Paula Zwernemann ist Diplom-Sozialarbeiterin, war berufstätig im Allgemeinen Sozialdienst eines Jugendamtes, hat drei leibliche Kinder aufgezogen und zwei Pflegekinder aufgenommen, einen Sonderdienst für Pflege- und Adoptivkinder zusammen mit dem Programm „Mutter und Kind“ in einem Jugendamt aufgebaut und von 1982 bis 2001 das Sachgebiet geleitet. Seit 2001 ist sie als Referentin und Beistand in der Pflegeelternschule Stuttgart tätig. Im April 2006 erhielt sie den Förderpreis für herausragende Arbeiten im Dienste von Pflegekindern von der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes.
Schon anhand des Inhaltsverzeichnisses wird ersichtlich, dass das vorliegende Buch von einer erfahrenen Kennerin der Praxis des Pflegekinderwesens geschrieben ist, die es darüber hinaus nicht versäumt, das Erklärungspotenzial wissenschaftlicher Theorien, insbesondere der Bindungstheorie zu nutzen:
Inhalt Vorwort
1. Einleitung
2. Die Grundbedürfnisse des Kindes 2.1. Das Grundbedürfnis des Kindes nach Versorgung und Bindung 2.2. Die Grundbedürfnisse des Kindes nach Erikson 2.3. Die Qualität der Bindung 2.3.1 Die sichere Bindung 2.3.2 Die unsicher-vermeidende Bindung 2.3.3. Die unsicher-ambivalente Bindung 2.3.4 Die desorganisierte Bindungsstruktur 2.4. Mut zur Elternschaft
3. Die Deprivation von Säuglingen und Kleinkindern 3.1. Nichtgebundene, distanzlose Kinder 3.2. Familienfähig? 3.3. Die wärmende Sonne von Liebe und Hoffnung 3.4. Entwicklungsrückstand 3.5. Das Annehmen von Stärken und Schwächen
4. Wie wird ein Kind zum Pflegekind? 4.1 Die Trennung eines Kindes bei desorganisierter, ambivalenter, krankmachender Bindung 4.2. Was kann der Berater ertragen? 4.3. Schutz und Sicherheit 4.4. Die Phasen der Integration des Pflegekindes in die Pflegefamilie 4.5. Das sicher gebundene Pflegekind
5. Die Trennungsangst des Kindes 5.1. Die Trennung eines sicher gebundenen Kindes 5.1.1. Umgangskontakte mit dem Ziel der Rückführung – Herausgabeverlangen 5.1.2. Die Legende der „sanften Umgewöhnung“ 5.1.3. Der kindliche Zeitbegriff und der Antrag auf Verbleib des Pflegekindes gemäß § 1632 Abs. 4 BGB 5.1.3.1. Der kindliche Zeitbegriff 5.1.3.2. Der Antrag auf Verbleib gemäß § 1632 Abs. 4 BGB 5.1.4. Die Trennung eines Kindes im nicht erinnerungsfähigen Alter 5.1.6. Ist Trennungsleid Wirklichkeit, obwohl es nicht genau messbar ist?
6. Wie wird eine Familie zur Pflegefamilie? 6.1. Die beste Werbung für neue Pflegefamilien sind zufriedene Pflegeeltern 6.2. Geschichtlicher Rückblick 6.2.1. Organisationsformen des Pflegekinderdienstes 6.2.2. Gruppenarbeit mit Pflegefamilien öffnet neue Wege 6.2.3. Welche Änderungen galt es in die Wege zu leiten? 6.2.4. Lernen im Tun 6.3. Hilfreiche Erfahrungen aus unserer Arbeit 6.4. „Zehn Gebote“ für die Gewinnung von Pflegeeltern
7. Pflegeeltern brauchen Vorbereitung 7.1. Hilfreiche Fragen für eine realistische Selbsteinschätzung 7.2. Die Vermittlungsphase: Wie man einen Realitätsschock vermeiden kann 7.3. Darf man Geschwister bei der Vermittlung trennen? 7.4. Wenn Kind und Pflegeeltern doch einmal nicht zusammen passen 7.5. Die psychosoziale Diagnose bei der Unterbringung ist immer nur vorläufig
8. Die Rolle des Jugendamtes bei der Beheimatung eines Kindes 8.1. Fachliche Ausrichtung des Jugendamtes 8.1.1. Verhältnis Jugendamt – Pflegefamilie 8.1.2. Der Sozialraum des Pflegekindes 8.1.3. Wie wird die Garantenpflicht des Jugendamtes eingeschätzt? 8.1.4. Fachliche und sachliche Ausstattung des Pflegekinderdienstes 8.2. Das Jugendamt als zweigliederige Behörde - Aufbau und Aufgaben des Jugendamtes 8.3. Zusammenarbeit mit den Trägern der freien Jugendhilfe und in der Jugendhilfe ehrenamtlich tätiger Vereine 8.4. Qualitätsstandard im Pflegekinderwesen 8.4.1. Historischer Rückblick auf die „rechtlosen Jugendamtskinder“ 8.4.2. Gibt es einheitliche Standards im Pflegekinderwesen? 8.4.3. Ein Blick über die deutsche Grenze 8.4.4. Die Notwendigkeit der Weiterentwicklung von Qualitätsstandards 8.4.5. Die Erziehungswirklichkeit und der pädagogische Bezug in der Familie 8.4.6. Die professionelle Familie? 8.4.7. Fakten, die eine Qualitätsentwicklung verhindern 8.4.8. Veränderungen, die eine Qualitätsentwicklung ermöglichen 8.4.9. Eine Konzeption, die sich in der Praxis bewährt hat
9. Der Hilfeplanungsprozess 9. 1. Was ist Hilfeplanung? 9.1.1. Die Doppeleignung als Pflege- und Adoptiveltern 9.2. Die psychosoziale Diagnose 9.3. Die Beteiligung der Betroffenen 9.4. Vollzeitpflege als geeignete Hilfeform 9.5. Die Qualifizierung der Fachkräfte 9.6. Die Aufnahme des Kindes in der Pflegefamilie 9.7. Das Hilfeplangespräch 9.8. Der Inhalt des Hilfeplans 9.9. Die Fortschreibung des Hilfeplans
10. Die Bestellung von Pflegeeltern als Einzelvormünder 10.1. Die rechtliche Situation von Pflegekindern bei der Unterbringung in Vollzeitpflege 10.1.1. Die Unterbringung des Kindes aufgrund eines Antrags der Eltern gemäß § 27 SGB VIII 10.1.2. Die Unterbringung des Kindes aufgrund eines Sorgerechtsentzugs gemäß § 1666 BGB 10.1.3. Die Unterbringung des Kindes aufgrund einer Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII durch das Jugendamt 10.2. Die elterliche Sorge bei der Unterbringung des Kindes in Familienpflege 10.2.1. Die Alltagssorge gemäß § 1688 BGB 10.2.2. Die Grenzen der Alltagssorge 10.3. Die Vollmacht für die Wahrnehmung von Angelegenheiten der elterlichen Sorge 10.4. Die Übertragung von Teilen der elterlichen Sorge nach § 1630 Abs. 3 BGB auf die Pflegeeltern 10.4.1. Grundsätzliche Überlegungen und gesetzliche Grundlagen nach § 1630 Abs. 3 BGB 10.4.2. Welche Teile der elterlichen Sorge benötigen Pflegeeltern bei einer Übertragung? 10.5. Grundsätzliches zur Vormundschaft und Pflegschaft 10.5.1. Rechtliche Voraussetzungen zur Einrichtung einer Vormundschaft 10.5.2. Gemeinsame Vormundschaft eines Ehepaares 10.5.3. Die Mitvormundschaft gemäß § 1797 Abs. 1 BGB 10.5.4. Die Bestellung eines Gegenvormundes gem. § 1799 BGB 10.5.5. Die Entziehung der Vormundschaft gemäß § 1796 BGB 10.5.6. Die Auswahl eines Vormundes oder Pflegers gemäß § 1779 BGB 10.6. Gesetzliche Bestimmungen zu Pflichten und Rechten des Vormundes 10.7. Pflegeeltern als Einzelvormünder 10.7.1. Vormundschaft als Nachbildung der elterlichen Sorge 10.7.2. Vorläufige Gründe für ein Jugendamt, die Pflegeeltern nicht als Vormünder vorzuschlagen 10.7.3. Stärkung der Erziehungskompetenz und Verantwortlichkeit der Pflegeeltern 10.7.4. Beratung und Kontrollfunktion des Jugendamtes gegenüber den Pflegeeltern als Vormünder 10.8. Rückblick über berufliche Erfahrungen hinsichtlich von Pflegeeltern als Vormünder
11. Diskussion über behördeninterne Organisationsformen des Amtsvormundschaftswesens 11.1. Offene Fragen: Amtsvormundschaft oder Einzelvormundschaft bei der Unterbringung des Kindes? 11.2. Geschichtlicher Rückblick auf die Organisationsformen 11.3. Verwirrung durch unklare Funktionstrennung in den Ämtern 11.4. Interessenkonflikt: Vertretung des Kindes und Leistungserbringer 11.5. Einzelvormundschaft/Pflegschaft versus Amtspflegschaft am Anfang des Pflegeverhältnisses 11.6. Fachdiskussion über die Zusammenführung von Amtsvormundschaftswesen und Betreuungswesen von Erwachsenen in einer eigenständigen Interessenvertretungsbehörde
12. Umgangskontakte bei Pflege- und Adoptivkindern 12.1. Einleitung 12.2. Risiko- und Schutzfaktoren bei Umgangskontakten 12.3. Risikofaktoren, die zum Misslingen der Umgangskontakte beitragen 12.4. Schutzfaktoren, die zum Gelingen der Umgangskontakte beitragen 12.5. Bedingungen, die zum Gelingen oder zum Misslingen der Umgangskontakte führen 12.6. Günstige Voraussetzungen für über Jahre gut verlaufende Umgangskontakte 12.7. Fazit
13. Die Identitätsentwicklung des Kindes und Jugendlichen 13.1. Biologische und soziale Elternschaft 13.2. Wie entwickelt sich die persönliche Identität, das Selbstwertgefühl? 13.3. Die Phasen der Identitätsbildung 13.3.1. Die oral-sensorische Phase 13.3.2. Die anale-muskuläre Phase 13.3.3. Die infantil-genital-lokomotorische Phase 13.3.4. Werksinn gegen Minderwertigkeit - Latenzphase 13.3.5. Pubertät und Adoleszenz 13.4. Die besondere Situation der Pflege- und Adoptivkinder bei der Identitätsentwicklung 13.5. Biografiearbeit
14. Namensänderung bei Pflegekindern 14.1. Die Bedeutung des Namens bei Pflegekindern 14.2. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Namensänderung bei einem Pflegekind 14.3. Welche Schritte sind erforderlich, wenn eine Namensänderung eingeleitet werden soll?
15. Datenschutz in Pflegefamilien 15.1. Datenschutz – Lebensschutz 15.2. Die Sozialdatenerhebung beim Betroffenen und ohne Mitwirkung des Betroffenen 15.2.1. Die Sozialdatenerhebung beim Betroffenen 15.2.2. Die Sozialdatenerhebung ohne Mitwirkung des Betroffenen 15.3. Die Übermittlung der Sozialdaten 15.4. Der Grundsatz der Zweckbindung und Nutzung bei der Datenübermittlung 15.5. Die Handhabung von Sozialdaten 15.6. Ein Fallbeispiel v. falsch verstandenem Datenschutz u. die Folgen 15.7. Datenschutz und Biografiearbeit
16. Die innere Haltung des Beurteilenden – Zum Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen 16.1. Was versteht man unter einem Gutachten? 16.1.1. Grundsätzliches zum Aussagewert von Gutachten 16.1.2 Was ist beim Lesen eines Gutachtens bzw. einer Stellungnahme zu beachten? 16.1.3. Erfahrungen des Gutachters aus der Praxis des Pflegekinderwesens 16.1.4. Zur Verknüpfung von „Erkenntnis und Interesse“ 16.2. Eine Studie – Handlungsmuster der Jugendämter
17. Beistände als Begleiter der Pflegefamilien
18. Resümee
19. Erfahrungsberichte
- Wochenpflege - die Woche bei der Pflegefamilie - das Wochenende bei der Mutter. Mit 5 Jahren kam ich in die 5. Pflegefamilie.
- Sicherheit durch klare Hilfeplanung
- Die Infragestellung einer Familie nach 8 Jahren durch eine Richterin oder es lohnt sich zu kämpfen
- Herzenskinder - Liebeserklärung an unseren Wirbelwind
- Die Bedeutung des Sorgerechts
- Ein ungepflegter Haushalt braucht kein Grund sein zur Herausnahme
20. Für Pflegekinder bedeutsame Gesetze und Rechtssprechungen
- Auszug aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
- Auszug aus dem Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)
- Auszug aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)
- Auszug aus dem Gesetz über die Angelegenheiten d. freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG)
- Auszug aus dem Gesetz über die religiöse Kindererziehung v. 15.07.1921
- Auszug aus dem Namensänderungsgesetz (NamÄndG)
- Die Rechtssprechung des Verfassungsgerichtes zum Pflegekind
- 20.1. Musteranträge
- Nr. 1 ... zur Übertragung der Vormundschaft auf die Pflegeeltern
- Nr. 2 ... für die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung für die Antragsstellung zur Namensänderung beim Ordnungsamt
- Nr. 3 ... auf Namensänderung nach § 3 des NÄG beim Ordnungsamt der zuständigen Gebietskörperschaft
- Nr. 4 ... für Pflegeeltern auf Übertragung von Angelegenheiten der elterlichen Sorge gemäß § 1630 Abs. 3 BGB
- Nr. 5 ... für Vorlage zur Sorgerechtsübertragung nach § 1630 BGB für den Sorgerechtsinhaber
- Nr. 6 ... auf Verbleib der Kinder gemäß § 1632 Abs. 4 und vorsorglich auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Nr. 7 ... auf Bestellung eines Einzelvormundes/Pflegers
- Nr. 8 ... für eine Verbleibensanordnung gemäß § 1632 Abs. 4 BGB
21. Literaturverzeichnis
22. Stichwortverzeichnis
Die einzelnen Kapitel sind übersichtlich strukturiert und mit vielen Fallbeispielen versehen. Eine Leseprobe:
Kapitel 8.1.2. (Der Sozialraum des Pflegekindes) „Die Sozialraumorientierung hat in der Sozialarbeit für die Vernetzung von Hilfen eine große Bedeutung. Die heftige Diskussion um die Streichung des § 86 Abs. 6 SGB VIII in den Jahren 2004/2005 haben die Probleme der Zuständigkeit und der Zuordnung zum Sozialraum verdeutlicht. Diese Diskussion hat sehr viel damit zu tun, ob das Kind, wenn es gefühlsmäßig ein Teil der Pflegefamilie geworden ist, letztendlich auch dem Sozialraum der Pflegeeltern zugeordnet wird. Nicht unwesentlich hängt hiermit die Frage nach der wohnortnahen Vermittlung des Kindes im Umfeld der Herkunftsfamilie zusammen. Schaut man die Unterbringungsgründe von Kindern und die der Unterbringung von vorausgegangenen erfolglosen ambulanten Hilfsbemühungen an, so kommt der Vorentscheidung, ob das Kind in der Nähe der Herkunftsfamilie untergebracht wird oder nicht, eine besondere Bedeutung zu. Wie das für das Kind aussehen kann, möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen: Martin kam als drittes Kind einer schwer alkoholabhängigen Mutter zur Welt. Die beiden älteren Geschwister mussten nach einem Sorgerechtsentzug wegen Kindeswohlgefährdung in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Bereits während der Schwangerschaft bat sie das Jugendamt um Hilfe und sie war bereit, unverzüglich in eine Klinik für Mutter und Kind für suchtabhängige Frauen zu gehen. Sie machte in der Therapie gut mit und versorgte das Kind nach der Geburt gut, sodass sie schließlich entlassen werden konnte, als das Kind sechs Monate alt war. Sie nahm die pädagogischen und wirtschaftlichen Hilfen des „Programm Mutter und Kind" an, arbeitete in der Gruppe der Alleinerziehenden gut mit und ging liebevoll mit dem Kind um. Die Hilfe des Familienhelfers, der ihr zusätzlich zur Seite gestellt wurde, nahm sie dankbar an. Als das Kind ein Jahr alt war, kam ein schwerer Rückfall. Da das Kind eine gute Bindung zur Mutter entwickelt hatte und sie bei allen Hilfsangeboten konstruktiv mitgearbeitet hatte, ging man davon aus, dass gute Aussichten bestehen würden, wenn sie unverzüglich wieder in die Klinik für suchtkranke Mütter ginge und das Kind in sechs Wochen wieder bei ihr wäre. In der Zwischenzeit wurde das Kind in einer Pflegefamilie in der gleichen Stadt untergebracht. Es kam jedoch anders. Sie brach den Klinikaufenthalt ab und sank immer tiefer in ihre Alkoholabhängigkeit, tat sich mit einem Partner zusammen, der ebenfalls alkoholkrank war und war damit einverstanden, dass das Kind in der ursprünglich auf Zeit angelegten Pflegefamilie auf Dauer verbleibt. Die einmal im Monat stattfindenden Umgangskontakte verliefen problemlos. Der Junge hatte zu den Pflegeeltern elterngleiche Bindungen, und die vierwöchigen Umgangskontakte, bei denen die Pflegeeltern immer zugegen waren und man gemeinsam etwas unternommen hatte, waren für den Jungen keine Belastung, jedoch auch keine besondere Freude. Die Mutter erschien bei den Besuchen nie betrunken. Als Martin im Schulalter war, änderte sich der Zustand der Mutter. Sie und ihr Partner saßen in der gleichen Stadt, in der der Junge lebte, meist in der Ecke am Gymnasium und bettelten. Sie waren oft sichtlich betrunken. Dann kam der Bub in dieses Gymnasium! Die Mutter lief ihm einmal nach und sagte in betrunkenem Zustand vor all seinen Schulkameraden: „Ich bin doch Deine Mutter! Erkennst Du mich nicht mehr?" Der Leser mag sich in die Situation dieses Jungen hineinversetzen. Diese Scham! Bis jetzt war er der Sohn einer angesehenen Familie, geliebt und umsorgt. Und nun?“
Das zweite Beispiel der wohnortnahen Unterbringung: „Sebastian war das älteste von drei Kindern. Die Familie lebte zunächst unauffällig und war nicht als Problemfamilie bekannt. Dies änderte sich während der dritten Schwangerschaft. Es gab mehrfach Polizeieinsätze, weil es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten kam. Zunächst wurde der Ehemann als Problem angesehen, bis immer deutlicher wurde, dass die Ehefrau bei den Konflikten unter schwerem Alkoholeinfluss stand und nicht mehr wusste, was sie tat. Es kamen Meldungen über Kindeswohlgefährdung, die Eltern trennten sich und die schwangere Frau war mit dem Einsatz einer Familienhelferin und mit der Einleitung der therapeutischen Maßnahmen einverstanden. Geplant war, dass sie zusammen mit dem Baby in die Mutter-und-Kind-Kurklinik geht und die beiden drei und fünf Jahre alten Kinder in der Nachbarschaft in eine Bereitschaftspflegefamilie gehen, damit die Mutter regen Kontakt halten kann. Auch vor dem Antritt der Kur konnte sie die Kinder nicht versorgen, sodass dies zunächst als eine günstige Lösung erschien. Die Mutter ging auch in die Klinik, alles schien wie geplant zu verlaufen, bis sie die Kur abbrach und auch das Baby wegen Kindeswohlgefährdung untergebracht werden musste. Die beiden älteren Kinder, die in der Zwischenzeit fast ein Jahr in der Pflegefamilie waren und sich dort sehr geborgen fühlten und richtig auflebten, mussten nun mit erleben, wie ihre leibliche Mutter betrunken vor dem Haus stand und drohend auf das Haus einbrüllte. Die Angst wuchs, als die Mutter zusammen mit dem ebenfalls betrunkenen Großvater in den Garten eindrangen, als die Kinder dort spielten. Die kleine Schwester wurde gefasst und mitgenommen, Sebastian konnte fliehen. Ab diesem Zeitpunkt weigerte er sich, das Haus zu verlassen. Er war in der Zwischenzeit in der ersten Schulklasse. Er konnte die Schule nicht mehr besuchen. Er verlangte, dass die Rollläden in seinem Zimmer nicht mehr geöffnet werden und bat immer wieder, dass die Pflegeeltern einen Käfig um sein Bett bauen sollen, damit er nicht weg geholt werden kann. Besonders tragisch war, dass sich der Junge eng an die Pflegeeltern und die Pflegegeschwister gebunden fühlte. Er wollte unbedingt in dieser Familie bleiben. Die einzige Möglichkeit der Hilfe für Sebastian war in dieser Situation, die durch die Bedrohung durch die Herkunftsfamilie ausgelöst wurde, ihn an einen sicheren Ort zu bringen. Es war sehr schwer, ihn davon zu überzeugen, dass er ja in die Schule gehen muss und nicht immer in seinem Zimmer bleiben kann. Schließlich gelang es, an einem entlegenen Ort, den er öfters mit den Pflegeeltern besuchte, eine Familie kennen zu lernen, und er konnte schließlich überzeugt werden, dass ihn dort seine betrunkene Mutter nicht finden kann. Alle drei Kinder mussten in anderen Pflegefamilien untergebracht werden, und der Aufenthaltsort musste geheim gehalten werden. Ob Sebastian nochmals tiefe Bindungen eingehen konnte oder er sich mit der positiven Situation arrangiert hat, ist auch nach sechs Jahren noch nicht sicher zu sagen. Die Schulverweigerung hat er mit dem Wohnortwechsel aufgegeben. Die Schullaufbahn durchläuft er bis jetzt problemlos.
Während ich diese Geschichten schreibe, kommt mir der Gedanke, ob der eine oder andere Leser meint, dies wäre übertrieben und die Ausnahme. Leider muss ich sagen, dass dem nicht so ist. Dort, wo Sucht und Gewalt im Spiel ist, und dies ist nicht selten, könnte ich diese Beispiele in einer großen Anzahl weiterführen. Dort, wo das Kindeswohl in der Herkunftsfamilie gefährdet ist - und dies ist nicht nur dort, wo Maßnahmen nach § 1666 BGB im Rahmen eines Sorgerechtsentzuges anstehen - kann der Sozialraum der Herkunftsfamilie nicht für das Pflegekind gelten. Das Kind hat mit der Klärung der Lebensperspektive und der gefühlsmäßigen Zuordnung zur Pflegefamilie ein Recht, Hilfen in seinem eigenen Lebensraum zu bekommen. Dieser Lebensraum ist sein Sozialraum. Hier lebt es, hier geht es in die Schule, hier hat es Freunde und hier lebt seine Familie - nämlich die Pflegefamilie. Wenn es Hilfen braucht, können diese nur im Sozialraum der Pflegefamilie erschlossen werden. Der Gesetzgeber hat schließlich mit seiner Entscheidung in § 86 Abs. 6 SGB VIII, dass die Zuständigkeit nach zwei Jahren weiterhin auf den Wohnort der Pflegefamilie übergeht, diesen Argumenten Rechnung getragen.“ (S.107 f.)
In einem weiteren Fallbeispiel schildert sie auf sehr lebensnahe Weise, wie es durch die Sozialraumorientierung und die multiple Zuständigkeit verschiedener Jugendämter zu chaotischen Folgen kam: “Wenn ich mich an diesen Fall erinnere, kommt mir die Ratlosigkeit der Fachleute in den Sinn. Der Mitarbeiter brachte mir als der zuständigen Sachgebietsleiterin mit einem ratlosen Lächeln einen Berg von Akten, und in mir selbst entstand jenes unfachliche Chaos, das offensichtlich auch in der Pflegefamilie herrschte. Als der Fall im Team erörtert wurde, kam es zu der gleichen Reaktion. Ratlosigkeit, Chaos - und wie weiter? Nicht nur die Vielzahl der Zuständigkeiten machten Schwierigkeiten. Es fanden sich im abgebenden Jugendamt und teilweise auch bei den Vormündern keine Fachleute, die mit der Problematik von Pflegekindern vertraut waren. Diese Beispiele sollen aufzeigen, was „milieunahe Vermittlung" und an der Herkunftsfamilie ausgerichtete "Sozialraumorientierung" für das einzelne Kind und die Pflegefamilie bedeuten kann. Wenn vielfach bedauert wird, dass nicht genügend Pflegefamilien zur Verfügung stehen, so muss auf die Bedingungen hingewiesen werden, unter denen Pflegefamilien bei dieser fachlichen Einschätzung eines Jugendamtes leben müssen. Es ist so nicht möglich, ein normales Leben als Familie zu führen. Hier muss wieder einmal darauf hingewiesen werden, dass diese Einmischung in die Intimsphäre der Pflegefamilie vom Bundesverfassungsgericht nicht gewollt ist.“ (S. 111)
Paula Zwernemann ist es ein Anliegen, das Kind und dessen Wohl ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Sie verbindet Theorie und Praxis unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens, wie nachfolgender Musterantrag verdeutlichen soll:
„Musterantrag zur Übertragung der Vormundschaft auf die Pflegeeltern An das Amtsgericht -Vormundschaftsgericht –in X Vormundschaft: Josefine, geb. ............. Anna, geb. ...............
Sehr geehrte Damen und Herren, wir beantragen gemäß § 1887 BGB die Entlassung des Amtsvormundes und die Umwandlung in eine Einzelvormundschaft. Die Kinder leben seit 8 Jahren in unserer Familie und wir nehmen seither die volle Erziehungsverantwortung wahr.
Wir begründen unseren Antrag wie folgt: Bis vor circa 8 Monaten hatten wir in dem bis dahin zuständigen Sozialarbeiter einen verständnisvollen Begleiter. Seit die neu zuständig gewordene Sozialarbeiterin die Betreuung unserer Familie übernommen hat, haben wir große Probleme. Ein kleines Beispiel: Beim zuvor zuständigen Sozialarbeiter war es selbstverständlich, dass wir die Zeugnisse unterschrieben haben. Für die Kinder ist es sehr wichtig, dass wir als Eltern in Erscheinung treten. Die jetzt zuständige Vormündin betonte, dass die Unterschrift unter die Zeugnisse von ihr als Vormund zu erfolgen hat. Es gab eine lange Diskussion über diesen Punkt, bis wir ihr deutlich machen konnten, dass diese Handlung über § 1688 BGB abgedeckt ist und wir ihr, wie bisher, die Zeugnisse in Kopie überbringen werden. Ein weiterer Punkt, der die Kinder stark beunruhigt ist, dass ihr Wille plötzlich ohne Beachtung bleibt. Wir sind bisher gewohnt, anstehende Probleme mit den Kindern zu besprechen. Jetzt werden wir von der Sozialarbeiterin des Jugendamtes unter Druck gesetzt, dass wir die Kinder zu Gesprächen auf das Jugendamt, ohne unsere Begleitung, zwingen sollen. Wir haben dies, gegen unsere Überzeugung, auch getan mit dem Erfolg, dass die Kinder deutliche Ängste vor jeder ruhigen Minute in der Familie entwickelt haben und die Flucht ergreifen, wenn wir von diesem Thema anfangen wollen. Seit das Jugendamt in so ungewohnter Weise in unsere Familie eingreift, ist eine tiefe Verunsicherung bei den Kindern entstanden. Plötzlich stehen sie in Gedanken vor der Möglichkeit, dass sie kein sicheres Zuhause mehr haben. Sie sehen auch unsere Autorität als Pflegeeltern vom Jugendamt in Frage gestellt. Bei den Gesprächen mit der Sozialarbeiterin wird betont, dass sie und nicht wir in vielen Fragen des täglichen Lebens zu entscheiden hat. Ein großer Konfliktpunkt sind die geforderten unbegleiteten Besuche. Beide Mädchen mussten schon immer zu den Besuchen überredet werden, sind aber in unserer Begleitung folgsam mitgegangen. Wir waren immer bemüht, die Besuche für die Kinder und auch die leibliche Mutter interessant zu gestalten. Als Beispiel möchten wir einen Ausflug in das nahe Ausland erwähnen, nachdem die leibliche Mutter sich für den schönen Tag bedankt hat. Die Kinder weigern sich, ohne unsere Begleitung mit ihrer leiblichen Mutter mit zu gehen. Wir möchten erwähnen, dass die leibliche Mutter die Gefühle der Kinder in den Gesprächen erheblich missachtet. Wir haben die Kinder zweimal zu, von uns nicht begleiteten, Besuchen gezwungen. Die Sozialarbeiterin war teilweise zugegen. Die leibliche Mutter erklärte den Kindern, dass es keinen Gott gäbe. Besonders Anna war sehr aufgebracht. Die Kinder wurden von uns christlich erzogen und haben zu einer tiefen Gläubigkeit gefunden. Die Sozialarbeiterin meinte dazu, dass es der Mutter freistehe, ihre Meinung zu äußern. Wir meinen, dass dies Erwachsenen gegenüber durchaus angebracht sein kann, nicht aber Kindern gegenüber, die sich in ihren Gefühlen verletzt fühlen. Ein anderes Beispiel: Die Mutter fragte, was Josefine für einen Beruf ergreifen will. Josefine - eine begeisterte Reiterin — sagte, sie wolle Tierärztin oder Polizistin werden. Die Mutter erklärte, dass sie, wenn sie Polizistin werden würde, wünsche, dass sie eine korrupte Polizistin würde, weil sie selbst von Jugendamt und Gericht ungerecht behandelt worden ist. Bei diesem Gespräch war ich, der Pflegevater, zugegen und konnte schützend eingreifen. Trotz der schweren Vorschädigung der Kinder - Anna hat die zu verschiedenen Zeiten erlittenen Misshandlungen nur deshalb überlebt, weil eine Mitarbeiterin des Mutter-und-Kind-Programms, das Kind in einem lebensbedrohlich verletzten Zustand angetroffen hat und die Aufnahme in die Klinik veranlasst hat. Trotz dieser traumatischen Erlebnisse konnten die Kinder sich bei uns zu fröhlichen jungen Menschen entwickeln. Es bedarf jedoch einer sorgfältigen Berücksichtigung der Gefühle und der Bedürfnisse der Kinder und sie brauchen den sicheren Rückhalt in uns als Pflegeeltern, der durch nichts in Frage gestellt werden darf. Wir haben in den vergangenen acht Jahren bewiesen, dass wir bei diesen beiden in der frühen Kindheit schwer geschädigten Mädchen die volle Elternverantwortung tragen. Bis vor dem Sachbearbeiterwechsel sahen wir keine Notwendigkeit zur Übernahme der Vormundschaft, weil wir uns ohne Vorbehalte unterstützt sahen. Jetzt wissen wir nicht einmal, was der Rechtsanwalt der Mutter schreibt, weil dies angeblich nur den Vormund etwas angeht. Wir bitten, unseren Antrag positiv zu entscheiden. Wir haben unsere Pflichten immer gewissenhaft erfüllt und bitten jetzt um die mit den Pflichten korrespondierenden Rechte, damit die Kinder die frühere Sicherheit wieder erhalten und wir auch die Möglichkeit bekommen, die Rechte der Kinder zu verteidigen. Wir denken, dass die Voraussetzungen der Entlassung des Amtsvormundes gemäß § 1887 BGB gegeben sind. Bei der Auswahl des Vormundes ist zu berücksichtigen, dass die Kinder sichere Bindungen an uns entwickelt haben und wir seit Jahren die volle Elternverantwortung tragen. Mit freundlichen Grüßen .....“ (S. 348)
Bilanzierende Bewertung: Wer undogmatische Antworten auf typische Probleme im Bereich des Pflegekinderwesens sucht, wird in dem vorliegenden Buch mehr als nur Anregungen finden: es enthält bewährte Theorien und zeigt praxisnahe Wege auf, die im Interesse vieler Pflegekinder gegangen werden können. Das Buch wird eine Bereicherung in den einschlägigen Ausbildungsgängen sein und kann Pflegeeltern sowie im Bereich des Pflegekinderwesens tätigen Fachkräften zur Lektüre und als Nachschlagewerk bestens empfohlen werden.
Christoph Malter, Okt. 2007
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