FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

vergleichende Rezension / Jahrgang 2002

 

Eleanor E. Maccoby

Psychologie der Geschlechter - Sexuelle Identität in verschiedenen Lebensphasen

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2000
(444 Seiten, 45 Euro)

und

 

Doris Bischof-Köhler

Von Natur aus anders – Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede

Verlag Kohlhammer, Stuttgart, 2002
(430 Seiten, 27 Euro)

Das Spätwerk von Eleanor Maccoby, Sozialisationsforscherin und prominenteste Vertreterin der feministischen Gender-Psychology, erschien 1998 unter dem Titel “The two Sexes - Growing up apart, coming together“. Doris Bischof-Köhler’s “Psychologie der Geschlechtsunterschiede“ ist in weiten Teilen eine evolutionsbiologische Reaktion auf den überwiegend milieutheoretischen Ansatz von Maccoby. Bischof-Köhler, ebenfalls Psychologin, aber wie ihr Mann, Norbert Bischof, aus der Konrad-Lorenz- Schule, also aus einer überwiegend anlagetheoretischen Orientierung. Beide Autorinnen sind jedoch von extremistischen Einseitigkeiten weit entfernt, nichtsdestotrotz auch voneinander. Bischof-Köhler insistiert auf dem Primat der Biologie; Maccoby fragt: „Ist Biologie Schicksal?“ und antwortet: „Keineswegs!“ (S. 151).

Die Themen der beiden Autorinnen und deren partielle Parallelität sind aus ihren Inhaltsverzeichnissen ersichtlich:

ELEANOR MACCOBY:

DORIS BISCHOF-KÖHLER:

Einleitung: Natur und Kultur

1. Die Macht der Stereotypen
2. Der Wunsch nach Veränderung
3. Die mißverstandene Biologie

1. Teil: Theorien und ihre Beweiskraft

4. Freud und die Folgen
5. Dressur und Nachahmung
6. Kohlbergs Alternative
7. Stereotypen und Geschlechtsrollenverhalten
8. Präferenzen

2. Teil: Biologische Begründungen und ihre Evidenz

9. Die Evolution der Geschlechtsunterschiede
10. Weibliche Strategien
11. Geschlechtstypische Verhaltensdispositionen beim Menschen
12. Geschlechtsrollen im Kulturvergleich
13. Frauen im Kibbuz
14. Die Entstehung von Mann und Frau
15. Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung
16. Pubertätsentwicklung

3. Teil: Interaktion biologischer und soziokultureller Faktoren

17. Männer und Frauen denken anders
18. Mathematik, eine Domäne der Männer?
19. Versuche zur Angleichung
20. Selbstvertrauen
21. Geborgenheit und Neugier
22. Macht und Geltung
23. Konkurrenz zwischen den Geschlechtern
24. Fürsorge und Verantwortlichkeit
25. Moralisches Bewußtsein

Epilog

26. Natur und Gesellschaft
27. Wie soll es weitergehen?

Wissenschaftstheoretisch spürt man bei Bischof-Köhler deutlich den naturwissenschaftlichen Hintergrund. Sie bietet eine Fülle empirischer Untersuchungen, ist zu deren methodologischer Kritik bereit und fähig. Maccoby nutzt ebenfalls viele empirische Erhebungen, interpretiert sie aber eher hermeneutisch, zum Teil deutlich interessegeleitet.

Ihre zentrale inhaltliche Botschaft lautet: Kinder aller Kulturen haben, beginnend im dritten Lebensjahr, einen von den Erwachsenen kaum zu bremsenden Drang, sich, nach Geschlechtern getrennt, in Gleichaltrigengruppen zusammenzuschließen und dort Subkulturen zu leben, die sich voneinander und von den erwachsenen Kulturen signifikant unterscheiden.
„Derzeit können wir festhalten, daß die vorliegenden Studien Unterschiede in der Art und Weise zu erkennen geben, wie Kinder in ihren gleichgeschlechtlichen Spielgruppen miteinander interagieren. Häufiger als die Mädchen setzen sich die Jungen in ihren Gruppen »in Szene«, sie bevorzugen risikoreiche Unternehmungen und wilde Balgereien, neigen in höherem Maße zu direkter Konfrontation und zeigen häufiger als Mädchen Dominanzverhalten; ihnen ist es sehr wichtig, von ihren Peers nicht als »Schwächling« angesehen zu werden. Mädchen sprechen offener über sich selbst (gestehen auch ihre Schwäche eher ein), ihr Diskurs ist nicht nur ausführlicher als derjenige der Jungen, sondern auch durch eine größere Wechselseitigkeit geprägt, und sie sind stärker darauf bedacht, positive soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten und offene Konflikte zu vermeiden. Mädchen bringen Feindseligkeiten eher auf indirekte Weise zum Ausdruck.“ (S. 354)

Diese Gruppensozialisationen wirken deutlich erkennbar in alle späteren Beziehungen (in heterosexuelle Verhältnisse, in Elternschaften, in Kooperationen am Arbeitsplatz) hinein - teils förderlich, teils hinderlich und überwiegend zu Lasten der Frauen.

Demgegenüber läßt sich die Quintessenz von Bischof-Köhler folgendermaßen zusammenfassen:
„Sie zeigt, daß dem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt ebenso wenig mit einem groben Entweder-oder wie mit einem unverbindlichen Sowohl-als-auch beizukommen ist, daß Kultur vielmehr als die spezifische menschliche Weise begriffen werden muß, mit der eigenen Natur umzugehen, ihre Herausforderungen anzunehmen und ihre Vorgaben kreativ weiterzuentwickeln.“ (Klappentext)

Bezugnehmend auf eine eigene empirische Untersuchung hält sie Maccoby entgegen:
„Bei den Verhaltensunterschieden, die sich dann bei der Auswertung dieser Studie objektiv herausstellten, handelte es sich weder um die von Maccoby und Jacklin konstatierten Abweichungen in den kognitiven Stilen - diese manifestieren sich erst viel später im Verhalten -, noch lag es daran, daß die Buben jetzt schon "aggressiver" waren als die Mädchen. Es handelte sich vielmehr um feinschlägige Unterschiede in der Art und Weise, wie die Babies mit Spielsachen umgingen, wie sie diese manipulierten und untersuchten und wofür sie sich besonders interessierten. Auch in der Interaktion mit der Mutter und in der Reaktion auf eine kurzfristige Trennung von ihr unterschieden sich die Geschlechter.“ (S. 8/9)

Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern erscheinen bei ihr intensiver, vielfältiger und vor allen Dingen lebensgeschichtlich früher.
„Jungen lieben körperliche Spiele mit Wettkampfcharakter, raufen gern und toben herum. Sie sind rasch einmal lärmig und mögen Objekte, mit denen man Krach machen kann. Sie lieben Bewegung und Dinge, die Bewegung erlauben, und sie begeben sich gern in riskante Situationen mit Abenteuercharakter. Ferner zeigen sie schon als Halbjährige Anzeichen stärkerer Durchsetzungsorientiertheit, sie sind assertiver, nehmen beispielsweise einem Gleichaltrigen ungehemmt etwas weg, während Mädchen dies nicht tun. Dasselbe Merkmalsprofil deutet sich bei fötal androgenisierten Mädchen an. Das ist als Hinweis darauf zu werten, daß pränatale Androgene bei der Prägung seiner hirnphysiologischen Grundlagen eine Rolle spielen. Und da diese bauplangemäß eben bei männlichen und normalerweise nicht nennenswert bei weiblichen Föten wirksam werden, scheint es berechtigt, den genannten Eigenschaftskomplex als typisch männlich einzuordnen. .... Erhöhte Unternehmungslust bedeutet konkret, daß Jungen eher dazu neigen, unbekannte und riskante, also erregende Situationen und Dinge dann noch faszinierend zu finden und zu erkunden, wenn Mädchen bereits etwas zögern und sich lieber vorsichtig zurückhalten. Die stärkere Assertivität, also Durchsetzungsorientierung, ist in unmittelbarem Zusammenhang mit einer höheren Wettbewerbsmotivation zu sehen. Jungen bilden schon im Kindergartenalter Rangordnungen mit Gleichgeschlechtlichen. Im Aufbau und Vorgehen erinnern diese Strukturen an die tierischen Dominanzhierarchien bei Männchen und verweisen somit auf die Wirksamkeit phylogenetischer Vorgaben: Imponierverhalten, Konfliktreduktion, Unterordnungsbereitschaft und Stabilität sind hier die kennzeichnenden Merkmale.“ (S. 376/377)

Bei der Behandlung der Kausalfragen folgt sie dem Muster Popperscher Falsifizierung durch empirische Widerlegung bzw. Relativierung aller bedeutenden psychologischen Sozialisationstheorien (Psychoanalyse, Lerntheorie, kognitive Reifungstheorie). Dann belegt sie mit einer imposanten Sammlung empirischer Materialien ihre Thesen von den ontogenetischen Verursachungen (insbesondere durch Darstellung vorgeburtlicher physiologischer Prozesse) und den phylogenetischen Determinanten (insbesondere durch Tier-Mensch- und Kulturvergleiche). Trotz aller Bereitschaft, die physiologische Plastizität und psychische Beeinflußbarkeit des menschlichen Organismus zu akzeptieren, warnt sie (z.B. mit Hinweisen auf mißlungene Experimente in Kibbuzim und in den sozialistischen Kinderläden der ApO-Zeit) immer wieder vor sozialisatorischem Übermut.

Wie Maccoby stellt sie heraus, daß sich die Frauen gegenüber den Männern nach wie vor in einer benachteiligten Situation befinden, und wie Sarah B. Hrdy legt sie Wert darauf,
„daß der Wunsch vieler Frauen, sich neben der Familienarbeit beruflich zu betätigen, tatsächlich der weiblichen Veranlagung entspricht und daher zu berücksichtigen ist, wenn beiden Geschlechtern gleiche Lebensqualität zustehen soll. .... Wie man aber Beruf und Mutterschaft vereinbaren kann, dafür sind Patentrezepte noch nicht in Sicht.“ (S. 387)

„Bei kulturvergleichender Betrachtung spricht einiges dafür, daß die Natur bei der menschlichen Familie auch dem Vater einen Anteil an der parentalen Investition zugewiesen hat. Das heißt aber, daß Kinder von ihrer natürlichen Ausstattung her die Interaktion mit beiden Eltern erwarten, um sich optimal zu entfalten. Die Bedeutung der unterschiedlichen Umgangsstile von Mutter und Vater für die Befriedigung des Sicherheits- und Erregungsbedürfnisses insbesondere der gleichgeschlechtlichen Kinder gerade in den ersten Lebensjahren wurde im 21. Kapitel ausführlich besprochen; ein Elternteil allein kann nur mit großer Mühe beide Dimensionen abdecken. Mit dem Wegfall des Vaters verarmt die Palette des Angebots an die Kinder. .... Eine geradezu optimale Präsenz beider Eltern ist gewährleistet, wenn diese häufig zu Hause sind, sei es, weil es ihre Berufstätigkeit nahelegt, oder sei es, weil sie sich die Familienarbeit teilen. Ersteres war in früheren Zeiten die Regel und ist auch heute noch in einer allerdings nur noch kleinen Zahl von Familien realisiert. Ich denke dabei an Bauernbetriebe oder an die mittelständischen, handwerklichen Berufssparten: die Bäckerei mit dem Mann in der Backstube und der Frau im Laden oder den Automechaniker, bei dem die Frau die Bürotätigkeiten übernimmt. Allerdings hat die Frau bei diesen Arrangements meist außerdem die Hausarbeit am Hals und damit doch wohl eher wieder eine Doppelbelastung. Daß beide Eltern daheim ihren Beruf ausüben, ist im Rückgang begriffen, wobei sich in dieser Hinsicht allerdings eine ganz neue Entwicklung anbahnt: Mit der wachsenden Zahl von Internetjobs eröffnen sich für Männer, insbesondere aber auch für Frauen Perspektiven, deren ganze Tragweite noch gar nicht abzuschätzen ist.“ (S. 393)

Unabhängig davon, ob man den biologisch orientierten Thesen von Bischof-Köhler oder den sozialisatorischen Betonungen Maccobys folgt, für unsere Heim- und Pflegekinder ist von großer Bedeutung, daß sich die psychosozialen Grundeigenschaften von Mädchen und Jungen fundamental unterscheiden und daß sie dementsprechend ganz unterschiedlicher Erziehungsstile bedürfen.
(Kurt Eberhard, August 2002)


 

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