen von Menschen gegenübergestellt. Hieraus abgeleitet werden ’Bottom-up’- und ’Top-down’-Zugänge zur Untersuchung von Lern- und Gedächtnisvorgängen. Die Hirnebene und hier insbesondere die möglichen Zusammenhänge zwischen Gehirn und Gedächtnis auf Humanebene werden ausführlich dokumentiert.“

Die Durchführung dieses Programms ist aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich. Dessen Hauptüberschriften lauten:

  • Gedächtnis- Formen und Facetten
    (mit dem bedeutenden Unterkapitel: Gedächtnis in Altertum, Mittelalter und Neuzeit)
  • Gedächtnis in heutiger Sicht
  • Varianten von Gedächtnis bei Tier und Mensch
  • Gedächtnisverarbeitung im Gehirn – Anatomie des Gedächtnisses
  • Gedächtnisstörungen nach Hirnschäden und Korrelate funktioneller Bildgebung
  • Beeinflussung des Gedächtnisses durch Psyche und Umwelt
  • Gedächtnisdiagnostik und Gedächtnistrainingstechniken
  • Ausblick: Erinnern und Vergessen

Das für Eltern und Erzieher wichtigste Kapitel ist das sechste, aus dem die folgenden Zitate entnommen sind. Zunächst eine der zahlreichen Fallskizzen:
“Die Patientin hatte in ihrer Kindheit sehr stressreiche Erlebnisse durchmachen müssen, die neben Selbstmorddrohungen nächststehender Verwandter auch sexuellen Missbrauch einschlossen. Als offensichtliche Konsequenz hiervon blieb ihr im Erwachsenenalter die Erinnerung an die Zeit zwischen ihrem 10. und 16. Lebensjahr verborgen. Bilder, die sie auf Anweisung ihrer Therapeutin über diese Zeit malen sollte, enthielten zum Teil für sie entschlüsselbare Erlebnisse, zum Teil aber auch nicht konkret verbalisierbare, aber emotional bewertbare ’Szenen’. Es zeigte sich, dass der Anblick gerade dieser Bilder bei ihr eine starke Aktivierung Emotionen verarbeitender Hirnregionen auslöste, die mittels positronen-emissions-tomographischer Registrierungen sichtbar gemacht werden konnten.“ (S. 149)

“Derartige Fälle legen nahe, dass es grundsätzliche Ähnlichkeiten zwischen Amnesiezuständen mit nachgewiesener organischer Ursache (manifestem Hirnschaden) und fehlender organischer Ursache gibt. In beiden Zuständen kommt es häufig zu emotionalen Änderungen wie Verflachung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Defizit.

Massive Stresszustände können die Ausschüttung von Glucocorticoiden so steigern, dass diese letztendlich den Energiestoffwechsel von Neuronen ändern, wodurch es zu neuronalen Gewebsdegenerationen insbesondere dort kommen kann, wo entsprechend hohe Rezeptordichten bestehen - der vordere Temporallappen mit Hippocampaler Formation und Amygdala sind hier an erster Stelle zu nennen. Dieser Mechanismus kann zum Neuronentod führen, kann aber durch entsprechende therapeutische Maßnahmen auch korrigiert werden.

Von mehreren Seiten wird darauf abgehoben, dass eine Prädisposition für das Entstehen von stressbedingten kognitiven Änderungen im Erwachsenenalter durch Vorgänge in der Kindheit gefördert sein könnte. So konnte beispielsweise deutlich gezeigt werden, dass früher physischer oder sexueller Missbrauch die Entwicklung des Limbischen Systems behindern kann.“ (S. 152/153)

Markowitsch prognostiziert:
“Somatopsychische und psychosomatische Wechselwirkungen werden voraussichtlich in Zukunft die klinische Psychologie weit mehr tangieren, als dies bis vor kurzem absehbar war. Hierbei müssen auch die Auswirkungen von Kindheitstraumata, Panikattacken und Vergewaltigungen Beachtung finden.“ (S.155)

Zu ergänzen wäre: nicht nur die klinische Psychologie, sondern auch die praktische Sozial- und Sonderpädagogik ist von jenen Wechselwirkungen im Kern betroffen.

Das Buch glänzt durch ganz ungewöhnliche Leserfreundlichkeit: es ist leicht verständlich geschrieben, enthält viele Beispiele und Abbildungen und im Anhang ein Glossar, ein Literatur- sowie ein Sachwortverzeichnis. Es kann als das beste deutsche Lehrbuch zur Gedächtnisforschung empfohlen werden.

Kurt Eberhard (Nov. 2002)


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