FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 



Thomas Quasthoff

Die Stimme
Autobiografie


Ullstein, 2004 (2. Aufl.)
(336 Seiten, 24 Euro)

 

Thomas Quasthoff ist Professor für Musik an der Hochschule ‚Hanns-Eisler’ in Berlin und einer der ungewöhnlichsten Sänger der Gegenwart. Die CD-Veröffentlichungen des Bariton werden regelmäßig von der internationalen Fachpresse ausgezeichnet, und er hat mehrere hoch angesehene Preise gewonnen. Seine Mutter nahm während der Schwangerschaft das Beruhigungsmittel Contergan, deshalb ist Thomas Quasthoff körperbehindert.

Seine Biografie liefert Blicke hinter die Kulissen der Musik- und Künstlerszene, berichtet von  dem dornenreichen Weg des Autors bis zum heutigen Ruhm sowie von seinem Talent und unermüdlichem Fleiß. Seine Gabe ist die Stimme.

Beachtenswert sind die sozialpolitischen Diagnosen des scharf denkenden Kritikers. Seiner Mutter hätte das Medikament Contergan während der Schwangerschaft nie verschrieben werden dürfen, weil es ausreichend Hinweise auf die schädlichen Nebenwirkungen gab. Der Hersteller Grünenthal ließ Kritiker jedoch juristisch verfolgen. Die Beweislast war erdrückend, und die Opfer wurden mit niedrigen Summen abgespeist. 
„Gegen den Beschluss des Bundesgesundheitsministeriums, Medikamente künftig besser auf derartige Risiken zu prüfen, legt die Firma mithilfe des Pharmaverbandes erfolgreich ihr Veto ein... Als die sozialliberale Regierung sich erneut an einer Novellierung des Arzneimittelgesetzes versucht, droht die Pharma-Lobby, ’dass wir alle uns zu Gebote stehenden Möglichkeiten der Einflussnahme ausschöpfen’. Details sind einem Dossier zu entnehmen, das man im Schweizer Banksafe des FDP-Mannes Hans-Otto Scholl...findet... Es enthält Zahlen und ein dickes Namensregister, darunter Bonner Prominez wie Alfred Dregger oder Martin Bangemann.... Alle kassierten Wahlkampfspenden oder Schmiergelder...“ (S.55f.)

Eineinhalb Jahre der frühen Kindheit verbringt Thomas Quasthoff getrennt von seinen Eltern im orthopädischen Rehabilitationszentrum ‚Annastift’. Im Alter von 6 Jahren muss er die erneute Trennung von seinen Eltern erleben. Diesmal kommt er ins Internat des Stiftes. Der Forderung seines Vaters auf Regelbeschulung wird nicht nachgekommen, weil „...ein Kind mit diesem Maß an Behinderung jeden Pädagogen und den gesamten Lehrbetrieb zwangsläufig überfordern muss.“ Schonungslos verurteilt Thomas Quasthoff die  Bemühungen der sonderpädagogischen Fachkräfte und die unmenschlichen Lebensbedingungen im Internat:
„In der 1b wartet Fräulein Neddermeyer. Sie ist jung, sympathisch und gesegnet mit Güte und wahrer Engelsgeduld. Aber das nützt ihr nichts. Denn man hat ihr zwei Mal Contergan, vier Mal Muskelschwund und fünf Spastiker vor die Nase gesetzt. Eine dem stringenten Lehrbetrieb eher hinderliche Mischung. Die Spastiker sind nicht dumm, aber etwas langsam, weil ihr Nerven- und Sprachzentrum durch krampfartige Blockaden beeinträchtigt wird. Sobald Fräulein Neddermeyer versucht, ihnen die Mysterien des Dezimalsystems zu entschlüsseln, bohrt der Rest der Klasse gelangweilt in der Nase. Das sind die guten Tage. An schlechten Tagen toben wir herum, spielen Fangen und tun so, als wäre die Neddermeyer gar nicht vorhanden. Passt sie das Tempo uns Contergankindern an, ramentern die Spastiker in den Bänken, weil sie nur Bahnhof verstehen. Oft werden sie dabei aus der Bahn geworfen, entweder durch ihre chronischen motorischen Störungen oder von einem epileptischen Anfall. Mit anderen Worten: Die 1b stellt vorrangig lebende Bilder einer sonderpädagogischen Sackgasse.
     Nachmittags auf dem Zimmer findet die Freakshow ihre Fortsetzung. Nur in größerer Besetzung. Die Spastiker wühlen jetzt in einer am Fenster lieblos aufgeschütteten Halde Legosteine, die Autisten streifen kopfwackelnd durch ein Paralleluniversum, die Epileptiker sind die Epileptiker und spucken ab und an mit zuckenden Gliedern Schaum, die Dementen sind unberechenbar, während das Contergan mit dem Muskelschwund um die Hackordnung rangelt. Da muss eine halbe Portion sehen, wo sie bleibt. Ich lege mir schnell ein ziemlich großes Mundwerk zu und wappne mich mit einem Panzer aus Gleichmut. Es gibt ja keine Ruhe, keinen Rückzugsraum, keine Minute Privatheit. Dem Gros meiner Kameraden macht das wenig aus. Sie kennen nichts anderes. Ihre Eltern haben dem gesunden deutschen Volksempfinden Tribut gezollt und den missratenen Nachwuchs gleich nach der Geburt im Annastift zur lebenslangen Verwahrung eingelagert. Es gibt auch eine Lagerkommandantin: Stationsvorsteherin Müller. Wir nennen sie nur Frau Mahlzahn, weil sie genauso böse, verschlagen und rachsüchtig ist wie der Drache...
   Die Müller ist eine ausgemachte Sadistin. Und wie alle Sadisten hasst sie Menschen, die widersprechen, die vor ihr nicht gleich zu Kreuze kriechen. Frau Mahlzahn hat mich gefressen. Vom ersten Tag an...
   ‚Ich mache noch ganz andere Sachen’ sagt Frau Mahlzahn und sperrt mich in die Besenkammer. Sie nimmt mir mein Tonband weg, weil es zu laut ist, konfisziert Süßigkeiten, weil sie angeblich ungesund sind, sie verbietet mir, mit Mama zu telefonieren. Sie sagt, du brauchst nicht zu petzen, deine Mutter ist weit weg, ich werde dir die Renitenz schon austreiben...
   Ihr Disziplinierungskatalog besteht aus purer Gemeinheit. An der Tagesordnung sind vierundzwanzig Stunden ohne Essen und das Gurgeln mit Salzwasser.... bis einem die Lake vollständig in den Magen gelaufen ist.... Wen sie richtig auf dem Kieker hat, den lässt sie abends im Bett festschnallen. Anschließend wird der Delinquent aus dem Zimmer gerollt und die ganze Nacht auf dem hell erleuchteten Flur abgestellt.“ (S. 77f.)

Glücklicherweise gelingt es den Eltern 1967 eine Regelschule zu finden, die – gegen das Votum des Internatsleiters und weitere bürokratische Hürden – Thomas Quasthoff aufnimmt. Und: Es geht nicht schief, aber herbe Enttäuschungen bleiben ihm nicht erspart:
„In der Schule werde ich unsanft daran erinnert, dass Kunst die bitteren Realitäten bestenfalls veredeln, aber niemals verdrängen kann. Besonders hart, weil völlig unvorbereitet, trifft mich eine Geschichte, die sich im Schulchor zuträgt. Ich bin Mitglied seit der sechsten Klasse und habe immer mit Begeisterung am Notenpult gestanden. Nicht nur wegen der Musik. Der Schulchor ist anders als ein Sportplatz oder der Fetenkeller ein Ort, an dem ich das Gefühl habe, als Gleicher unter Gleichen anzutreten, wo es keine Rolle spielt, ob jemand groß oder klein, schön oder hässlich, normal oder behindert ist, was zählt, ist allein die Stimme. Das ändert sich nicht einmal während der Pubertät, als mich mit einsetzendem Bartwuchs auch der große Blues befällt.
   Eines Tages höre ich zufällig, wie zwei Mädchen über eine bevorstehende Probenfreizeit reden, die Chor und Schulorchester zwei Wochen lang ins finnische Rovaniemi führen wird. Ich bin völlig aus dem Häuschen vor Glück. Zum ersten Mal kann ich ohne meine Eltern verreisen  - und dann gleich bis ans Nordkap, wo die Lappen, die Indianer Europas, wohnen und ihre Rentiere unter dem Polarlicht zwischen unendlichen Wäldern und glitzernden Seen umhertreiben.
   Schnurstracks eile ich zu Chorleiter Rabe, um mich nach den Einzelheiten zu erkundigen. Was man bezahlen und um wie viel Taschengeld ich meine Eltern bitten muss, ob man einen Reisepass braucht, wann es denn losgeht und so weiter und so fort. Rabe wird kreideweiß, druckst minutenlang herum, dann eröffnet er mir: ’Wir fahren übermorgen, aber mit deiner Teilnahme gibt es Schwierigkeiten.’
’Warum denn?’
’Das hat mit der Versicherung zu tun’, sagt Rabe einsilbig, klemmt seine Jutetasche unter den Arm und macht sich eilends davon...
Von diesem Tiefschlag habe ich mich lange nicht erholt.“ (S.121 f.)

Mit ähnlichen Widrigkeiten bis hin zu feindseliger Ablehnung hat der Autor immer wieder zu kämpfen. Die wichtigste Hilfe waren seine Eltern: „....durch meine Behinderung ist zwischen uns eine fast symbiotische Beziehung entstanden, ohne die ich es niemals geschafft hätte, all die Schwierigkeiten im Annastift und in der Schulzeit zu überwinden.“ (S.128)

Erfreulicherweise gibt es genügend Menschen, die Thomas Quasthoff freundschaftlich zugeneigt sind, des Weiteren ist er im Berufsleben erfolgreich und vor allen Dingen verliert er nicht den Humor. Nach einem abgebrochenen Jurastudium landet Thomas Quasthoff beim Rundfunk.
„Ich werde anfangs nach Stunden bezahlt, später erhalte ich einen Vertrag über eine halbe Stelle und kann in der Sparkasse kündigen... Ich darf sogar Musiksendungen moderieren und – einsamer Höhepunkt meiner Rundfunklaufbahn – neben Will Quadflieg und Hans Paetsch in Hörspielen mitspielen.
   Dann kommt der Tag, an dem ich meine erste Nachrichtensendung zu lesen habe. Es wird ein schwarzer Tag. Schuld ist die letzte Meldung vor dem Wetterbericht. Es geht um einen Unfall. Der Sachverhalt ist hochkomplex und von Redakteur Hellmann mit akribischer Detailfreude niedergelegt worden. Ein Lastwagenfahrer hat eine vierundachtzigjährige Frau überfahren. Nicht einmal, sondern dreimal. Das heißt, er hat sie einmal überrollt, dann hat er gebremst, weil er dachte, halt, da war doch was. Aber anstatt nachzusehen, setzte er zurück und malträtierte die Frau zum zweiten Mal. Wäre der Dummkopf diesmal ausgestiegen, hätte man das Schlimmste noch verhüten können. Das tut er aber nicht, sondern schaut nur aus dem Fenster. Da das Unfallopfer zu allem Unglück im toten Winkel liegt, kurbelt er das Fenster seelenruhig wieder hoch, gibt Gas und der Sache damit die finale Wendung, indem er sein vierachsiges Gespann zum dritten Mal, nun aber in ganzer Länge, über die Frau hinwegbrummen lässt. Das ist natürlich eine sehr traurige Geschichte. Und ich habe nie verstanden, warum den Redakteur Hellmann, der mit mir im Studio sitzt, ausgerechnet jetzt ein irrer Lachanfall heimsucht. Tatsache ist, er kann die Attacke einfach nicht unterdrücken, er kann gar nicht mehr aufhören zu lachen. Und das hat eine höchst ansteckende Wirkung. Die Inkubationszeit ist kurz. Noch vor dem Wetterbericht kann ich ebenfalls nicht mehr an mich halten und sacke prustend zusammen. Stöhnend entringt sich mir das Unwort ‚Scheiße’.
   Man hört es laut und deutlich von Helmstedt bis Osnabrück, von Flensburg bis Holzminden...Hellmann und ich haben wieder gemeinsamen Dienst in der Morgensendung. Als Hellmann eine Meldung über Kanzler Helmut Kohl verliest, reitet mich der Racheteufel. Am Ende knödele ich, die Stimme Kohls imitierend: ‚Stimmt ja überhaupt nich´.’ Darauf brüllt nicht nur Hellman, sondern auch die gesamte Technik vor Lachen – und wahrscheinlich wieder halb Norddeutschland.“ (S. 134 f.)

Neben dem Job beim Rundfunk bleibt genügend Zeit, sich dem Gesang zu widmen und an Wettbewerben teilzunehmen. Von schlechten Kritiken lässt sich Thomas Quasthoff nicht entmutigen:
„Die Bunte schießt den Vogel ab. Unter der etwas legasthenischen Überschrift ‚Contergan, Fall 1600: Singt sich zur Weltspitze hoch’ resümiert ein Anonymus: Er singt, ‚als ob Gott einen Betriebsunfall wieder gut machen wollte.’
   Doch solche Lästerlichkeiten lässt der Herr nicht ungestraft. Als ich im November wieder nach München fahre, um mit Peter im Herkulessaal die Winterreise aufzuführen, gibt es die ersten Dämpfer für das frisch gebackene Top-Genie... in der Abendzeitung wird das Fehlen ‚jeglicher Dramatik’ vermerkt. Einen schmerzhaften Uppercut landet Hans Joachim Kaiser, der verehrte Kritikerpapst von der Süddeutschen. ‚Ihm fehlen Ausdruckskraft, Passion, Wildheit’, vor allem mangele es an Gestaltungskraft.... Natürlich hat mich das im ersten Moment ein wenig geärgert. Dann habe ich mir gedacht: Gestern war ich eine Probe des Herrn, heute bringt mich der große Kaiser wieder auf Normalmaß. Darauf lässt sich doch aufbauen.“ (S.141 f.). 

Dieses Buch kann alle Behinderten und ihre Mitmenschen ermutigen, wie Thomas Quasthoff die persönlichen Ressourcen aufzuspüren und mit ihrer Hilfe die  Kompensationskräfte zur Emanzipation zu nutzen, möglichst mit begleitender kritischer Selbstreflexion, die man bei dem Autor allerdings zuweilen vermisst. Das Buch ist lesenwert für alle, die in diesem Metier tätig sind, aber auch für alle, die als private oder professionelle Helfer beeinträchtigte Menschen begleiten. Darüber hinaus ist die Biografie ein überzeugendes Plädoyer für glaubwürdige statt mitleidige Integrationsarbeit und gegen die meist sehr subtilen Aussonderungspraktiken, die viel gravierender behindern als die Behinderung selbst.

Christoph Malter (Feb., 2005)

 

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