FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2004

 

Briefwechsel mit dem Jugendpolitischen Sprecher der CDU Fraktion wegen Begutachtungen von Pflegekindern

 

Dipl.-Päd. Luisa Umlauf
Dorfstraße 32
13597 Berlin
35139395



Sehr geehrter Herr Steuer,

vielleicht erinnern Sie sich an das kurze Gespräch, das Sie mit mir im Anschluss an die Ausschusssitzung am 22.1.2004 zum Thema der geplanten jährlichen Begutachtungen von heilpädagogischen Pflegekindern geführt haben.

Ihre Anregungen haben mich veranlasst, mich mit dem Thema eingehender in der Literatur zu befassen1; vor allem mit dem Buch von Frau Michaela Huber: "Trauma und die Folgen" (2003). Es bietet vermutlich die umfassendste aktuelle Aufarbeitung aller Erkenntnisse zu diesem Thema. Frau Huber ist Mitbegründerin des Zentrums für Psychotraumatologie in Kassel und arbeitet und veröffentlicht seit Jahrzehnten zu dieser Thematik. Die Literaturliste von "Trauma und die Folgen" umfasst ca. 800 Titel, und dies sind nur die wichtigsten.

Hier die m.E. wichtigsten Ergebnisse, bezogen auf das Problem der jährlichen Begutachtungen:

1. Das Thema der traumatischen Erfahrungen und ihrer langfristigen Folgen wird in der Gesellschaft weitestgehend verdrängt, insbesondere auch bei Experten und Entscheidungsträgern. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass nur etwa jeder tausendste Täter verurteilt wird, faktisch also Misshandlungen straffrei bleiben.

2. Die Folgen traumatischer Erfahrungen werden sehr häufig falsch diagnostiziert mit fatalen Konsequenzen für die Betroffenen.

3. Die Folgen traumatischer Erfahrungen hinterlassen nicht nur verheerende psychische, sondern nachweislich auch gravierende hirnorganische Beeinträchtigungen und ggf. weitere psychische und somatische Folgestörungen wie z.B. Herz-Kreislauferkrankungen, erhöhte Unfallneigung usw. So ist z.B. die Häufigkeit der Suizidversuche achtmal so hoch wie bei der übrigen Bevölkerung.

4. Die Störungen des Bindungs- und Arbeitsverhaltens sind bei chronisch traumatisierten Menschen umso schwerer therapierbar, je früher diese Traumatisierungen einsetzten und je länger sie anhielten, und je näher der oder die Täter dem Opfer standen.

5. Eine schwere Akutsymptomatik stellt einen wichtigen Vorhersagewert für eine langfristige PTSD (Posttraumatische Stressverarbeitungs-Störung) dar, insbesondere wenn weitere Risikofaktoren wie z.B. Destabilisierung der Lebensumstände hinzukommen.

6. Die therapeutische Prognose für früh und chronisch traumatisierte Menschen ist eher ungünstig. Insbesondere die Bindungsstörungen erweisen sich als weitgehend therapieresistent.

7. Zu den Folgen früher chronischer Traumatisierung gehören die Grundüberzeugung, keine lebenswerte Zukunft zu haben, desorganisiertes und desorientiertes Bindungsverhalten und die Unfähigkeit zur Empathie.

8. Das Verhalten von Erwachsenen chronisch traumatisierten Kindern gegenüber sollte konsequent, vorhersagbar und wiederholend sein. Es muss dem emotionalen Alter des Kindes angepasst sein, nicht seinem chronologischen. (Es kommt zu erheblichen Entwicklungsverzögerungen bzw. bestimmte Entwicklungen werden gar nicht vollzogen.) Diese Kinder reagieren besonders empfindlich auf Veränderungen und unübersichtliche Situationen.

9. Mangelnde soziale Unterstützung, mangelnde Anerkennung des Traumas durch andere und sekundäre Stressfaktoren wie Schulwechsel, Umzug, Zerstörung des Zuhauses und finanzielle Probleme erhöhen das Risiko der Re-Chronifizierung bereits verschwundener oder gebesserter Symptome.

10. Ohne Bindungssicherheit und gesicherte Zukunftsperspektive ist wiederum kein Neugierverhalten zu erwarten, was sich negativ auf den Schulerfolg auswirkt.

11. Auch unsicher und desorientiert gebundene Menschen können später "sichere Bindung" lernen. Voraussetzung dafür wie für jegliche therapeutische Arbeit ist eine langfristige und zuverlässige Stabilität der Lebensumstände und Lebensperspektive.

Im übrigen gelten in allen wissenschaftlichen Bereichen die Ergebnisse von Untersuchungen, die den Untersuchungsgegenstand beeinflussen, als wertlos.

Aus all diesen Ergebnissen ziehe ich den Schluss, dass die Frage nicht lauten kann:

Gibt es heilpädagogische Kinder, die nach einer gewissen Zeit und Förderung keine heilpädagogischen mehr sind, und wie können wir sie herausfinden, um Förderung abzubauen? -

Sondern: Welche Konsequenzen ziehen wir daraus, wenn wir ein nach zweifelhaften Kriterien evtl. nicht mehr heilpädagogisches Kind möglicherweise gefunden haben, um der Mehrzahl der verbliebenen heilpädagogischen Kinder schädigenden Belastungen von Amts wegen zuzumuten?

Ich möchte mich noch einmal ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie in der Wachsamkeit für die Interessen der Pflegekinder nicht nachlassen und die Thematik in eine weitere Ausschusssitzung am 25.3.2004 einbringen. Ich hoffe sehr, dass ich dazu beitragen konnte, Ihnen gute Argumente zu liefern.

Mit freundlichen Grüßen
Luisa Umlauf

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Sehr geehrte Frau Umlauf,

vielen Dank für Ihre Anregungen. Wir werden das Thema erneut auf der Sitzung des nächsten Jugendausschusses behandeln, dann als ordentlichen Tagesordnungspunkt.

Mit freundlichem Gruß
Sascha Steuer
Jugendpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion

 

 

 

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