Während einerseits die depressiven Verstimmungen immer mehr zunehmen, ist andererseits die Depressionsforschung in einer schwierigen Sackgasse gelandet: unter dem Depressionsbegriff haben sich so unterschiedliche Störungen angesammelt, daß man sie erst einmal in Untergruppen sortieren muß, bevor man sinnvoll nach deren Merkmalen, Ursachen und Therapiemöglichkeiten fragen kann. Genau das haben Gudrun und Kurt Eberhard von der Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie getan. Sie haben die Lebensgeschichten ihrer zahlreichen Depressionspatienten miteinander verglichen und zehn deutlich verschiedene Verlaufstypen gefunden: · Vereinsamte Depressivität aus ungetrösteter Trauer · Erschöpfungsdepressivität aus überfordernden Notlagen · Klaglose Depressivität aus hingenommener Ohnmacht · Dissoziale Depressivität aus emotionaler Deprivation · Selbstverachtende Depressivität aus oraler Fixierung · Regressive Depressivität aus dekompensierter Überanpassung · Demonstrative Depressivität aus histrionischer Persönlichkeitsentwicklung · Autodestruktive Depressivität aus verinnerlichten Ambivalenzkonflikten · Leere Depressivität aus unerfülltem Narzißmus · Larvierte Depressivität aus internalisiertem Depressionsverbot. Für jeden dieser Depressionstypen fand sich in der wissenschaftlichen Fachliteratur eine überzeugende Entstehungstheorie mit typspezifischen Therapievorschlägen. Weil die Autoren die Lebensgeschichten ihrer Patienten nicht veröffentlichen dürfen, sahen sie sich in der Romanliteratur um und fanden bei den großen Meistern der Psychographie (Theodor Fontane, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Hermann Hesse, Iwan Gontscharow, John Updike u.a.m.) Romanfiguren, die bis in die kleinsten Details den in der therapeutischen Praxis gefundenen Depressionstypen entsprechen - nur viel überzeugender portraitiert, als sie es selbst je vermocht hätten. Die Eberhards lassen die Romanciers ausgiebig zu Wort kommen, und so entstand ein Lesebuch der depressiven Verstimmungen, das in ästhetischer Anschaulichkeit und Erkenntnisdichte kaum zu überbieten ist. Denn, so lehrt eine alte Weisheit: „Wer die Schönheit sucht, wird die Wahrheit finden“ - auch wenn sie manchmal ziemlich häßlich ist! Was hat das alles mit Pflegekindern zu tun? Nun, sie sind durch ihre Benachteiligungen ebenfalls von Depressionen bedroht. Sogar unter den bissigsten Verhaltensstörungen versteckt sich häufig eine „dissoziale Depressivität aus emotionaler Deprivation“. Je klarer das gesehen wird, desto besser sind sie vor Kriminalisierung geschützt und desto eher wird ihnen Therapie statt Strafe zugebilligt. (s. Typologie der depressiven Verstimmungen)
Christoph Malter (Okt. 00)
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