FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Erfahrungsbericht / Jahrgang 2005

 

Rückführung eines 3-jährigen Pflegekindes nach 2 Jahren

 

Wir waren bereits fast 10 Jahre auf der Warteliste unseres Jugendamtes als Adoptivbewerber und rechneten nicht mehr damit, dass uns ein Kind vermittelt würde. Dann kam der Anruf: „Wir haben ein Mädchen für Sie. Sie ist vier. Der Vater ist gestorben und die Mutter liegt im Sterben“. Es musste alles sehr schnell gehen, denn man wollte das Kind nicht irgendwo Zwischenunterbringen. Allerdings wurde die frühere Pflegemutter ebenfalls befragt, ob sie das Kind aufnehmen wolle. Diese lehnte jedoch ab, weil M. „zu launisch“ sei. So kam, 14 Tage nach diesem Anruf, unsere Tochter zu uns, die einen Monat später 5 Jahre alt wurde und angeblich, laut Jugendamt; nur verwöhnt sei.

Was sich im folgenden herausstellte, haben wir durch Informationen der früheren Pflegemutter und von anderer Personen, die wir inzwischen kennengelernt hatten, erfahren:
Seitens des Jugendamtes gab es nur 4 Berichte über unser Kind: Einen Bericht vor der Inpflegenahme mit den leiblichen Eltern unserer Tochter, den zukünftigen Pflegeeltern unserer Tochter, die Freunde der Eltern waren und die sich dem Jugendamt vorstellten, sowie dem Jugendamtsmitarbeiter. Dann gab es noch einen Polizeibericht aus der Zeit vor der Inpflegenahme, in dem die Rede war vom nächtlichen Aufgreifen des angetrunkenen Elternpaares in Begleitung eines Säuglings (unsere Tochter), das entsprechend der Jahreszeit mangelhaft angezogen war. Ein dritter Bericht stammte ebenfalls aus der Zeit vor der Inpflegenahme von einem karitativen Verband, der Familienhilfe anbot. Die Mutter unserer Tochter war alleinerziehend und es wurde aufgrund ihrer unklaren psychischen Verfassung eine Vormundschaft/Betreuung eingerichtet. In diesem Zusammenhang erhielt jene wochentags eine Helferin zugeteilt, die sie und unsere damals sehr kleine Tochter 4 Stunden am Tag betreute. Die Mutter hatte ihr Kind bzw. den Kinderwagen mehrmals an der Ampel oder im Park oder im Kaufhaus vergessen. Der letzte Bericht war ein Polizeibericht nach der „Zurückführung“ zum Vater des nichtehelichen Kindes. Hier musste die Polizei eingreifen, nachdem die Halbgeschwister unserer Tochter die Polizei angerufen und um Hilfe gebeten hatten, denn M.`s Vater hatte seine neue Partnerin krankenhausreif zusammengeschlagen. Die Polizei nahm den alkoholisierten Vater in die Ausnüchterungszelle mit. Die Kinder wurden bei den Großeltern untergebracht und die Partnerin kam im Krankenhaus. Einsicht in die Berichte erhielt ich auf meine Bitten hin nach ca. 1 Jahr. Es hatte sich mittlerweile bei uns zuhause so viel getan, dass wir das Märchen vom verwöhntem Kind nicht mehr glauben konnten und hofften, das verwirrende Puzzle von Informationen durch weitere Informationen zusammenfügen zu können.

So stellte sich heraus, dass die Mutter unserer Tochter keineswegs im Sterben lag und sich auch noch artikulieren konnte. Uns wurde vom Jugendamt gesagt, dass die Mutter im Sterben läge und sich nicht mehr äußern könne und die Adoption nur noch eine Formsache sei, für die es eine richterliche Ersetzung der Einwilligung der Mutter gäbe. Die Mutter leidet an einer Krankheit, mit der sie noch in 15 Jahre „sterben“ wird, also neurologisch abbaut und immer weniger im Stande sein wird, sich zu versorgen. Sie lebt in einem Pflegeheim und kann heute, nach weiteren 6 Jahren, zwar nicht mehr sprechen, weiß sich aber dennoch sehr genau mitzuteilen. Der damals zuständige Richter vertraute nicht auf die Informationen des Jugendamtes und besuchte M´s. Mutter. Auf seine Frage, ob sie ihre Tochter zur Adoption freigeben wolle, bekam er prompt die Antwort „nein“. Ich kann die Mutter, zu der wir einen regelmäßigen Kontakt pflegen, verstehen. Ich hätte auch verneint. So haben wir bis heute ein Pflegekind.

Die Diagnose über die Krankheit der Mutter erfuhren wir per Zufall nach einem halben Jahr, nachdem M. durch das Jugendamt zu uns gekommen war. Wir trafen zufällig den Vormund der Mutter, ohne dass wir wussten, dass er ihr Vormund ist. Er hatte M. gekannt und wollte natürlich wissen, wie wir zu dem Kind gekommen waren. Er konnte uns die Diagnose sagen. Das Jugendamt teilte uns die Diagnose erst ein dreiviertel Jahr nach der Aufnahme mit. So lange brauchte es, um den Vormund ausfindig zu machen! Insgesamt waren 5 Sozialarbeiter von der Geburt bis zur Aufnahme bei uns zuständig, und dennoch gab es nur die o.g. Berichte. Und das, obwohl das Sorgerecht der Mutter entzogen worden war (für 2 Monate. Nach der Unterbringung wurde der Beschluss aufgehoben, nachdem die Mutter der zuständigen Sozialarbeiterin gedroht hatte, diese umzubringen!)

Wir lernten auch per Zufall die Einsatzleiterin des karitativen Verbandes kennen, welche die Einsätze der Helferinnen organisierte und auch den o.g. Bericht schrieb. Sie teilte uns mit, dass sie sich die offensichtliche Aggressivität des Vaters von M. nicht getraute in diesen Bericht hineinzuschreiben. Der Vater von M. hatte täglich die Mutter mit Tochter besucht und war dabei oft so sehr aggressiv gewesen, dass sich die Helferinnen nicht in seiner Gegenwart aufhalten wollten. Der Vater war immer wieder so brutal aufgetreten, dass sich die Helferinnen und die Einsatzleitung bedroht fühlten.

Im U-Heft unserer Tochter steht bei der U?.: „Kind wirkt apathisch und hat keine altersgerechte Sprachentwicklung“. Das war Anlass, dass ich mit der früheren „Pflegemutter“ Kontakt aufnahm. Die Untersuchung hatte während des Aufenthaltes des Kindes bei ihr stattgefunden. Außerdem wollte ich noch mehr Informationen über unser Kind. Sie war mit den Eltern befreundet gewesen und hatte auch noch nach der „Rückführung“ Kontakt zu der Familie. Sie berichtete mir, dass der Vater und die Mutter M. fast täglich besuchten.. Auch sei der Vater sehr oft betrunken gekommen. Es hätte immer viel Streit gegeben und das Kind sei nie zur Ruhe gekommen. Manchmal sei sie mit dem Kind spazieren gegangen, um selbst Ruhe zu finden, denn die Streitereien hätte sie aufgeregt und auch das Gezerre am Kind. Sie sei nie vom Jugendamt besucht worden, diese würden also auch nicht die räumliche Enge kennen. Sie hätte nur telefonisch mit 2 Personen vom Jugendamt Kontakt gehabt. Außerdem hätte sie sich über das Jugendamt aufgeregt, als diese nach dem Tod des Vaters M und ihre Halbgeschwister bei ihnen unterbringen wollten. Damals hätten sie M. nur aufnehmen können, weil diese noch ein Baby gewesen sei. Jetzt seien ihre eigenen vier Kinder teilweise Jugendliche und könnten nicht mehr alle zusammen schlafen. Die Familie wohnte in einem uralten, winzigem Gesindehaus eines früheren Schlosses. Auch hätte sie als Freundin der Familie nie etwas sagen können und das Jugendamt hätte sie auch erst sehr spät informiert, dass M. zum Vater, der das Sorgerecht beantragt hatte, zurückgeführt werden sollte. Sie selbst sei nie zur Rückführung befragt worden, denn sie hätte sich dagegen ausgesprochen. Die Rückführung fand über 4 Wochen statt. In diesen 4 Wochen verbrachte M. die Wochenenden in der Wohnung des Vaters. Dieser lebte dort mit den Halbgeschwistern von M. aus erster Ehe des Vaters. Deren Mutter fiel aufgrund ihres massiven Alkoholkonsums als Sorgeberechtigte aus. Der Vater hatte sich dann für seine Kinder schnellstmöglich wieder eine Frau gesucht und M´s. Mutter gefunden. Diese fiel aufgrund ihrer Krankheit sehr schnell aus und bezog eine eigene Wohnung, in der dann auch M. geboren wurde. Dann kam die Inpflegenahme. Jetzt hatte der Vater wieder eine Frau gefunden, die ebenfalls  Kinder aus erster Ehe mitbrachte. Also wollten sie hier mit ihren vielen Kindern ein neues Zuhause aufbauen. Die Pflegemutter erklärte mir sehr deutlich, dass sie gegen diese Verbindung war. Sie kannten sich alle untereinander. Später erfuhr ich, dass man dies „milieunahe Unterbringung“ nennt. Der Vater hatte immer wieder massive Alkoholprobleme, die er nur kurzzeitig unter Kontrolle hatte und seine neue Partnerin war aktive Prostituierte, wie ich später herausfand. Das Jugendamt glaubte der Frau, dass sie ihrem Job abgeschworen hatte. Von M´s Großvater weiß ich das Gegenteil. Das erfuhren wir allerdings alles erst nach ca. 3,5 Jahren, als wir sehr direkt sowohl das Jugendamt als auch dann den Großvater konfrontierten.

Die Pflegemutter war auch gegen eine Rückführung, weil sie der Meinung war, dass das Paar sich noch viel zu wenig und zu kurz kenne und es schon ausreichen würde, wenn sie mit ihren  älteren Kindern ein geregeltes Familienleben hinbekämen. Das Glück währte auch nicht lange. Die Partnerin zog mit ihren Kindern nach Übergriffen durch M´s Vater bereits nach einem halben Jahr wieder aus. Zuvor hatte es viel Geldnot und Streitereinen gegeben. Dann lebte der Vater mit Unterstützung verschiedenster Personen noch ein Jahr. Dann verstarb er als 40 Jähriger einfach so. Die Kinder hatten seine Leiche entdeckt. Es gab keine Obduktion. Unsere Tochter wurde daraufhin zu uns gebracht. Die Halbgeschwister wurden in einer Sonderpflegestelle untergebracht.

Als M zu uns kam,

  • regredierte sie als Fünfjährige zum Baby, so dass wir Windel und Milchflasche einschließlich Schnuller kauften.
  • berichtet sie von wilden Mordgeschichten, so dass wir annahmen, sie hätte zu viel und zu spät ferngesehen. Die Familie hatte aber keinen Fernseher, außer kurzfristig einen Video.
  • Zeigte unser Kind auffälliges Sexualverhalten, dass uns beklemmte. Sie zeigte anfangs außerdem seltsame körperliche Symptome.
  • malte sie schlimme schwarze und rote Bilder, auf denen viele Gewaltdarstellungen zu sehen waren. Eine Person ist immer besonders deutlich zu erkennen und gehört in die Zeit nach der Rückführung.
  • Suicidgedanken: wir hätten nie gedacht, dass ein 5-6 jähriges Kind Suicidgedanken äußern könnte (sich tot machen wollen, nicht am Leben sein wollen).
  • glich unser Kind zeitweise einem hyperaktiven Kind. Auf unserer ersten gemeinsamen Kur entließ man uns mit der Empfehlung, eine mögliche Aufmerksamkeitsstörung abklären zu lassen.
  • spielt sie (teilweise heute noch) ganz typische Sequenzen in ihren Spielen, die auf Traumatisierung schließen lassen. Sie hatte in der Vergangenheit mehrere „Flashbacks“, die uns ihre Geschichte eindeutiger und verständlicher werden ließ und unsere Vermutungen bestätigten.
  • Unser Kindertherapeut diagnostizierte unserem Kind eine schwere Mehrfachtraumatisierung.
  • Der vorhergehende Psychologe, den wir aufgesucht hatten, hielt unser Kind für nicht „familienfähig“ und empfahl uns, das Kind „zurückzugeben“, damit es in einem Heim die notwendige Hilfe fände. Wir lehnten eine weitere Begleitung bei diesem Herren ab. Wir suchten ja Hilfe zur Bewältigung, um es zu schaffen.
  • Unser Kind mag heute noch keinen Körperkontakt. Nur die Adoptiv/Pflegemutter darf zeitweise den Rücken massieren (abends beim Einschlafen).
  • Eine „normale Elternbeziehung“ ist heute noch nicht möglich. Zeitweise hat unser Kind Gespräche und Fragen völlig verweigert.
  • Unser Kind ist phasenweise heute immer noch höchst aggressiv und zeigt eine sehr geringe Frustrationstoleranz. Sie kann sich nur schwer umorientieren und jegliche Veränderungen des Alltags werden für sie zum Stress. Dann flippt sie völlig unkontrolliert aus und ist nicht zu beruhigen. Überhaupt lässt sie sich kaum trösten.
  • Ein engerer Kontakt ist zu unserer Tochter extrem schwierig. Heute, nach 6 Jahren bei uns, hat sie immer noch Phasen, in denen wir sie nur schwer verstehen und wir das Gefühl haben, dass vieles Alte unbewusst hochkommt, was sie aber nicht einordnen kann. Da können wir dann eher Rückschlüsse ziehen. Sie, bzw. wir, sind nun seit 4 Jahren in therapeutischer Behandlung bei einer guten Trauma-, bzw. Kinder- und Jugendtherapeutin.

Für uns ist die Verfahrensweise unseres Jugendamtes nicht verständlich. Die zuletzt zuständige Sozialarbeiterin kennt den Begriff „Traumatisierung“ nicht. Sie hat uns abgegeben, nachdem wir ihr zu „analytisch“ waren. Die massiven Aggressionsausbrüche unseres Kindes wurden mit einer verspäteten Trotzphase abgetan.

Es ist für uns auch befremdlich, dass unser Jugendamt werde die Problematik der Eltern noch die Problematik des Kindes sehen will. Für das Jugendamt ist es „billiger“, ein verwöhntes Kind zu vermitteln, als sich für ein schwertraumatisiertes Kind einzusetzen und nach Heilungsmöglichkeiten zu suchen.

U-B-S

 

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