FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Veröffentlichungen / sozialppädagogische Fabeln

 

Die Wasseraffen


In Afrika gibt es Seen, die so groß sind, daß Ihr auch bei klarem Wetter nicht das andere Ufer sehen könnt.

An einem dieser Seen wohnte vor vielen Hunderttausend Jahren eine Horde Affen. Eigentlich hätten sie lieber im Urwald gelebt. Weil es aber von Jahr zu Jahr immer heißer geworden war, vertrockneten die Wälder zu Steppen und die Steppen zu Wüsten. Ihre Vorfahren waren deshalb an den großen See ausgewichen. Dort fanden sie Nahrung und konnten sich den ganzen Tag lang im kühlen Wasser aufhalten. Anders war die furchtbare Hitze kaum zu ertragen.

Über die Jahrhunderte hinweg hatten sie - wie die meisten Landtiere, die ins Wasser umgezogen sind - ihr Fell verloren und waren nackt geworden. Um so mehr Haare hatten sie auf dem Kopf. Das war bei der Hitze auch gut so.

Sie hatten sicher schwimmen gelernt. Zwischen den Fingern und den Zehen begannen sich sogar Schwimmhäute zu entwickeln. Wenn sie nicht schwammen, liefen sie auf den Hinterbeinen im Wasser umher, um mit ihren Affenhänden eßbare Pflanzen und Tiere zu erhaschen.

 

Im Wasser konnten sie sich aber nicht mehr mit Händen und Beinen verständigen, weil jeder nur den Kopf des anderen sah. Also mußten sie die Gesichter bewegen und mit dem Mund Geräusche machen. Wenn jemand einen anderen „Au!“ schreien hörte, dann wußte er, daß jener auf eine spitze Muschel getreten war oder aus einem anderen Grund Schmerzen hatte, denn wenn er selbst „Au!“ schrie, war es ebenso.

In der Affenhorde lebte ein Affenmädchen, das besonders neugierig war. Wir wollen es Eva nennen, obgleich es damals vermutlich noch keine Namen gab. Um möglichst weit in den See hineingehen zu können, reckte Eva sich hoch empor und ging auf Zehenspitzen so tief in das Wasser, wie es irgend möglich war.

Auch am Ufer lief sie meistens auf zwei Beinen. Sie konnte auf diese Weise zwar nicht so schnell rennen wie die anderen, dafür aber mit den Händen die im See gesammelten Muscheln in die Schlafhöhle tragen. Die anderen vertilgten sie gleich im Wasser und hatten dann in der Schlafhöhle nichts zu essen.

Als Eva herangewachsen war, verliebte sie sich in die männlichen Wasseraffen und die männlichen Wasseraffen in sie. Es war üblich bei den Wasseraffen, daß sich alle Jungen in alle Mädchen verliebten und umgekehrt, wenn die Zeit dafür heran war.

Bald wurden alle herangewachsenen Mädchen schwanger. Auch Eva war schwanger geworden, aber leider hatte sie Pech: viel zu früh, nämlich schon nach neun Monaten, kam ihr Baby zur Welt. Das hatte sie davon, daß sie immer so viel aufrecht herumlief.

Solche Frühgeburten waren in letzter Zeit schon häufiger vorgekommen. Die Frühbabys konnten sich nicht richtig in den Kopfhaaren ihrer Mutter festhalten. Ein Körperfell zum Festhalten gab es ja ohnehin nicht mehr. Überhaupt waren die Frühbabys furchtbar hilflos und konnten deshalb nicht überleben.

Auch Evas Baby starb, und sie weinte bitterlich. Das sah ein Männchen, das dafür bekannt war, sich um Affen zu kümmern, wenn sie traurig waren. Wir wollen es Adam nennen. Ihr wißt schon warum. Adam lief zu Eva, streichelte und leckte sie und klaubte ihr einige von den lästigen Läusen aus den Haaren.

Das gefiel Eva sehr gut. Sie verliebte sich in Adam. Sozusagen außerhalb der Reihe. Die anderen Affenweibchen hatten ja noch mit ihren Babys zu tun. So wurden Eva und Adam ein Pärchen - das erste seit Affengedenken. Bald war Eva wieder schwanger und bekam ihr zweites Baby. Es war wieder viel zu früh geboren, denn Eva hatte sich den aufrechten Gang noch immer nicht abgewöhnt.

Da sie beim Tod ihres ersten Babys erfahren hatte, wie traurig es ist, wenn man sein Baby verliert, gab sie sich dieses Mal sehr große Mühe. Sie hatte das Baby besonders lieb und kümmerte sich den ganzen Tag darum. Dabei kam dem Baby zugute, daß Eva sicher auf zwei Beinen laufen konnte und die Hände für ihr hilfloses Kind frei hatte.

- Als sie merkte, daß das Baby zu wenig Kraft hatte, sich selbst an ihren Haaren festzuhalten, legte sie sich Schlingpflanzen um die Schulter und setzte das Baby hinein.

- Als sie merkte, daß das Baby nicht rechtzeitig Zähne bekam, zerkaute sie die Nahrung in ihrem eigenen Mund und schob sie von dort aus in den Mund des Babys.

- Als sie merkte, daß das Baby Blähungen und Bauchschmerzen hatte, streichelte sie solange den Babybauch von oben nach unten, bis ein langer Pups aus Babys Po kam und es endlich einschlafen konnte.

Außerdem half Adam, wo er konnte. Er war vielleicht nicht ganz so intelligent wie Eva, aber er brachte möglichst viel Nahrung in die Höhle, weil das Baby dann lachte, Eva ihn besonders lieb streichelte und er manchmal sogar vorgekaute Nahrung direkt aus ihrem Mund bekam.

So wuchs das Baby heran. Es war ein Junge. Wir wollen ihn Kain nennen - das habt Ihr Euch sicher schon vorher gedacht. Kain war ein merkwürdiges Kind. Alles, was die anderen Kinder von sich aus konnten, mußte Kain erst mühsam lernen. Das hatte damit zu tun, daß er mit einem ganz unfertigen Gehirn geboren worden war. Er wußte nicht einmal, welche Dinge man essen kann und welche nicht genießbar oder sogar giftig sind.

Die anderen Kinder verstanden ihn nicht und behandelten ihn wie ein fremdes Tier. Wenn er mit ihnen spielen wollte, bissen sie ihn weg. Eva war dann sehr wütend, schrie die anderen Kinder an, warf Steine nach ihnen und scheuchte sie davon. Kain hatte das aufmerksam mitangesehen, und da er auch wütend war, schrie er ebenfalls und warf ebenfalls mit Steinen.

Alles, was er bei anderen sah, ahmte er nach. So lernte er das Lernen. Er probierte auch Neues aus. Am liebsten spielte er mit den vom Wasser vorgeschliffenen Steinen und entdeckte, daß sie ganz scharfe Kanten bekommen, wenn man sie kräftig gegen andere Steine schlägt.

Weil er bald sehr viel wußte und weil er unter der liebevollen Pflege seiner Mutter zu einem starken Jungen herangewachsen war, hatten die anderen Kinder inzwischen mehr Angst vor ihm als er vor ihnen. Es dauerte nicht lange, und sie achteten ihn als ihren Hordenführer. Er zeigte ihnen wie man mit Steinen Tiere tötet und wie man gegen fremde Horden kämpft.

Inzwischen hatte seine Mutter ein weiteres Baby bekommen. Es war ein Mädchen, und sie nannten es Mabel - das habt ihr aber nicht schon vorher gewußt!

Wiederum war es mehrere Wochen zu früh geboren. Da Eva und Adam nun schon Übung hatten, gelang die Aufzucht noch viel besser als bei Kain. Mabel wurde auch nicht von den anderen Kindern gebissen, weil alle wußten, daß sie es sonst mit Kain zu tun bekämen. Kain hatte nämlich gemerkt, daß seine Mutter ihn genau so lieb wie seinen Vater behandelte, wenn er seine Schwester so beschützte wie dieser jene.

Mabel war auch meistens so fröhlich und freundlich, daß es nicht schwer war, sie lieb zu haben. Außerdem sammelte sie in einer Ecke der Schlafhöhle Nüsse und getrocknete Beeren. Wenn Kain nett war, gab sie ihm davon.

Als Kain und Mabel groß waren, heirateten sie einander. Das Heiraten von Geschwistern war damals noch nicht verboten. Sie hatten sich sehr lieb und bekamen viele Kinder, die heranwuchsen und noch mehr Kinder gebaren.

Bald war nicht mehr genug Platz am Ufer des Sees. So zogen einige von ihnen in den kalten Norden. Es waren die mutigsten Jäger und Kämpfer - so wie Kain. Aus ihnen wurden später die Ackerbauern, die aus Eisen Pflugscharen und Schwerter schmiedeten.

Im Süden blieben jene, die weniger Lust hatten zu jagen und zu kämpfen, die lieber das als Nahrung sammelten, was die Natur ihnen schenkte - so wie Mabel. Aus ihnen wurden später die Schäfer. Bis auf den heutigen Tag haben sie Furcht vor den Ackerbauern mit ihren gefährlichen Waffen und lärmenden Maschinen.

aus „Fabeln statt Pillen“ von Kurt Eberhard und Istrid Hohmeyer

 

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