FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2008

 



Walter Gehres und Bruno Hildenbrand

Identitätsbildung und Lebensverläufe
 bei Pflegekindern:
Aufwachsen in Pflegeverhältnissen

VS Verlag, 2008

148 Seiten, 29,90 Euro
 

Dr. Walter Gehres ist Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Universität in Jena. Prof. Dr. Bruno Hildenbrand lehrt am gleichen Institut Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie. Ein Arbeitsschwerpunkt ist der Transformationsprozess der Kinder- und Jugendhilfe in ländlichen Regionen.

Über ca. 10 Seiten im ersten Hauptkapitel des Buches werden unter der Überschrift ‚Pflegekinder zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie’ allgemeine theoretische Überlegungen zusammengetragen. Im zweiten Hauptkapitel wird auf ca. 15 Seiten das Konzept und die Methodik der Untersuchung vorgestellt. Es folgen über ca. 60 Seiten Ausführungen zu sechs Falldarstellungen. Die Interviews und Fälle wurden Experten bereits im Rahmen einer Tagung im Jahr 2005 vorgestellt (s. http://www.agsp.de/html/a59.html). Die ersten Ergebnisse wurden im Anschluss an die Tagung publiziert und bereits fachöffentlich diskutiert (http://www.agsp.de/html/d169.html).

Im vorliegenden Band wird die Frage bearbeitet, ob grundlagentheoretisch die Dyade oder die Triade als Grundeinheit der primären sozialisatorischen Interaktion zu gelten hat, und ob die Personen innerhalb der Triade austauschbar sind, also, ob leibliche Eltern ersetzt werden können (S. 101). Darüber hinaus bearbeiten die Autoren die Aufgabe, wie ihre Ergebnisse „in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe nutzbar gemacht werden können.“

Im theoretischen Kapitel I der Arbeit treffen Gehres und Hildenbrand u.a. folgende Aussagen:
„Pflegefamilien können leibliche Familien nicht ersetzen, wie katastrophal deren Verhältnisse auch immer beschaffen sein mögen.... Die Herkunftsfamilie hat eine Bindungskraft, die insbesondere im Konfliktfall stärker ist als die der Pflegefamilie, auch wenn der Aufenthalt in der Pflegefamilie lange gedauert hat. (S. 13) ... Die Jugendhilfe kann Kindeswohl und Elternrecht nicht voneinander trennen. Denn es müssen Eltern- und Kinderrechte miteinander verknüpft werden, um überhaupt Jugendhilfemaßnahmen im Rahmen des KJHG gewähren zu können. (S. 16)“

Zum Sample schreiben die Autoren:
„Untersucht haben wir junge Erwachsene im Alter zwischen (damals) 21 und 32 Jahren. Mit ihnen haben wir biografische Interviews durchgeführt und diese mit den Mitteln der soziologischen Biografieforschung untersucht. (S. 30) Dieser Untersuchung liegt eine interpretative und fallrekonstruktive Methodik zugrunde.“ (S. 26) Die untersuchten sechs Pflegekinder waren ‚problematischen Lebensereignissen ausgesetzt’ (S. 34), jedoch gab es angeblich keine Fälle, „....die der klassischen Situation des sexuellen Missbrauchs entsprechen“. (S. 34) Dem entgegen wird an anderer Stelle gesagt: „Die von uns untersuchten pflegefamilialen Sozialisanden stammen aus erheblich belasteten Herkunftsfamilien und waren durchweg entsprechend ungünstigen Sozialisationsbedingungen mit schweren Traumatisierungen als Opfer von sexuellem Missbrauch, als Zeugen von Suizid und Mord bei Familienangehörigen ausgesetzt. Daran schlossen sich Karrieren in Einrichtungen der Jugendhilfe an.“ (S. 101)

Im weiteren werden die Lebensgeschichten der Pflegekinder referiert sowie deren Umfeld und die Sozialisationsbedingungen umfangreich und detailliert – oftmals verknüpft mit erklärenden Hypothesen – dargestellt. Ein kurzer Auszug:
„Das Ehepaar Werner hat fünf Kinder, von denen vier Kinder heute noch am Leben sind. Die älteste Tochter (*1967) wurde wie alle ihre Geschwister unmittelbar nach der Geburt zunächst in einem Kinderheim untergebracht und ist später in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Heute lebe sie nach Auskunft von Dieter Werner und seiner letzten Pflegefamilie in einer norddeutschen Stadt in einer Einrichtung für Erwachsene und beziehe Hilfe zum Lebensunterhalt. Der ältere Bruder von Dieter Werner (*1968) verbrachte seine Kindheit und Jugend nach dem Aufenthalt in einem Kinderheim in zwei unterschiedlichen Pflegefamilien. Über seine Lebenssituation und seinen Aufenthaltsort heute liegen keine Daten vor. Die drei Jahre jüngere Schwester (*1972) wurde nach ihrem Heimaufenthalt im Kleinkindalter adoptiert und sei von ihren Adoptiveltern misshandelt worden. Deshalb sei sie, so Dieter, im Erwachsenenalter zeitweise in psychiatrischer Behandlung gewesen. Der jüngste nach 1973 geborene Bruder ist in Folge körperlicher Misshandlungen durch den Vater im Säuglingsalter ums Leben gekommen (andere jugendamtliche Angaben verweisen auf zwei Fälle von Totschlag durch den Vater). Während Dieter Werner und seine letzten Pflegeeltern den einen, unzweifelhaften Totschlag und den anschließenden Gefängnisaufenthalt zumindest des Vaters als die Ursache für die Fremdunterbringung aller Kinder der Familie angeben, nennt das zuletzt für Dieter Werner zuständige Jugendamt eine behördliche Maßnahme, nämlich einen Sorgerechtsentzug unabhängig von einem Totschlag, als Grund für die Fremdplatzierung. Auch nach weiteren Rückfragen bleiben die konkreten Lebensbedingungen der Familie Werner vor der Unterbringung der Kinder im Dunkeln. Der Totschlag mindestens eines Kindes ist verifiziert, darüber ist nicht nur in den Jugendamtsakten, sondern auch in den Medien berichtet worden, aber dieses Ereignis ist nicht der Grund für die Fremdunterbringung Dieters, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits dreieinhalb Jahre alt war und - wie seine älteren Geschwister - längst im Kinderheim lebte, und zwar unmittelbar ab seiner Geburt. Ab dem fünften Lebensjahr folgen bis zu seinem 25. Lebensjahr insgesamt drei Unterbringungen in Pflegefamilien und Erziehungsstellen und in einem weiteren Kinderheim. Ob er zusammen mit seinen Geschwistern zwischen Mai 1973 und November 1974 in seiner Herkunftsfamilie gelebt hat, wie eine Anamnese aus den 80er Jahren nahe legt, ist aufgrund von sich widersprechenden Aktenaufzeichnungen zweier Behörden nicht herauszufinden. Das für ihn zuständige Jugendamt weist in einem für unsere Untersuchung erstellten Anamnesebogen eine durchgängige Fremdunterbringung auf, so dass man nach dieser Lesart davon ausgehen kann, dass seine Biografie ein Beispiel ist für das Aufwachsen in unterschiedlichen stationären Institutionen der Jugendhilfe. Für Dieter Werner selbst wie auch für die im Laufe seiner Kindheit und Jugend zuständigen Jugendämter liegen dessen frühe Jahre jedenfalls im Dunkeln. Dies spricht zum einen nicht für eine solide Fachlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe in den 80er Jahren, zum anderen sehen wir bei Dieter Werner die Folgen jugendamtlicher Versäumnisse: eine tiefe biografische Verunsicherung, die bestehende Traumatisierungen noch verschärft. (S. 40f.)
     In der Pflegefamilie Hoffmann/Pauly findet Dieter Werner für ca. 10 Jahre, bis zu seinem 25. Lebensjahr, einen familienähnlichen Verband vor, in welchem er zum ersten Mal belastbare und haltbare Bindungen, vor allem zum Pflegevater, erleben kann.... Dieter Werner konstruiert seine lebensgeschichtliche Wirklichkeit gemeinsam mit seinen Pflegeeltern. Hinzu kommt, dass der Pflegevater die Vorgeschichte verantwortlich macht für die Probleme des Pflegesohnes.... Eine solche Abgrenzung gegenüber der außerfamilialen Umwelt hängt mit dem spezifischen Normalitätsverständnis der Pflegeeltern zusammen.“ (S. 41f.) 

Als wichtige Resultate teilen Gehres und Hildenbrand mit:
- Pflegeverhältnisse sind durch das ständige Ringen um Normalisierung der Beziehungen zwischen Pflegekind, seiner Herkunftsfamilie und der Pflegefamilie charakterisiert. (S. 104 und S. 121)
- Hinsichtlich der grundlagentheoretischen Fragestellung nach der Bedeutung der Triade in der sozialisatorischen Interaktion macht die Studie deutlich, dass nach wie vor die Familie der Ort der ‚zweiten, soziokulturellen Geburt des Menschen’ (René König) ist.... Wo die leiblichen Eltern ausfallen und eine Pflegefamilie einspringt, besteht Gestaltungsnotwendigkeit zur Bewältigung von Folgen der Abwesenheit in der Triade. (S. 121)
- In allen untersuchten vorgestellten Formen von Pflegefamilien ist die Identitätsbildung bei den Pflegekindern angesichts teils extrem schwieriger Ausgangsbedingungen insofern gut gelungen, als die Pflegeeltern beachtliches bei der Entwicklung lebenspraktischer Autonomie der Pflegekinder geleistet haben. (S. 122)
 

Abschließend wird resümiert:
„Das Pflegekinderwesen in Deutschland leidet unter dem Einfluss von ideologischen Positionen, die unversöhnlich einander gegenüber stehen.... Mit unserer Studie von Biografieverläufen junger Erwachsener, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen sind, suchen wir einen Weg zum Verständnis solcher Lebenssituationen jenseits ideologischer Positionen.... Dabei zeigt sich, dass Pflegefamilien, unabhängig von ihrem Selbstverständnis und von ihrer Sozialisationspraxis, durchweg einen beachtlichen Beitrag zur Verselbständigung der ihnen anvertrauten Kinder leisten.... Die Wirklichkeit von Pflegefamilien, die wir beschreiben, ist nicht schwarz oder weiß, sondern in differenzierten Grautönen gehalten.“ (S. 126)

Die vorliegende Studie ist ein weiterer Beleg für die Wirksamkeit der Pflegefamilie und gibt Einblick in die Lebensgeschichten von Pflegekindern, Pflegefamilien und Herkunftseltern. Der Leser erfährt, woher die Eltern und Pflegeeltern auf ihrem biografischen Weg kommen, welchen Weg sie gemeinsam mit den Kindern gegangen sind und wo letztere sich heute, im jungen Erwachsenenalter befinden und ’was aus ihnen geworden ist’. Besonders die Falldarstellungen sind interessant und regen zu Diskussionen an, wogegen die Interpretationen der Autoren gelegentlich zu absolut daher kommen und wesentliche selbst auferlegte Fragen bleiben offen. Beispielsweise wird die wichtige, diese Untersuchung leitende Frage nach der ‚Ersetzbarkeit’ von leiblichen Eltern ohne Diskussion mit der schlichten Behauptung abgeschmettert, dass selbst die ‚katastrophalsten’ Eltern nicht ersetzbar seien. Der Feststellung, dass das Pflegekinderwesen unter dem Einfluss von Ideologien leidet, schließt der Rezensent sich an. Aber wie steht es mit der Überprüfung der eigenen ideologischen Position, wenn die Autoren meinen, dass ‚Kindeswohl und Elternrecht’ nicht voneinander zu trennen seien, weil sonst angeblich keine Jugendhilfemaßnahmen gewährt werden können? Für nicht wenige traumatisierte Kinder war es jedenfalls eine  Gegebenheit und meist auch ein dringendes Erfordernis, dass Gerichte dem Kindeswohl Vorrang vor dem Elternrecht einräumten und per Sorgerechtsentzug Jugendhilfemaßnahmen ermöglichten (http://www.agsp.de/html/n658.html). Vielleicht gelingt es Gehres und Hildenbrand, in einer folgenden Studie zum Pflegekinderwesen solche Aspekte angemessen zu berücksichtigen, damit ideologisch motivierte Debatten erst gar nicht aufkommen.

Christoph Malter (Juli 2008)


s.a.

 

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