FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 



Manfred Spitzer

Vorsicht Bildschirm!

Elektronische Medien, Gehirnentwicklung,
Gesundheit und Gesellschaft

Band 1 der Reihe »Transfer ins Leben«

Ernst-Klett-Verlag,  2005
(303 Seiten, 16.95 Euro)

Manfred Spitzer, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, ist ein seltener Stern am Firmament der deutschen Wissenschaft, umfassend gebildet, diplomiert in Psychologie, promoviert in Philosophie und Medizin, gleichwohl Spezialist auf dem Gebiet der Neurowissenschaft, renommiert im In- und Ausland. Darüber hinaus bekennt er sich zur gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers, leitet deshalb das von ihm gegründete »Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen« und gibt die Reihe »Transfer ins Leben« heraus, deren erster Band uns nun vorliegt. Seine Motivation für dieses Werk beschreibt er in der Einleitung wie folgt:
     "Aufgrund der Bildschirm-Medien wird es in Deutschland im Jahr 2020 jährlich etwa 40.000 Todesfälle durch Herzinfarkt, Gehirninfarkt, Lungenkrebs und Diabetes-Spätfolgen geben; hinzu kommen jährlich einige hundert zusätzliche Morde, einige tausend zusätzliche Vergewaltigungen und einige zehntausend zusätzliche Gewaltdelikte gegen Personen. Einige zehntausend zusätzlicher Fälle von Schulproblemen in Form von Aufmerksamkeits- und Lese-Rechtschreibstörungen erscheinen in diesem Licht fast harmlos. Diese Zahlen sind aus meiner Sicht vorsichtig geschätzt, stellen also eher die untere Grenze dessen dar, womit man rechnen muss. Und ich habe nur die unmittelbaren und leicht zähl- bzw. messbaren Folgen aufgelistet: Die unglücklichen, von ihren Freundinnen verlassenen dicken jungen Mädchen sind ebenso wenig erwähnt wie die ängstlichen jungen erwachsenen Frauen, die im Gefängnis sitzenden jungen Männer oder die Rollstuhl fahrenden älteren Männer mit Halbseitenlähmung oder die am Stock gehenden älteren Menschen mit Arthrosen der Hüft-, Knie- und Fußgelenke. Kurz: Weder sagen diese Zahlen etwas über die hinter ihnen stehenden Einzelschicksale, noch sind die meisten dieser bevorstehenden Einzelschicksale in den Zahlen überhaupt enthalten! Es ist deshalb unerlässlich, dass wir über die Auswirkungen der Bildschirm-Medien auf unsere körperliche und seelische Gesundheit - und vor allem die unserer Kinder - ernsthaft nachdenken.
     Warum also ein Buch über Bildschirm-Medien, geschrieben von einem Mediziner und Neurowissenschaftler? - Weil Bildschirme krank machen, weil sie sich auf die Leistungen in der Schule ungünstig auswirken und weil sie zu vermehrter Gewaltbereitschaft führen. Die Folgen haben wir alle zu tragen, und es wird Zeit, dass wir handeln. Wir dürfen nicht länger zuschauen!"

Die entschiedene Praxisorientierung zeigt sich schon in den Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses:
1. Einleitung
2. Körperliche Gesundheit
3. Erfahrung und Aufmerksamkeit
4. Gehirnentwicklung und Werbung
5. Leistungen in der Schule
6. Gewalt im Fernsehen
7. Computer- und Videospiele
8. Was tun?
Literatur [14 Seiten engzeilig!]
Register [Sachwort- und Personenverzeichnis]

Alle Kapitel werden mit Zusammenfassungen und Schlußfolgerungen abgeschlossen, aus denen die Textproben dieser dokumentierenden Rezension entnommen werden. Die in großer Zahl zusammengetragenen und sorgfältig ausgewerteten empirischen Befunde werden auf diese Weise allerdings nicht sichtbar.

Im zweiten Kapitel werden die Folgen übermäßigen Fernsehens für die körperliche Gesundheit (z.B. Übergewicht, erhöhter Cholestrinspiegel, Bluthochdruck, Diabetes etc.) ausführlich dargestellt mit folgendem Resumé:
   "Fernsehen führt dosisabhängig zu Übergewicht. Der Effekt ist auch dann noch vorhanden, wenn man andere Faktoren herausrechnet, und die Richtung der Verursachung ist eindeutig. Übergewicht und Dickleibigkeit haben in der westlichen Welt ein epidemieartiges Ausmaß erlangt und sind als wesentliche negative Einflussgrößen auf die Volksgesundheit erkannt. Sie stellen Risikofaktoren für eine ganze Reihe von Erkrankungen - insbesondere Herz-Kreislauferkrankungen - dar und begünstigen zudem die Entwicklung weiterer Risikofaktoren wie Fettstoffwechselstörungen (erhöhter Cholesterinspiegel) und Diabetes. Gerade die nahezu sprunghafte Zunahme der Fälle von Altersdiabetes bei Kindern und Jugendlichen ist nur als Effekt der erheblichen Zunahme des Übergewichts in diesen Altersgruppen zu erklären; und dies wiederum geht zu einem guten Teil auf das Konto des Medienkonsums.
     Studien zu den Auswirkungen des Fernsehkonsums in der Kindheit auf Übergewicht und weitere Risikofaktoren zeigen klare Zusammenhänge sowie eine Dosis-Wirkungsbeziehung: Je mehr ferngesehen wird, desto größer sind die ungünstigen Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und der späteren Erwachsenen. .....
     Allein durch den Fernsehkonsum von Kindern und Jugendlichen werden im Jahr 2020 in Deutschland etwa 20.000 Menschen an den Folgen von Übergewicht sterben, weitere 20.000 an den Folgen des Rauchens. Zehntausende werden unter erhöhtem Blutdruck, erhöhtem Cholesterinspiegel und Altersdiabetes (in jungen Jahren) sowie unter mangelndem Selbstwertgefühl, Depressionen und unter Gelenkbeschwerden im Bereich der Beine leiden." (S. 48/49)

Im dritten Kapitel werden der Einfluß der Erfahrungen auf die Entwicklung des Gehirns und die deformierenden Wirkungen von Bildschirmerfahrungen beschrieben mit folgendem Resultat:
     "Bildschirme liefern eine flache, verarmte Realität, insbesondere dann, wenn der Benutzer die Welt noch nicht kennt und Objekte oder Szenen beim Betrachten eines Bildschirms eben gerade nicht dauernd aufgrund von Vorerfahrungen ergänzen kann. Daher sind Bildschirme für kleine Kinder eher schädlich - unabhängig vom gerade dargebotenen Inhalt - wegen der Form der durch sie gelieferten Erfahrungen.
     Bildschirme liefern dem kleinen Kind weniger Struktur als wirkliche Realität. Man kann daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien (d.h. ein Konsum von Bildschirm-Medien über einen substantiellen Zeitraum im Vergleich zur Gesamtzeit der kindlichen Erfahrung) eine geringere bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht.
     Damit sind Bildschirme bei den ganz Kleinen aus ganz grundsätzlichen Überlegungen heraus schädlich. Dass dies nicht graue Theorie darstellt, zeigt der empirisch nachgewiesene Zusammenhang von Fernsehkonsum im Kleinkindalter und Aufmerksamkeitsstörung im Schulalter." (S. 90/91)

Um die nachhaltigen Wirkungen der Werbung verstehen zu können, erhält der Leser im vierten Kapitel eine kompakte Einführung in die Physiologie und Psychologie der Informationsverarbeitung. In der Zusammenfassung heißt es dann:
     "Das Gehirn jedes Menschen entwickelt sich vom Säuglings- zum Erwachsenenalter in ähnlicher Weise, wie sich das Gehirn des Menschen im Verlauf der Evolution entwickelt hat: Es kommen zunehmend komplexe Schichten hinzu, die jeweils den älteren, einfacheren aufgesattelt werden. In dem Maße, wie hochstufige Repräsentationen erfahrungsabhängig entstehen, verlieren niedrige Repräsentationen an Bedeutung. Das Kind bzw. der Jugendliche gerät damit zunehmend in die Lage, zielgerichtet und nicht nur reflexhaft zu handeln.
     Die jeweils ersten Spuren, die erfahrungsabhängig auf einer Karte der Gehirnrinde entstehen, sind sehr wichtig. Sie verfestigen sich und legen die Großstruktur der Karte fest. Frühe Erfahrungen sind daher von besonderer Bedeutung, sofern man 'früh' auf das jeweils heranreifende Areal der Gehirnrinde bezieht. Objekteigenschaften entstehen in den ersten Lebensjahren, Werte wahrscheinlich noch bis ins dritte Lebensjahrzehnt.
     Auf all diese Prozesse der Gehirnentwicklung trifft Werbung mit Dutzenden von Werbespots am Tag, Tausenden pro Jahr. Es wundert daher nicht, dass Inhalte der Werbung zum Bekanntesten gehören, was es in westlichen Kulturen gibt. Werbung vermittelt nicht nur (vermeintliche) Fakten und Kenntnisse, sondern auch Werte." (S. 120)

Wieder auf der Basis gründlicher empirischer Untersuchungen werden im fünften Kapitel die Effekte der Bildschirmmedien, insbes. des Fernsehens auf die Schulleistungen mit folgendem Gesamtergebnis referiert:
   "TV im Vorschulalter führt zu schlechteren Leistungen im Lesen und Schreiben in der Schule. Diese Effekte sind ganz offensichtlich dosisabhängig, denn sie lassen sich in der ersten Klasse noch nicht deutlich nachweisen, wohl aber zwei Jahre später.
Angesichts dieser Tatsachen kann man Eltern, die am Schulerfolg ihrer Nachkommen interessiert sind, nur dringend raten, den Fernsehkonsum sehr gut im Auge zu haben oder, wie Myrtek (2003, S. 458) sagt, 'rigoros zu kontrollieren'. Solange ein Fernsehgerät im Hause ist, wird man dann einen nicht unerheblichen Teil seiner Erziehungsbemühungen darauf richten müssen, über Fernsehkonsum - was, wie lange, wie oft - zu diskutieren. Fernsehen ist in der Tat nicht harmlos, sondern um so schädlicher, je jünger die Zuschauer sind." (S. 153/154)

Besonders heftig ist die öffentliche Diskussion, inwieweit Gewalt im Fernsehen die Gewaltbereitschaft seiner Konsumenten steigert. Spitzer kommt hier nach akribischer Sichtung der Forschungsergebnisse zu ganz klaren Ergebnissen: 
"Die Gewalt in den Medien schadet besonders jungen Kindern unter acht Jahren, da diese noch Schwierigkeiten haben, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Sie hat nachweislich eine ganze Reihe von Auswirkungen bei Kindern: Sie verstärkt Aggressivität und antisoziales Verhalten, verstärkt aber auch Ängste, selbst Opfer von Gewalttaten zu werden. Zudem desensibilisiert Gewalt in den Medien die Jugendlichen gegenüber realer Gewalt und Gewaltopfern. Schließlich führt Gewalt in den Medien zu einem 'verstärkten Appetit' auf mehr Gewalt im Unterhaltungsprogramm aber auch im realen Leben."

In einem gesonderten Kapitel über den Einfluß der Computer- und Videospiele auf die Persönlichkeitsentwicklung kommt der Verfasser ebenfalls zu eindeutigen Schlüssen:
     "Durch eine wachsende Zahl von Untersuchungen zu den Auswirkungen einer der bedeutendsten Freizeitbeschäftigungen der jüngeren Generation auf deren Gedanken, Gefühle und Verhalten wurde eindeutig nachgewiesen: Gewalt im Videospiel führt zu mehr Gewalt in der realen Welt.
     Die Mechanismen, auf denen diese Auswirkungen beruhen, sind vielfältig und lassen sich in erster Näherung in kurzfristige und langfristige unterscheiden. Kurzfristig bewirkt Gewalt in Computer- und Videospielen eine Steigerung der Erregung, die Gewalt wird imitiert, und es kommt zu einer Abstumpfung gegenüber realer Gewalt. Für das Denken, Fühlen und Handeln von Kindern und Jugendlichen wird Gewalt damit zum Normalfall, und die Fähigkeit zum Mitgefühl für andere nimmt ab. Langfristig kommt es durch den permanenten erfahrungs- bzw. gebrauchsabhängigen Umbau des Gehirns, d.h. durch Neuroplastizität, zum aktiven Einüben, Modelllernen sowie zum emotionalen und sozialen Lernen von Gewalt." (S. 241)

Im letzten Kapitel stellt sich der Autor der aktionalen Frage: 'Was tun?', und das Buch endet nach einer Fülle ganz praktischer Anregungen mit einem sehr eindringlichen Appell:
     "Wir können also durchaus etwas tun. Die Maßnahmen reichen von Verboten bestimmter Inhalte, der Aufklärung der Öffentlichkeit über die wirklichen Schäden (hierzu soll dieses Buch einen Beitrag leisten), über Appelle an jeden Einzelnen, den Konsum von Bildschirm-Medien einzuschränken, bis hin zur Besteuerung unerwünschter und langfristig schädlicher Programminhalte.
     Wozu wir uns auch immer entschließen, eines muss klar sein: Unsere Zukunft liegt in ökonomischer und sozialer Hinsicht in den Gehirnen der nächsten Generation. Wir haben keinen anderen Rohstoff für Wachstum, und es gibt keine andere Grundlage für Einstellungen und Werte. Wir können es uns nicht leisten, diesen Rohstoff in der Weise zu verschwenden, wie wir dies in der Vergangenheit getan haben. Vermüllte Köpfe bedrohen unsere zukünftige Existenz ebenso wie eine vermüllte Landschaft. Deswegen dürfen wir nicht länger zuschauen! (S. 284)

Bilanzierende Bewertung:
Spitzers Engagement ist überzeugend, seine Argumentation stringent, die Didaktik vorbildlich, so daß man nur hoffen kann, daß möglichst viele derer, die Kinder und Bildschirme in ihrer Wohnung beherbergen, sein Buch lesen, beachten und zu seiner zügigen Verbreitung beitragen.

Kurt Eberhard, April 2005

 

Onlinebestellung über unseren Partner

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken