FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 



Gerald Hüther und Inge Krens

Das Geheimnis der ersten neun Monate

Unsere frühesten Prägungen

Patmos-Verlag, 2005-02-26

(139 Seiten, 14.90 Euro)


Prof. Dr. Gerald Hüther ist Hochschullehrer für Neurobiologie an der Universität Göttingen und der bekannteste deutsche Neurowissenschaftler. (s. Die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen...; Kinder brauchen Wurzeln; Neues vom Zappelphilipp)

Dipl.-Psych. Inge Krens ist Psychologische Psychotherapeutin und anerkannte Expertin für pränatale Psychologie in Holland.

Das wesentliche Anliegen der Autoren ist, die vorgeburtliche Lebensphase als wichtige, wahrscheinlich prägendste Zeit der menschlichen Entwicklung zu begreifen:
"All diese [entwicklungspsychologischen] Erkenntnisse lassen sich in vier Sätzen zusammenfassen:

  1. Kinder sind zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung weitaus kompetenter, als wir bisher angenommen haben.
  2. Um sich optimal entwickeln zu können, brauchen sie die Erfahrung, willkommen zu sein und in den Eltern bzw. Pflegepersonen sichere Bindungspartner zu finden, die ihre Bedürfnisse in angemessener Weise beantworten.
  3. Sie suchen sich ihren Weg und erschließen sich die Welt aus eigenem Antrieb; und wir können ihnen dabei Mut machen, ihnen mögliche Wege zeigen und sie unterstützen, wenn sie allein (noch) nicht weiterkommen und sich zurechtfinden.
  4. Jeder Schritt auf dieser Entdeckungsreise wird durch all das bestimmt, was die Kinder im Verlauf ihres bisherigen Lebens bereits entdeckt und in ihrem Gehirn verankert haben.

Wirklich neu ist das, wovon dieses Buch handelt: All das gilt nicht erst nach, sondern ebenso bereits vor der Geburt. Das ganze Leben ist eine Entdeckungsreise. Vieles, was die Forscher in den letzten Jahren herausgefunden haben, spricht dafür, dass wir den spannendsten und aufregendsten Teil dieser Reise bereits hinter uns haben, wenn wir auf die Welt kommen." (S.13)

Die Hauptüberschriften der elf Kapitel des Buches:

  1. Einladung zu einer Entdeckungsreise.
  2. Aufbruch in eine unbekannte Welt.
  3. Die Lebenswelt des ungeborenen Kindes.
  4. Die Befruchtung
  5. Die ersten Entwicklungsschritte
  6. Die Entwicklung des Nervensystems
  7. Das Erwachen der Sinne
  8. Lernen von Anfang an
  9. Über sich hinauswachsen von Anfang an
  10. Verbunden sein und verbunden bleiben - von Anfang an
  11. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Das informativste Kapitel ist das achte, aus dem wir deshalb ausgiebig zitieren wollen (S. 94- 118):
"Das Kind ist von Beginn an auf »Beziehung«, »Kontakt« und damit auf »Lernen« ausgerichtet. Zum Beispiel ein sechs Monate alter Fötus: Da begegnet uns im Ultraschallbild ein kleines Kind, das zweifellos sehr menschlich aussieht und sich auch entsprechend verhält. Manchmal schwebt es friedlich im Fruchtwasser und lässt sich von den gleichmäßigen Geh-Bewegungen der Mutter in den Schlaf schaukeln. Manchmal schlägt es Purzelbäume und bewegt sich aufgeregt in der Gebärmutter hin und her. Wenn ihm etwas nicht gefällt, tritt es vehement gegen die Gebärmutterwand; wenn es sich bedroht fühlt, verzieht es sich in die hinterste Ecke. Es kann die Stirn runzeln, sich die Augen reiben und sich bei einem lauten Geräusch erschreckt zusammenziehen. .... Schon jetzt saugt es genüsslich an seinem Daumen, seinen Füßen oder Zehen. .... Und es reagiert auf die Gefühlszustände der Mutter: Wenn sie aufgeregt ist, ist es auch aufgeregt. Beruhigt sie sich, entspannt auch es sich. Wenn sie raucht, raucht es mit. Wenn sie Alkohol trinkt, nimmt auch das Kind Alkohol zu sich. ..... Mit Hilfe der dreidimensionalen Ultraschalltechnik .... ist sogar zu beobachten, dass das Kind ab der 26. Woche lächeln kann ..... Und man sieht Föten, die zwar nicht hörbar weinen, denn dazu bräuchten sie Luft aber sie zeigen dieselbe Mimik wie ein weinendes Kind."

"Wenn sich die Mutter z. B. ängstlich fühlt, werden vermehrt Stresshormone, wie Adrenalin und Kortisol ausgeschüttet. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, und möglicherweise wird die Sauerstoffzufuhr beeinträchtigt, weil Adrenalin die Blutgefäße der inneren Organe verengt. Alle Stresshormone überschreiten ohne Probleme die Plazentaschranke und stimulieren im Fötus die physiologische Reaktion auf genau dieses Gefühl von Angst und Furcht. Ob das Kind daraufhin Angst 'erlebt', wissen wir nicht. Wenn man seine Reaktion im Ultraschall beobachtet, dann bekommt man allerdings den Eindruck, dass sein kleiner Körper in gewisser logischer Weise auf diesen 'Angstreiz' reagiert. So wird von Föten berichtet, die unter solchen Bedingungen erstarren, andere strampeln wild um sich. .... Das gilt natürlich nicht nur für die Angst, sondern für die ganze Palette von Gefühlen der Mutter. Natürlich auch für so schöne Empfindungen wie Freude und Liebe."

"Neben der physiologischen Kommunikation durch die Nabelschnur geschieht das auch direkt: .... Über verschiedene Sinnesmodalitäten nimmt das Kind wahr, was die Mutter tut und wie sie sich fühlt. Ihre Befindlichkeit äußert sich z. B. in der Weise, wie sie sich bewegt: Ist sie niedergeschlagen, bewegt sie sich wahrscheinlich relativ wenig; steht sie unter Streß, bewegt sie sich eher fahrig, schnell und aufgeregt; ist sie ärgerlich, werden ihre Bewegungen vermutlich grob und ausladend; ist sie zufrieden, bleiben sie eher leicht und koordiniert. .... Die Beziehung zur Mutter wird auch durch die mütterliche Stimme vermittelt, die aus ihrer Welt in die des ungeborenen Kindes vordringt. .... Ultraschallbeobachtungen vermitteln den Eindruck. dass das Kind im Mutterleib bereits unterschiedlich auf freundliche oder aggressive Stimmen reagiert."

"Es scheint Wahrnehmungen zu geben, die so früh gemacht werden oder die so fremd und übermächtig sind, dass es im Gehirn des ungeborenen Kindes nicht gelingt, sie in irgendeiner Weise an das bereits vorhandene Wissen anzuknüpfen und in die bereits entwickelten Verschaltungsmuster zu integrieren. Das gilt vor allem für heftige Angst- und Stressreaktionen der Mutter .... Aber auch Mangelernährung und die Einnahme von Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Koffein oder von Medikamenten, die ja alle zu einer veränderten Bereitstellung und Ausschüttung bestimmter Boten- und Signalstoffe im Gehirn des Embryos führen, sind für das ungeborene Kind 'Störungen', die es selbst weder abstellen noch vermeiden kann. ....
Immer dann, wenn sich eine eingetretene Störung nicht abstellen lässt, passt sich die weitere Ausreifung und Strukturierung des Gehirns an die fortdauernde oder immer wieder auftretende Störung an. .... So knüpft es z. B. im Fall einer fortdauernden Übererregung entsprechend mehr hemmende und weniger erregende synaptische Verbindungen, erhöht die Schwellen für die Aktivierung erregender Regelkreise und aktiviert entsprechend hemmende Regelkreise. .... Sinkt das Erregungsniveau später aus irgendeinem Grund wieder ab und wird also wieder 'normaler', .... so wird der Wegfall dessen, was bisher da war und an das sich das Gehirn inzwischen angepasst hat, nun seinerseits zu einer Störung. .... So 'erzeugt' es nun selbst durch seine eigenen Aktivitäten genau das Ausmaß an innerer Unruhe, das es als 'Normalfall' bisher kennen gelernt hat. Es wird so möglicherweise zu einem 'unruhigen Kind.'"

"In manchen Fällen reagieren die Jungen [von Versuchstieren, die in der Schwangerschaft unter Streß gesetzt worden waren] zeitlebens empfindlicher, ängstlicher und vorsichtiger auf Neues, in anderen Fällen zeigen sie ein eher gleichgültiges, unempfindliches und robusteres Verhalten. Auch sehr unkontrollierte, impulsive Verhaltensweisen und eine geringe Frustrationstoleranz werden nach bestimmten Vorbelastungen während der Schwangerschaft häufig beobachtet. Die spätere Stressempfindlichkeit kann durch solche vorgeburtlichen Einflüsse entweder erhöht oder vermindert sein."

"Aus all diesen unterschiedlichen Beobachtungen und Befunden lässt sich eine allgemeine Schlussfolgerung ableiten: Die im Gehirn des ungeborenen Kindes ablaufenden Reifungs- und Strukturierungsprozesse sind durch psychische und physische Belastungen der Mutter während der Schwangerschaft beeinflussbar. Die sich im Gehirn des ungeborenen Kindes herausbildenden Nervenzellverschaltungen, Netzwerke und komplexen Verschaltungsmuster passen sich an die durch Störungen während der Schwangerschaft regelmäßig auftretenden Veränderungen der im Hirn aufgebauten Erregungsmuster und allgemeinen Erregungszustände an. Als Folge dieser Anpassungen kommt es zu Veränderungen der Schwellen, die bestimmend dafür sind, wie stark sich eine später durch neue Wahrnehmungen entstehende Erregung innerhalb des Gehirns ausbreiten kann, d. h. wie leicht oder wie schwer die emotionalen Zentren des limbischen Systems im späteren Leben durch neue Erfahrungen aktivierbar sind. ....
Beides kann ihnen im späteren Leben sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil gereichen. Vor allem dann, wenn diese Erregungsmuster zu stark verschoben sind, ist es möglich, dass die betreffenden Kinder mit ihrer besonderen Veranlagung bei ihren Eltern und Erziehern, aber auch im Kontakt mit anderen Kindern auf Unverständnis oder gar Ablehnung stoßen. Dann freilich können sie in einen Teufelskreis aus Ablehnung, Zurückweisung, Misserfolgserfahrungen und Frustration geraten, der, je länger er anhält, desto bestimmender für die weitere Lebensbewältigung und damit auch für die weitere Strukturierung ihres Gehirns werden kann."

Im neunten Kapitel wird aus den vorbeschriebenen Erkenntnissen eine für die soziale Praxis eminent wichtige Konsequenz gezogen:
"Weil das Fundament, auf dem sie stehen, so dünn und brüchig ist, brechen solche Kinder im späteren Leben allzu leicht ein. Dann brauchen sie Förderungsprogramme zur Verbesserung ihrer kognitiven Leistungen und Therapieprogramme zur Stärkung ihrer Seelen. Was diesen Kindern dann am meisten hilft, ist jedoch selten ein von außen aufgenötigtes Programm. Was sie brauchen, ist eine geschützte Umgebung und eine Sicherheit bietende emotionale Beziehung, in der es ihnen gelingt, wieder an die alte, von allen Menschen trotz vielfältiger Störungen bereits im Mutterleib gemachte Erfahrung anzuknüpfen, sie wiederzuentdecken und diesmal für das weitere Leben zu festigen: die sehr früh gebahnte Erfahrung, dass es im Leben möglich ist, über sich hinauszuwachsen." (S. 118)

Vergleicht man diese Schlußfolgerung mit den gegenwärtigen Tendenzen im Pflegekinderwesen (Ergänzungsfamilienmodell, Forcierung der Rückkehroption und der Umgangskontakte mit der traumatisierenden Herkunftsfamilie, Abschaffung der mit Planungssicherheit ausgestatteten Heilpädagogischen Pflegefamilie etc), dann scheint die zunehmende Kluft zwischen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und sozialpolitischer Wirklichkeit kaum noch überbrückbar zu sein. Aber vielleicht kommen uns angesichts der steigenden Heimkosten die staatlichen Kassenwarte zu Hilfe.

Bilanzierende Bewertung:
Formal und didaktisch leidet das Buch unter einigen peinlichen Schwächen: es enthält keine einzige Abbildung, Graphik oder Tabelle, auch kein Sachwortregister und verzichtet sogar durchgehend auf Quellenangaben. Inhaltlich aber hat es viel zu bieten: den physiologischen und psychologischen Blick in die vorgeburtliche Entwicklungsgeschichte mit ihren schicksalhaften Chancen und Risiken, die leicht lesbare Einführung in die modernen neuropsychologischen Forschungsresultate und die daraus hergeleiteten Konsequenzen für die familiäre und gesellschaftliche Praxis.
Dieses Buch können wir allen privaten und öffentlichen Erziehern, Sozialpädagogen, Psychologen, Kinderärzten, Sozialpolitikern und besonders natürlich allen schwangeren Frauen sehr nachdrücklich empfehlen!

Kurt Eberhard  (März, 2005)

 

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