FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

Karl Heinz Brisch, Klaus E. Grossmann,
Karin Grossmann, Lotte Köhler (Hrsg.)

Bindung und seelische Entwicklungswege

Grundlagen, Prävention und klinische Praxis

Klett-Cotta, 2002
ISBN 3-608-94353-6 (38,00 Euro)

Das vorliegende Buch enthält die Beiträge der Konferenz “Attachment from Infancy to Adulthood” (Juli 2000). International führende Bindungsforscher aus den Bereichen Grundlagenforschung, klinische Praxis sowie klinische Anwendung in Prävention und Psychotherapie kommen zu Wort. Aus dem Inhalt:

  • Inge Bretherton
    Konstrukt des inneren Arbeitsmodells
    Bindungsbeziehungen und Bindungsrepräsentationen in der frühen Kindheit und im Vorschulalter
     
  • Beatrice Beebe, Jaseph Jaffe, Frank Lachmann, Stanley Feldstein, Cynthia Crawn, Michael Jasnow
    Koordination von Sprachrhythmus und Bindung
    Systemtheoretische Modelle
     
  • Gisela Klann-Delius
    Bindung und Sprache in der Entwicklung
     
  • Mary Target, Yael Shmueli-Goetz, Peter Fonagy
    Bindungsrepräsentanzen bei Schulkindern
    Entwicklung des Bindungsinterviews für Kinder
     
  • Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann, Monika Winter, Peter Zimmermann
    Bindungsbeziehungen und Bewertung von Partnerschaft
    Von früher Erfahrung feinfühliger Unterstützung zu späterer Partnerschaftsrepräsentation
     
  • Mary Main
    Organisierte Bindungskategorien von Säugling, Kind und Erwachsenem
    Flexible bzw. unflexible Aufmerksamkeit unter bindungsrelevantem Streß
     
  • Erik Hesse, Mary Main
    Desorganisiertes Bindungsverhalten bei Kleinkindern, Kindern und Erwachsenen
    Zusammenbruch von Strategien des Verhaltens und der Aufmerksamkeit
     
  • Karlen Lyons-Ruth, Sharon Melnick, Elisa Bronfman
    Desorganisierte Kinder und ihre Mütter
    Modelle feindselig-hilfloser Beziehungen
     
  • Peter Fonagy
    Ist Bindungssicherheit angeboren?
    Befunde aus der Zwillingsforschung
     
  • Martha Farrell Erickson
    Bindungstheorie bei präventiven Interventionen
     
  • Byron Egeland
    Ergebnisse einer Langzeitstudie an Hoch-Risiko-Familien
    Implikationen für Prävention und Intervention
     
  • Lynne Murray, Maret Dymond, Peter J. Cooper
    Psychotherapeutische Intervention, mütterlicher Bindungsstil und Bindung des Kindes
     
  • Miriam Steele, Jill Hodges, Jeanne Kaniuk, Kay Henderson, Saul Hillman, Paul Bennett
    Weitererzählungen von Geschichten als Methode zur Erfassung der inneren Welt des Kindes
    Implikationen für die Adoption
     
  • Karl Heinz Brisch
    Bindungsstörungen
    Theorie, Psychotherapie, Interventionsprogramme und Prävention 

Es ist ratsam, den letzten Beitrag zuerst zu lesen, weil er in eindrucksvoller Klarheit die Grundgedanken der Bindungstheorie rekapituliert. Karl-Heinz Brisch ist ein erfreulicher Glücksfall für die Zukunft der Bindungstheorie in Deutschland: er ist kinderpsychiatrischer Kliniker, Psychoanalytiker, kennt durch seine Kooperation mit Karin und Klaus Großmann auch die psychologische Bindungsforschung und ist selbst erfahrener Empiriker auf dem Gebiet der angewandten Bindungstheorie.

Über Bindungsstörungen schreibt er:
„Grundlegend bei allen Bindungsstörungen ist, daß frühe Bedürfnisse nach Nähe und Schutz in Bedrohungssituationen und bei ängstlicher Aktivierung der Bindungsbedürfnisse in einem extremen Ausmaß nicht adäquat, unzureichend oder widersprüchlich beantwortet wurden. Dies kann insbesondere bei vielfältigen abrupten Trennungserfahrungen des Kindes durch Wechsel der Betreuungssysteme, wie etwa bei Kindern, die in Heimen aufwuchsen, bei psychisch kranken Eltern oder bei erheblicher chronischer sozialer Belastung und Überforderung der Eltern entstehen. Wenn diese pathogenen Faktoren nur vorübergehend oder phasenweise auftreten, können sie häufig mit desorganisiertem Bindungsverhalten assoziiert sein; sind sie dagegen das überragende frühe Interaktionsmuster und nehmen die pathogenen Bindungserfahrungen einen extremen Umfang an, dann können Bindungsstörungen resultieren, die oftmals die verborgenen Bindungsbedürfnisse der Kinder wegen der extremen Verzerrungen im Verhaltensausdruck nicht mehr erkennen lassen.

So zeigen etwa manche Straßenkinder selbst in extremen Bedrohungssituationen kein Bindungsverhalten und ziehen sich eher einsam und alleine zurück, als daß sie sich in einer Notsituation vertrauensvoll an eine Bindungsperson wenden würden. Andere zeigen undifferenziertes Bindungsverhalten, indem sie sich an jede beliebige, momentan verfügbare Person wenden und diese um Hilfe ersuchen. Dieses Pseudo-Bindungsverhalten ist nicht spezifisch, sondern beliebig austauschbar. Besonders Kinder nach vielfältigen Wechseln in den Betreuungssystemen während der ersten Lebensjahre und nach Traumatisierungen zeigen solche Bindungsstörungen.“ (S. 357/358)

Über die tiefgreifenden psychosomatischen Folgen solcher Traumatisierungen:
„Eine große Anzahl von bahnbrechenden Studien sowohl im Human- wie im Tierbereich konnten inzwischen nachweisen, wie intensiv der gesamte Organismus auf den Verlust von Bindungspersonen durch Trennung oder auf eine Erregung des Bindungssystems durch angstmachende Bedrohungssituationen reagiert: Es kommt zu einer Aktivierung von physiologischer Streßregulation im Herz- Kreislauf-System (Blutdruck, Herzschlag); auch im Bereich der endokrinen Streßreaktion und des Immunsystems erfolgt eine Veränderung der Hormonkonzentrationen im Blut (Reite und Field, 1985; Hofer, 1995). Damit besteht eine enge Verbindung zur Psychosomatik; unsicher-vermeidende Kinder äußern in Trennungs- und Bedrohungssituationen ihre ethologischen Verhaltensbereitschaften und die damit verbundenen Affekte nicht nach außen. Diese Unterdrückung ist von einer erhöhten physiologischen Erregung begleitet. Von psychosomatischen Patienten wissen wir, daß sie über belastende Situationen und die damit verbundenen intensiven Gefühle oft nicht sprechen können und diese teilweise auch nicht wahrnehmen; statt dessen reagieren sie mit körperlichen Symptomen als Ausdruck ihrer inneren Erregung (Spangler und Schieche, 1995).“ (S. 359)

Bezüglich der therapeutischen Relevanz der Bindungstheorie kann er sich auf Bowlby berufen:
„Bowlby ging davon aus, daß die Patienten in der therapeutischen Beziehung wesentlich neue Bindungserfahrungen machen, die es ihnen ermöglichen, alte Bindungserfahrungen in einem neuen Licht zu sehen. Dadurch könnten sie - auf dem emotionalen Boden der »sicheren« therapeutischen Beziehung - auch neue Verhaltensweisen in ihren alltäglichen Beziehungen entwickeln. Auf diese Weise wird die Psychotherapie zu einer korrigierenden neuen Bindungserfahrung.“ (S. 360)

Ferner berichtet er über seine bindungstheoretisch inspirierten Präventionsprogramme bei Müttern von Risikokindern sowie über amerikanische Längsschnittstudien:
„In amerikanischen Studien liegen inzwischen Längsschnittdaten aus Präventionsprogrammen für psychosozial hochbelastete Familien über eine Zeitspanne von 25 Jahren vor. Diese zeigen, daß teilweise eine Unterbrechung von Teufelskreisen in Hochrisiko-Familien möglich ist, wenn die Interventionen sehr früh in den ersten Lebensjahren beginnen. Diese Ergebnisse beinhalten eine Botschaft mit weitreichenden politischen Konsequenzen (Egeland u. a., 1993; Egeland und Erickson, 1993; Erickson u. a., 1985, siehe auch die Beiträge von Erickson und Egeland in diesem Band).“ (S. 361)

Diesem Hinweis wollen wir folgen. Martha F. Erickson berichtet aus 25 jähriger Arbeit mit Hoch-Risiko-Familien und der Entwicklung von Präventionsprogrammen (STEEP-Programme). Diese setzen sehr früh und intensiv ein. Möglichst wird versucht, Frauen schon während der Schwangerschaft beratend zu erreichen, wodurch die Erfolgschancen für das anschließende Programm günstiger seien. Mit Beratungsgesprächen, Gruppenerfahrungen, Hausbesuchen und Videoaufzeichnungen wird Eltern umfangreich die Möglichkeit geboten, ihr Erziehungsverhalten zu schulen. Ein wichtiges Ziel ist, die elterliche Feinfühligkeit für die Bedürfnisse des Kindes zu wecken und zu fördern.
“Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigten Mütter, die an dem STEEP-Programm teilnahmen, ein besseres Verständnis für die Entwicklung ihres Kindes, bessere Fertigkeiten im Umgang mit ihren eigenen Lebensaufgaben, weniger depressive Symptome, weniger Folgeschwangerschaften (innerhalb der zwei Jahre nach der Geburt ihres Kindes) und vermehrte Feinfühligkeit gegenüber den Signalen und Zeichen ihres Kindes. Interessanterweise fand sich dagegen in der Kontrollgruppe ein Mangel an Feinfühligkeit im Zusammenhang mit streßvollen Lebensereignissen der Mutter; dies war bei der Interventionsgruppe nicht der Fall. Es schien so, als hätten die Mütter in der Interventionsgruppe gelernt, die persönlichen Folgen der streßvollen Lebensumstände von den Interaktionen mit ihren Kindern getrennt zu halten, und als seien sie trotzdem in der Lage, sich dem Kind feinfühlig zuzuwenden, obwohl sie mit belastenden Lebensumständen konfrontiert waren.“ (S. 294)

Byron Egeland referiert die Ergebnisse einer 1975 begonnenen, prospektiven Langzeitstudie, ebenfalls an Hoch-Risiko-Familien:
„Im Rahmen unserer Forschung stellten wir eine Mißhandlungsrate von 40 Prozent über die Generationen hinweg fest. Anhand eines Interviews kam heraus, daß 47 Mütter selbst als Kinder mißhandelt worden waren. Von diesen mißhandelten 16 (34 %) ihre eigenen Kinder, und 3 (6 %) hatten ihre Kinder verlassen; dies ergab eine Rate von 40 Prozent für die über die Generationen weitergegebenen Mißhandlungen. Aus der Gruppe von 47 Müttern, die in ihrer Kindheit mißhandelt worden waren, berichteten 13, daß sie als Kind sexuell mißbraucht worden seien, und 61 Prozent dieser spezifischen Gruppe mißhandelten selbst ihre Kinder. Im Kontrast dazu fanden wir unter den Müttern, die keinerlei Mißbrauch in der Kindheit erfahren hatten, nur eine (weniger als 1 %), die ihr Kind mißhandelte. Wie auch andere schon berichtet haben, fanden wir heraus, daß eine Mißbrauchserfahrung in der Vergangenheit der Mutter einen Risikofaktor für den Mißbrauch der eigenen Kinder darstellt (Egeland u. a., 2001).“(S. 318)

Bei den Müttern, welche in ihrer Kindheit selbst mißhandelt wurden, ihre eigenen Kinder aber nicht mißhandelten, also den Mißhandlungskreislauf über die Generationen hinweg durchbrochen haben, konnten drei besonders bedeutsame Variabeln identifiziert werden:
“Eine Variable, die eine Gruppe von Müttern, die in der Lage waren, den Mißhandlungskreislauf zu durchbrechen, von denen unterschied, denen dies nicht gelang, war das Vorhandensein emotional unterstützender Individuen. Mütter, die den Kreislauf durchbrechen konnten, hatten mit hoher Wahrscheinlichkeit als Kinder Pflegeeltern oder Verwandte, die sie emotional unterstützten. Eine zweite Variable, die beide Gruppen voneinander unterschied, war die Beziehung der Mutter zu ihrem Partner/Ehemann. Die meisten Mütter, die es schafften, den Kreislauf zu durchbrechen, befanden sich in einer stabilen, intakten und befriedigenden Beziehung zu unterstützenden Partnern. Eine weitere Variable zur Unterscheidung derer, die es schafften, den Zyklus zu unterbrechen, von denen, die dies nicht konnten, war die Teilnahme an einer intensiven Langzeitpsychotherapie, die es ersteren ermöglichte, die Erinnerungen an ihre frühen Misshandlungserlebnisse in den Griff zu bekommen und diese in ein kohärentes Selbstbild zu integrieren.“(S. 318)

Das ist ein für die Praxis von Pflegeeltern sehr ermutigendes Resultat. Den Herausgebern ist es mit diesem Buch gelungen, über die klinische Anwendung hinaus wichtige Erkenntnisse für die alltägliche Erziehungsarbeit zu dokumentieren. Wir wünschen ihm eine breite Leserschaft in allen sozialen Berufsfeldern.

Christoph Malter / Kurt Eberhard (Sept. 2002)

 

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