FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 



Annette Streeck-Fischer

Trauma und Entwicklung

Frühe Traumatisierungen
und ihre Folgen in der Adoleszenz

Schattauer, 2006

(286 Seiten, 49.95 Euro)

 

Frau Dr. Streeck-Fischer, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin, ist Chefärztin der Abteilung Klinische Psychotherapie für Kinder und Jugendliche im Lehrkrankenhaus Tiefenbrunn und Lehrbeauftragte an der Universität Göttingen.

Es geht in ihrem Buch
»um Jugendliche, die in ihrer Entwicklung schweren Belastungen ausgesetzt waren und oft schwer traumatisiert wurden. Frühe Traumatisierungen infolge von Vernachlässigung, Misshandlungen und Missbrauch graben sich tief in Körper, Geist und Seele eines jungen Menschen ein und bestimmen sein Leben – weit umfassender als das vielfach zur Kenntnis genommen wird. Es ist ein Anliegen dieses Buches zu verdeutlichen, was Traumatisierungen in der Entwicklung anrichten und dazu beizutragen, diese Jugendlichen in ihrem selbst- und fremddestruktiven Verhalten zu verstehen, die Vielfalt der Folgen ihrer Traumatisierungen zu erkennen, neurobiologische Zusammenhänge zu erfassen und die Probleme zu überwinden, die sich bei ihrer Behandlung stellen. Ich greife dabei auf meine langjährige Tätigkeit als Leiterin der Kinder- und Jugendlichenabteilung des Krankenhauses Tiefenbrunn zurück, eine Tätigkeit, zu deren Schwerpunkten die Anwendung und Weiterentwicklung psychoanalytischer und kinderpsychiatrischer Konzepte in der klinischen Vorsorgung von schwer gestörten Kindern und Jugendlichen gehört.« (aus dem Vorwort)

Die Hauptüberschriften aus dem Inhaltsverzeichnis:

  1. Einführung
  2. Adoleszenz aus psychoanalytischer Sicht.
  3. Adoleszenz und Struktur - Adoleszenz und Krise.
  4. Pathologische Adoleszenz und das gesellschaftliche Entgegenkommen
  5. Adoleszenz und Persönlichkeitsstörung
  6. Komplexe traumatische Belastungsstörung – Borderline-Störung – MCDD
  7. Psychopathologie der Folgen von Traumatisierung in der Entwicklung
  8. Normale und pathologische Entwicklung
  9. Hirnentwicklung – Gedächtnis – Schnelle Wege – Trauma
  10. Die therapeutische Beziehung: Missverständnisse, Mißbrauch und Angriffe
  11. Vom Handeln zur Therapie
  12. Stationäre Psychotherapie: Besonderheiten der Behandlung in der Klinik
    Literatur- und Sachverzeichnis (insges. 30 engbedruckte Seiten!)

Die folgenden Textproben sind ziemlich willkürlich herausgegriffen, dokumentieren aber die profunde Sachkunde und Vielseitigkeit der Autorin.

Ihre empirische Grundorientierung zeigen die vielen aus der internationalen Forschung zitierten Untersuchungsbefunde, bspw. hier über die Kovarianzen zwischen Traumatisierungen und Borderline-Störungen:
»Empirische Untersuchungen belegen eindeutige Zusammenhänge zwischen Borderline- Entwicklungen und Traumatisierungen (Tab. 5.4). Nach Zanarini et al. (1997) waren unter 358 Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung 61,5%, die missbraucht wurden, und 93,2%, die vor dem Alter von 18 Jahren vernachlässigt wurden. .... Die Untersuchung von 98 Patienten mit Borderline-Störung ergab, dass sie signifikant häufiger sexuellem und körperlichem Missbrauch sowie schwerer Vernachlässigung ausgesetzt waren als Patienten mit anderen Störungen und die Eltern häufiger mit Substanzmittelmissbrauch zu tun hatten oder kriminell waren. Paris und Mitarbeiter (1994a, 1994b) stellen in ihren Untersuchungen fest, dass körperliche Vernachlässigung signifikant häufiger zu Borderline-Störungen als zu anderen psychiatrischen Erkrankungen führt. ....
     Kindheitserfahrungen von Missbrauch und Vernachlässigung sind bei Borderline-Patienten besonders häufig (Driessen et al. 2002; Herman et al. 1989; Jacobson u. Herald 1990; Ogata et al. 1990). .... Neben sexuellem Missbrauch spielen Vernachlässigung und körperlicher Missbrauch eine große pathogenetische Rolle als Folge eines Mangels an elterlicher Kompetenz. ....
     Kinder mit einer Borderline-Pathologie zeigen ein spezifisches Profil an psychosozialen Risikofaktoren (Abb. 5.1 ). Ihre hohe Belastung durch psychosoziale Traumata wie Miss- brauch, Misshandlung, Trennung, Verlust, Vernachlässigung und anderem sowie durch El- tern, die in ihren elterlichen Funktionen versagen (Gudzer et al. 1999; Paris et al. 1999), verweist auf chronische und komplexe traumatische Belastungen, die sich in spezifischen Verhaltensauffälligkeiten niederschlagen. ....
     Weiter werden diese Kinder und Jugendlichen mit massiven Ehekrisen ihrer Eltern, mit Trennungen, Scheidungen, ungünstigen sozioökonomischen Verhältnissen, mit Dissozialität, Alkoholismus und Gewalt (vgl. Goldmann et al. 1993; Weaver u. Clum 1993) konfrontiert. Die Risikofaktoren von Borderline-Kindern und -Erwachsenen ähneln sich. Die Patienten kommen aus dysfunktionalen Familien, die durch Trauma, Vernachlässigung und Trennung charakterisiert sind.
     Vielen erscheint ein multifaktoriales ätiologisches Modell der Borderline-Persönlichkeit als am besten geeignet, die Komplexität der Psychopathologie zu erfassen.« (S. 76-78)

Ähnlich wie Robert Bering strebt Streeck-Fischer ein Verlaufsmodell der traumatischen Belastungsstörung an:
»Ein Verlaufsmodell (vgl. Stern 1992/1998) bei traumatischen Belastungen sollte

  • das traumatische Ereignis (Fischer u. Riedesser 1998),
  • die Reaktion auf das traumatische Ereignis mit einem Versagen neuropsychobiologischer Regulation und mit traumaspezifischen Antworten,
  • traumaspezifische Folgen und Bewältigungen und
  • mittel- und langfristige Folgen

einbeziehen (Abb. 6.3).

Die verschiedenen Schritte lassen sich an der früh traumatisierenden Pflegeperson – zumeist die Mutter – beschreiben (Stern 1992/1998):

  • Das Kind erfährt eine Mutter, die sich nicht fürsorglich und lustvoll zuwendet, sondern im Gegenteil seine spontanen Äußerungen als Angriff behandelt. Sein Schreien aktiviert Gegenangriffe mit rüden verbalen Äußerungen und grobem Verhalten, das für das Kind allenfalls mit einer funktionalisierten Teilbefriedigung einhergeht.
  • Auf die Begegnung mit dem unfreundlichen oder gleichgültigen Gesicht einer Mutter, die Blickkontakt vermeidet, sich abwendet oder aversiv auf seine spontanen Gesten reagiert, bringt das Kind seine Bedürftigkeit gegebenenfalls noch intensiver zum Ausdruck, z.B. durch noch heftigeres Schreien. Von der Mutter erfährt es daraufhin noch massivere aggressive und Schmerz zufügende Reaktionen. Schließlich verstummt das Kind und erstarrt, wendet seine Blicke ebenfalls ab und blendet die Mutter als Schmerzquelle aus.
  • Das Kind lässt die pflegerischen und rüden Prozeduren der Mutter über sich ergehen. Auf schwer erträgliche Gefühlszustände reagiert es im Wechsel mit untröstlichem Schreien und Erstarrung, weil ihm die Erfahrung einer Mutter fehlt, die diese Gefühle 'hält'. Psycho- neurobiologische Regulationen geraten aus dem Gleichgewicht. Das Kind wird körperlich unruhig und/oder somatisiert und entwickelt beispielsweise Gedeihstörungen.
  • Um den Bruch mit der Mutter, von der es abhängig ist, zu überdecken, reagiert das Kind gegebenenfalls mit einem Complianceverhalten, das vordergründige Angleichung an eine unempathische Mutter und deren fremde Gesten herstellt. Mit Hilfe der Angleichung beschwichtigt das Kind die Mutter und erreicht, dass ihre Handlungen besser abgestimmt erscheinen. Unerträgliche Gefühlszustände werden dissoziiert. Diese werden allenfalls in einzelnen kurzen Verhaltenssequenzen und durch äußere oder innere Trigger zustandsabhängig sichtbar.« (S. 105/106)

Auch die Ergebnisse der neuropsychologischen Traumaforschung werden ausführlich gewürdigt:
»Driessen et al. (2002) und Irle et al. (2005) haben rechtsseitig eine reduzierte Hippocampusgröße bei Borderline-Störungen mit frühen traumatischen Belastungen nachgewiesen. Bremner und Narayan (1998) haben bei traumatisierten männlichen und weiblichen erwachsenen Probanden ein reduziertes Hippocampusvolumen festgestellt. Aufgrund neuerer Untersuchungen scheinen diese Veränderungen jedoch unspezifisch zu sein, sie sind auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen zu beobachten. In Tierexperimenten (Gilbertson et al. 2002) und in Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Shalev (Bonne et al. 2001) konnten demgegenüber keine Veränderungen im Bereich des Hippocampus als Folge von Traumatisierungen nachgewiesen werden. Andererseits stellten Vythilingam et al. (2002) fest, dass Frauen mit major depressions und reduziertem Hippocampusvolumen sexuelle und/oder körperliche Misshandlung in ihrer Kindheit erfahren haben. Die MRT-Messungen von DeBellis et al. ( 1999b ) an 44 Kindern sprechen für eine generellere Störung der Hirnentwicklung bei früher Traumatisierung, die mit geringerem Volumen (7%), größeren Ventrikeln und einem schmaleren Corpus callosum einhergeht. Diese Befunde stimmen mit Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Rutter (Sandberg et al. 2001) überein, die an schwerst traumatisierten und deprivierten Kindern aus Rumänien ein eingeschränktes Hirnwachstum feststellen konnte. Teicher und Mitarbeiter (2002) fanden in ihren Studien an Kindern eine eingeschränkte Entwicklung und Differenzierung der linken Hemisphäre sowie eine mangelhafte rechtslinkshemisphärische Integration, die sich in einem Wechsel in der hemisphärischen Aktivität bei Erinnerungen und einer Mangelentwicklung der mittleren Bereiche des Corpus callosum zeigen. Durch die beeinträchtigte Verbindung zwischen rechter und linker Hemisphäre können körperliche Zustände und affektive Informationen nur mangelhaft in die linke Hemisphäre vermittelt werden. Infolge des eingeschränkten Rechts-Links-Transfers sind Worte für Gefühle nicht verfügbar. ....
     Bei Jungen, die missbraucht oder vernachlässigt wurden, zeigte sich ein reduzierter mittlerer Bereich des Corpus callosum (Teicher 2000; vgl. auch Keshavan et al. 2002). .... Bei Mädchen zeigte sich ebenfalls eine deutliche Abnahme in den mittleren Bereichen des Corpus callosum, insbesondere bei Mädchen, die körperlich oder sexuell missbraucht worden waren (DeBellis et al. 1999; Teicher et al. 2002). ....
     Auch die neurobiologische Forschung zur ADHS verweist auf neuronale Entwicklungsbeeinträchtigungen. Kinder mit ADHS haben eine geringere Hirngröße als unauffällige Kinder. Das Hirnvolumen ist 3 %, der Frontallappen 5 %, die Basalganglien 7 %, das Kleinhirn 11-15% kleiner als bei gesunden Kindern. Weitere Befunde sind ein kleineres Corpus callosum, eine Volumenminderung des rechten Frontallappens, eine verminderte Durchblutung sowohl in den präfrontalen Regionen als auch in den Verbindungsbahnen zum limbischen System, Lateralitätsunterschiede und eine größere Dysfunktion der rechte Hemisphäre. ....
     Teicher et al. (2002) meinen, dass Traumata Hormon- und Neurotransmitterspiegel verändern und so die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen. ....
     Die multiplen neurokognitiven Defizite von Kindern und Jugendlichen mit frühen Traumatisierungen weisen auf eingeschränkte Funktionen in der rechtsparietalen und frontalen Region hin (Damasio 1999). ....
     Eine PET(Positronenemissionstomografie)-Studie zu Depersonalisationsstörungen (Si- meon et al. 2000) weist auf metabolische Abnormalitäten im sensorischen Kortex hin. .... Auch Untersuchungen aus bildgebenden Verfahren verweisen darauf, dass vor allem Auffälligkeiten im Parietalhirn vorliegen: So ist die Größe des Parietalhirns insbesondere rechts bei erwachsenen Patienten mit komplexen Traumatisierungen reduziert (Irle et al. 2005). ....
     Überwältigende Angsterfahrungen werden in der Neurobiologie des Kindes gespeichert. Durch die Sensitivierung des Katecholaminsystems wird eine Kaskade von assoziierten Veränderungen in den hirnbezogenen Funktionen ausgelöst. Die Folge sind Veränderungen in der Physiologie sowie kognitiver und emotionaler Funktionen (vgl. auch Gurvits 1997, 2002) und des Verhaltens.« (S. 174-177)

Die Behandlungsphasen demonstriert die Autorin an einem Fallbeispiel:

»Erste Phase – Ankommen in der Therapie

Der 17 -jährige Anton hat bereits mehrere schwere Suizidversuche hinter sich. Sein Körper ist übersät mit Narben, die von Selbstverletzungen herrühren. Nach einer Diagnostikzeit von 4 bis 6 Wochen werden in einer gemeinsamen Besprechung. an der der Jugendliche im zweiten Teil teilnimmt, alle Befunde und bisher erhobenen Daten zusammengetragen. In der Zweitsicht wird die weitere Behandlung geplant und organisiert. Er berichtet hier, dass es ihm seit drei Jahren so schlecht gehe. Zusammenhänge zwischen seinem Verhalten und besonderen Belastungen sieht er nicht; wahrscheinlich sei es vererbt. Den Mitarbeitern im Team fällt auf, wie wenig sich die Eltern um seine Belange kümmern, ihn geradezu vernachlässigen. Beobachtete Verhaltenweisen im Alltag wie z.B. Erregungszustände mit Be- drohung anderer, Rückzüge in Apathie und Passivität, Selbstverletzungsneigungen und ähnliches weisen auf traumatische Belastungen hin. Anton wird damit konfrontiert: Er verhalte sich wie einer, der Schlimmes durchgemacht hat. Anton meint jedoch, er könne sich an nichts erinnern. Vielleicht komme er ja im Laufe seiner Therapie darauf, ermuntert ihn die Zweitsichterin, er brauche eine Therapie, und sie hoffe, er könne sich darauf einlassen. Wichtig sei zunächst, dass er es hinkriege, wieder einen einigermaßen normalen Tagesablauf zu haben. z.B. zur Klinikschule zu gehen, wieder lernfähig zu werden. den Alltag zu bewältigen und Abstand zu sich und den anderen zu bekommen. Ihm komme offenbar Vieles zu nahe, so dass er Mühe habe, Grenzen zwischen sich und anderen zu ziehen; dies sei häufig eine Folge von traumatischen Überwältigungen.
     Anton erfuhr in der ersten Zeit der Behandlung, dass er mit seinen Problemen gesehen wurde und man ihm wohlwollend, vorhersehbar und verlässlich begegnete. Anton vermittelte den Eindruck, dass er die Rückmeldungen hinsichtlich seines Verhaltens und der darin deutlich werdenden Störungen (kognitive Mentalisierung) hilfreich fand, wenngleich er an die- ser Stelle nicht zu erkennen gab, dass er sich möglicherweise verstanden fühlte. Hier spielten vermutlich Autonomiewünsche eine wichtige Rolle. Seine Verhaltenweisen hatten jetzt einen Sinn bekommen. Gleichzeitig wurde ihm vermittelt, dass er sich, wenn er nicht lernen würde, sich von seinen Verhaltensweisen, den traumatischen Inszenierungen zu distanzieren, in einer Sackgasse befände, in der alles nur schlimmer würde. Er war damit einverstanden, Distanzierungstechniken einzuüben.
     Anton richtete sich auf der Station ein und schien sich mit seinen Belangen unterstützt zu fühlen. Er gewöhnte sich an einen normalen Tagesablauf (er ging morgens in die Klinikschule), wurde mit Stabilisierungstechniken vertraut gemacht und arbeitete in der Einzeltherapie an aktuellen Problemen.


Zweite Phase – Erkennen und zunehmende Distanzierung von bisherigen 'traumatischen Reenactments

Indem Anton im Alltag immer wieder auf Verbindungen zwischen seinem Verhalten und seiner inneren Situation aufmerksam gemacht wird, erkennt er allmählich seine im Alltag und in seinen Beziehungen gehandelte Problematik als Folge innerer Konflikte. Traumatische Inszenierungen können zunehmend erfasst werden. Allmählich kann er auf bis dahin gewohnte Selbsthilfemaßnahmen wie Alkohol und Selbstverletzung verzichten. Im Alltag wird er gleichzeitig mehr gefordert, indem er in die Schule in der Stadt geht oder an gezielten Trainings teilnimmt.
     Anton konnte es aufgeben, sich selbst zu verletzen. Allmählich akzeptierte er, dass sein Verhalten mit früheren Erfahrungen zusammenhing. Nun wollte er unbedingt die Außenschule besuchen. Einige therapeutische Mitarbeiter meinten, dass er dazu in der Lage sei. Andere – insbesondere die Körpertherapeutin – hielten diesen Schritt für zu früh, da Anton nach wie vor sehr reizoffen und ohne sichere Grenzen erscheine, auch ohne stabile Hautgrenzen. Die Einzeltherapie erlebte Anton als Kränkung. Die ursprünglich idealisierte Therapeutin hatte ihn einmal "vergessen" bzw. "im Stich gelassen". Sie hatte nicht nach ihm gesucht, als seine Therapiezeit war. Er war zu diesem Zeitpunkt von einem flashback – wie er später erwähnte – überwältigt gewesen. Trotzdem wurde er offener. In der Schule geriet er allerdings in Panikzustände, die zu der Vermutung veranlassten, dass er dort durch irgendetwas getriggert wurde. Die Hinweise für traumatische Belastungen verdichteten sich zunehmend. Es gab Hinweise auf sexuelle und körperliche Gewalterfahrungen. Teilweise konnte er sie in der Therapie andeuten, teilweise erzählte er außerhalb der Therapie von Ereignissen wie beiläufig. Er fühlte sich in verschiedener Hinsicht als Opfer, überwältigt von anderen.
     Nach einer Wiedervorstellung geriet er in einen massiven Spannungszustand. Bei einer Wiedervorstellung ziehen die verschiedenen Therapeuten, Betreuer und der Stationsarzt eine Zwischenbilanz und planen gemeinsam mit dem Jugendlichen die weitere Therapie. Während dieses Gespräches wurde Anton aufgefordert, sich mehr Unterstützung zu holen und auf Techniken, die ihn stabilisieren würden, zurückzugreifen. Der Spannungszustand ähnelte dem, der vor der Behandlung zu einem Selbstmordversuch geführt hatte. Möglicherweise fühlte er sich auf sich selbst zurückgeworfen und einmal mehr mit seinen Problemen konfrontiert. Er schaffte in kreativer Weise Chaos auf der Station, indem er mit Glassteinen, die nach Renovierungsarbeiten im Keller aufbewahrt wurden, Türen verbarrikadierte. Für einige wurde er das geliebte, besondere Kind der Station, andere bekämpften ihn. So wie er seinerseits einige andere idealisierte, entwertete er andere. Er akzeptierte es nun, dass er eine Therapie brauchte und arbeitete in der Einzeltherapie intensiv an seinen Ängsten.


Dritte Phase – zunehmende Stabilisierung (vom Opfer zum Täter)
In der dritten Phase kommt es zu einer Krise, die einen wichtigen Wendepunkt markiert. Gleichzeitig werden neue Erfahrungen in der Außenwelt, der Schule, bei einem Arbeitsversuch oder im Umgang mit Gleichaltrigen gemacht.

Anton weigert sich, weiter zur Schule zu gehen. Dagegen ist er bereit, an einem Angsttraining teilzunehmen. Er erhält medikamentöse Unterstützung. In der Körpertherapie baut er eigene Räume. Diese scheinbar sicheren Orte werden jedoch immer wieder durch plötzliche bedrohliche Einbrüche, die Ausdruck von flashbacks sind, zerstört. Hier schien er, in geschützten Räumen seine eigenen Traumaexpositionen zu versuchen.
     Es kommt zu Verstrickungen mit anderen Jugendlichen und mit den Erziehern. Da Anton Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit nicht anerkennen will – er meint, er habe kein Schamgefühl –, gerät er mit dem Stationsleiter aneinander. Jetzt stellen sich Beziehungsmuster her, in denen ihm die Selbstbestimmung genommen wird, vergleichbar jenen Formen von Überwältigung, die er offenbar früher erfahren hat, in denen er bedroht worden war und Grenzen zwischen sich und anderen verloren hatte. Er fühlt sich häufiger schlecht behandelt und kämpft jetzt für seine Positionen.    
Er wird nun in verschiedenen Situationen vom Opfer zum Täter, letztlich um der Position des überwältigten Opfers zu entkommen. In einer Gruppensitzung sagt er seiner Einzeltherapeutin "Ich bringe Sie um", als er sich nicht gesehen fühlt. Er bringt den Stationsleiter in eine Situation, in der dieser sich überwältigt fühlt. Es wird ihm zunehmend deutlich, wie wichtig es ist, sichere Abstände zu schaffen, Räume des Innehaltens, Denkens und Nachdenkens, um die traumatischen Erfahrungen mit den flight-/fight- und Panikreaktionen zu relativieren. Nach vielen Auseinandersetzungen will er lieber erst mal gehen, zu früh, aber – wie er meint – ausreichend stabil, um die Schule wieder besuchen zu können.


Vierte Phase – vorzeitiges Ende der Therapie

Anton ging in sein bisheriges Umfeld zurück, aus unserer Sicht noch mangelhaft vorbereitet. Dies entsprach jedoch seiner Art, überhöhte Ansprüche an sich zu stellen, letztlich tat er sich selbst Gewalt an. Anstelle seines "weiß nicht, was passiert ist" erzählte er in seiner letzten Therapiestunde erstmals von früheren Traumatisierungen: der sexuelle Missbrauch im Alter von acht Jahren durch einen Lehrer, sexuelle Nötigung durch eine ältere Frau mit Domina-Allüren im Alter von vierzehn Jahren und eine sexuelle Beziehung zu einem älteren Jugendlichen ebenfalls mit 14 Jahren. Er wusste nun, warum er sich das alles angetan hatte und wollte seine Behandlung ambulant fortsetzen.
     Von einer angebotenen EMDR-Behandlung machte er keinen Gebrauch, wie er überhaupt in der Therapie seinen sehr eigenen Weg gegangen war und sich nur teilweise an die von uns vorgegebenen Schritte gehalten hatte. Die Eröffnung seiner vielfältigen Traumatisierungen erst am Ende der Therapie haben wir als Hinweis verstanden, dass er sich nicht völlig in unsere Hände begeben wollte, sondern – entsprechend seinen Autonomiebestrebungen – die Sache bis zum Schluss in seiner Hand behalten wollte.
     Ein Jahr später kam er zu Besuch. Er war in .einer guten Verfassung, hatte sein Abitur gemacht und wollte studieren. Seine Hobbys hatte er ausgebaut. Nach einer hautärztlichen Behandlung waren seine Narben nicht mehr zu sehen. Er war stolz und voller Zuversicht.

 

Jugendliche, insbesondere männliche Jugendliche, beenden häufiger die Behandlung vorzeitig. Oft ist die innere und äußere Trennung von den Eltern noch nicht möglich. Der vorzeitige Weggang erlaubt es, sich alle Möglichkeiten offen zu halten. Mitunter reicht es dem Jugendlichen, in seinen Alltagsvollzügen wieder ausreichend stabilisiert zu sein. Mit Recht erleben die Jugendlichen die Bearbeitung ihrer traumatischen Belastungen als zu destabilisierend. Für sie steht zunächst die äußere Entwicklung im Vordergrund. Hier spielen schulische und berufliche Perspektiven eine wichtige Rolle. Jugendliche beenden die Therapie auch dann vorzeitig, wenn sie bestimmten Wahrheiten über sich aus dem Weg gehen und sich beispielsweise über das Ausmaß ihrer Konflikte oder ihrer Drogenproblematik nicht klar werden wollen.« (S. 231-233)

Bewertende Bilanz:

»Trauma und Entwicklung« ist kein systematisch und durchsichtig gegliedertes Lehrbuch, das man wie ein Nachschlagewerk benutzen könnte. Das war auch offensichtlich nicht die Absicht der Autorin, im Gegenteil, ihr scheint daran gelegen zu sein, die verwirrende Komplexität der adoleszenten Störungen und die Vielfalt der damit befaßten theoretischen Konzepte unreduziert zur Geltung zu bringen. Ihr Werk imponiert durch seinen Reichtum an praktischen Erfahrungen und die sehr gründlichen fächer- sowie schulenübergreifenden wissenschaftlichen Kenntnisse

Kurt Eberhard  (August 2006)

 

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