FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2001

 

Kinder und Jugendliche bei der Einführung des SGB IX stärker im Blick behalten

von Prof. Dr. Jörg M. Fegert (Jan. 2001)

 


Mit der Einführung des neuen SGB IX soll das Behindertenrecht vereinheitlicht und die Wege zur Hilfe vereinfacht werden. Eine einheitliche Definition soll erstmals die Konkurrenzen zwischen den einzelnen Gesetzen aufheben und die Zusammenarbeit erleichtern. Trotz deklarierter Absicht die Belange von Frauen und Kindern besonders zu berücksichtigen, muss der bisherige Entwurf in diesem Punkt als besonders defizitär angesehen werden. Der folgende Positionsbeitrag benennt Schwachpunkte und fordert Nachbesserungen im Interesse der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Definitionen und Begriffe

Auch wenn das lange geforderte Leistungsgesetz (vgl. z.B. die vorbildlichen Regelungen in der Schweiz) auch diesmal ausbleiben wird, ist das SGB IX als ein wichtiger Schritt zur Vereinheitlichung und Vereinfachung von Hilfen unbedingt zu begrüßen. Erstmals wird versucht, eine einheitliche Behinderungsdefinition zu geben, die sich erfreulicherweise auch noch an den Diskussionsprozess im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), insbesondere bei der Ausgestaltung der ICIDH-2, orientiert. Insofern tauchen moderne Begriffe wie Teilhabe (Partizipation) jetzt an zentraler Stelle auf. Damit einher geht ein stärker ressourcenorientiertes Denken, welches auch Erleichterungsmöglichkeiten (im Sprachgebrauch der WHO sogenannte Faszilitatoren) aufgreift und weniger Beeinträchtigung und soziale Handicaps primär in den Vordergrund stellt. Dies stellt natürlich einen gewissen Widerspruch zu den Anspruchsbegründungen in der Sozialhilfe und Jugendhilfe dar, die sich nach wie vor an Defiziten festmachen. Entsprechend der bisherigen Struktur der Eingliederungshilfe wird in die neue Definition das Prinzip der Zweigliedrigkeit zur Anspruchsbegründung aufgenommen. Zunächst wird eine zugrunde liegende Abweichung vom für das Lebensalter typischen Zustand, der körperlichen Funktion, der geistigen Fähigkeit und der seelischen Gesundheit vorausgesetzt und dann muss der Kausalzusammenhang festgestellt werden, dass daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Insofern taucht hier im neuen Gewand der Teilhabe im Prinzip wieder der bisherige WHO-Begriff des sozialen Handicaps als Folge einer zugrunde liegenden Funktionsstörung auf. Die neue Definition lautet:

»§ 2 Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.«

Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sind hier zwei Anmerkungen erforderlich. Das Wort »Teilhabe« in der Definition sollte als altersentsprechende Teilhabe präzisiert werden, da gerade für Kinder gewisse Partizipationseinschränkungen, d.h. ein erzieherisch bedingter Aufsichtsbedarf, altersentsprechend typisch sind. Diese Einschränkung sollte nicht exzessiv wie in der Pflegeversicherung ausgelegt werden, sollte aber dennoch hier rechtzeitig angebracht werden, um unangemessene Forderungen rechtzeitig abwehren zu können. Dies wäre aus meiner Sicht bei weitem sinnvoller als das von den kommunalen Spitzenverbänden ostinat vorgetragene »ceterum censeo ...« in Bezug auf die Wiedereinführung des Wörtchens »wesentlich«. All diejenigen, denen durch das Wort »wesentlich« in der Behinderungsdefinition im § 35a SGB VIII eine Abwehrbarriere gegen unberechtigte Ansprüche vorschwebt, verkennen, dass diese Einschränkung auf die wesentliche Behinderung nur bei körperlichen Behinderungen primär Sinn macht. Hier gibt es medizinisch klar zu benennende Krankheitsbilder, die auch als Behinderung bezeichnet werden können, die aber nicht zu sozialen Handicaps, ja noch nicht einmal zu Funktionsbeeinträchtigungen führen. Deshalb wird für eine Eingliederungshilfe, die Teilhabe erleichtern und damit soziale Handicaps ausgleichen soll, natürlich eine in diesem Sinne wesentliche Behinderung gefordert. Eine unwesentliche geistige Behinderung existiert nicht, denn ein gewisses Intelligenzniveau ist unbestreitbar immer ein »Faszilitator« (s.o.) in sozialen Situationen und eine geistige Behinderung beeinträchtigt die davon betroffenen Menschen immer in ihrer Teilhabefähigkeit. Auch im Bereich der seelischen Gesundheit ist die Hinzufügung des Wörtchens »wesentlich« deshalb unsinnig, weil die entsprechenden Klassifikationsschemata der Weltgesundheitsorganisation (derzeit ICD-10), auf die auch direkt vom Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch V (gesetzliche Krankenversicherung) Bezug genommen wird, eine solche Wesentlichkeitsschwelle schon eingebaut haben. Einfache Befindlichkeiten oder Irritationen werden nach diesen Kriterien nicht als Störungen diagnostiziert. Somit fällt das erste Glied in der zweigliedrigen anspruchsbegründenden Kette automatisch weg.

Führt aber eine diagnostizierbare und damit eine einen solchen Schwellenwert übersteigende Störung zu einem sozialen Handicap, dann ist für mich als Gutachter keine Situation vorstellbar, wo dies nicht auch wesentlich wäre. Wer sich das Wort »wesentlich« in seiner Argumentation auf die Fahnen schreibt und damit hofft, bspw. ungerechtfertigte Hilfeanträge bei Legasthenie abwehren zu können, um damit eigentlich landespolitisch mit dem Bereich Schule zu klärende primäre Aufgaben bei der Vermittlung von Kulturtechniken zu beheben, irrt sich. Es wäre bei weitem hilfreicher, wenn überall, insbesondere durch die Kontrollfunktion geeigneter Landesärzte, dafür gesorgt würde, dass die Eingangsgrundlagen durch eine anständige Diagnostik (vgl. die hier vorbildliche bayerische Vorgehensweise) geklärt werden.

Sachgerechte Leistungsgewährung setzt sachgerechte Diagnostik voraus

Benutzt man z.B. alte oder veraltete Leistungstests und gleichzeitig alte Rechtschreibtests besteht eine hohe Fehlerwahrscheinlichkeit mit einem Risiko zur Überschätzung des Vorliegens von Lese-Rechtschreib-Schwäche. Durch den ubiquitären Gebrauch von Computern und Computerspielen sowie Gameboys sind nämlich in den letzten Jahren die visuellen Leistungen bei Kindern global angestiegen, so dass hier Intelligenzniveaus eher überschätzt werden. Gleichzeitig gibt es einen deutlichen Trend zur durchschnittlichen Abnahme der Rechtschreibleistungen in Schülerpopulationen. Verwendet man nun einen in den 50er Jahren normierten Rechtschreibtest und ein altes Intelligenzverfahren, entstehen Diskrepanzen, die für eine Lese-Rechtschreib-Schwäche sprechen, die bisweilen nur durch den veralteten Normbezug begründet sind.

Selbstverständlich besteht ein berechtigtes Interesse, unsere Sozialleistungssysteme nicht durch unbegründete Ansprüche zu überlasten und funktionsunfähig werden zu lassen. Nur muss mit Sachverstand an diese Abgrenzung gegangen werden, damit diese Abgrenzungsbemühungen nicht die Schwächsten treffen während rechtsanwaltlich vertretene Mittel- und Oberschichtsfamilien dennoch ihren Weg zur Hilfeleistung finden werden.

Da im Rahmen des Reformvorhabens auch die Eingliederungshilfeverordnung an manchen Stellen umformuliert wird, wäre es hier z.B. sinnvoll dezidiert, einen Rückbezug auf die diagnostischen Kategorien, die vom SGB V für die Krankenbehandlung gefordert werden, herzustellen. Der bisherige Entwurf sieht das nur in der Begründung zur Änderung im § 35a SGB VIII vor. Hier ist wenigstens für den Bereich der Eingliederungshilfe, der von der Jugendhilfe geleistet werden muss, mit sehr viel Augenmaß und Sachkenntnis vorgegangen worden. Dies ist à la longue sicher deutlich sinnvoller als jedes »wesentlich« oder der Streit um prozentuale Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf die Bedrohung. Gerade vor dem Hintergrund der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte erstaunt es aber, dass der Bedrohungsbegriff in der neuen Definition noch vereinfacht wurde und die Streitpunkte in der Begründung versteckt werden. Dies könnte in der Praxis zu Irritationen führen.

Was bedeutet der Gesetzentwurf für mehrfach von Behinderung betroffene Kinder und Jugendliche?

Das Schnittstellenproblem, welches sich insbesondere an den mehrfach von Behinderung betroffenen Kindern festmacht, ist auch in diesem Entwurf nicht gelöst. Erfreulich ist die grundsätzliche Regelung für die Frühförderung (bisher war sie im SGB VIII landesrechtlichen Regelungen (§ 10) vorbehalten. Jetzt fällt durch den neuen § 30 SGB IX die unsinnige und auch fachlich nicht zutreffende Unterscheidung von einzelnen Behinderungsformen im Vorschulalter weg. Hier wurden § 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG und § 11 Eingliederungshilfe in die neue Norm des § 30 SGB IX übergeführt. Entsprechende Änderungen im SGB VIII sind mir bisher nicht bekannt. Allerdings verblüfft die Formulierung »nichtärztliche sozialpädiatrische Leistungen« im § 30 SGB IX. Da die medizinischen Leistungen und alle interdisziplinären Leistungen des Teams genannt sind, scheinen »nichtärztliche sozialkinderärztliche« Leistungen eher ein Lapsus zu sein.

§ 56 SGB IX beschreibt heilpädagogische Maßnahmen. Strittig ist in Bezug auf §§ 30 und 56 noch das Problem der Komplexleistungen, da hier von manchen Verbandsvertretern die Gefahr der Einflussnahme oder auch der latenten Leistungskürzungen befürchtet wird. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass solche Komplexleistungen zu einer erheblichen Vereinfachung und damit zum Grundziel des SGB IX beitragen könnten.

Größere Bedenken hätte ich generell bei der Gewährung von Geldleistungen – § 9 Abs. 2 SGB IX –, da es hier zu massiven Interessenkonflikten zwischen Eltern und Kindern kommen kann und zu befürchten ist, dass bestimmte Geldleistungen die dringend hilfebedürftigen Adressaten nicht erreichen. Es sollte überlegt werden, wie der besonders schwachen Situation von Kindern diesseits der Schwelle des § 1666 BGB Rechnung getragen werden kann.

Nach wie vor ist eine einheitliche Lösung für die Eingliederungshilfe bei Kindern und Jugendlichen nicht zu erkennen. Die Systembrüche haben zu zahllosen Irritationen geführt, so dass viele Experten dringend zu einer einheitlichen Behandlung raten. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Einführung des § 35a SGB VIII im Bereich der Jugendhilfe auch das Problem der Abgrenzung von dissozialen Verhaltensschwierigkeiten und den von der WHO als seelische Störungen definierten Störungen des Sozialverhaltens beseitigt haben. Zahlenmäßig dürfte diese Schnittmenge letztendlich deutlich größer sein, als der Kreis der Kinder, die mehrfach von einer Behinderung betroffen sind. Wenn nun von verschiedenen Seiten die Rückkehr zum alten Eingliederungshilfesystem, d.h. das Streichen des § 35a im SGB VIII, gefordert wird, würde dieser gerade erfolgreich behobene Mangel wieder erneut zutage treten. Sicherlich würde gleichzeitig natürlich die bestehenden Probleme z.B. bei autistischen Kindern etc. leichter gelöst werden können. Aus eher prinzipiellen Erwägungen hatte ich mich vor kurzem noch einmal in der Tradition der Stellungnahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachvertreter für die große Lösung im Rahmen des SGB VIII ausgesprochen (Fegert, in: ZfJ, 2000, S. 441–446).

Allerdings befürchten natürlich die Kommunen die Problematik der Kostenverlagerung. Geht man von den statistischen Eckwerten aus, müsste mit mindestens 2,5 Mrd. DM gerechnet werden. Dabei sind junge Volljährige noch nicht eingerechnet und ist auch noch nicht bedacht worden, dass überall da, wo die Jugendhilfe kompetent Hilfeplanung umgesetzt hat, die Bedarfe im Vergleich zur vorherigen Praxis in der Sozialhilfe eher angestiegen sind. Realistisch müsste deshalb mit einer Kostenverlagerung von bis zu 4 Mrd. DM gerechnet werden. Die Kommunen sind hierauf weder finanziell noch fachlich eingestellt Zudem kann die derzeitige Praxis der Gesamtpläne im BSHG-Bereich in Bezug auf die Partizipation der Betroffenen und auf die Erfolgskontrolle und Qualitätssicherung sicher auch nicht als fachlich gelungen bezeichnet werden. Hier hat die Hilfeplanung – § 36 SGB VIII – eindeutig neue und bessere Standards gesetzt, die egal, welche Lösung gefunden werden wird, auch in der Arbeit der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger ihren Niederschlag finden sollte. Es müsste jedoch bei den zu Beteiligenden noch stärker auf den Einbezug der Schule geachtet werden.

Sollte die grundsätzlich wünschenswerte große Lösung aufgrund finanzieller Erwägungen nicht denkbar sein, bleibt nur noch die Wahl der konservativen Lösung, d.h. der Aufgabe des § 35a in der Jugendhilfe oder die Aufrechterhaltung des Status quo. Die konservative Lösung wird von manchen Ländern und auch vielen Verbänden favorisiert, weil die Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers stationäre Maßnahmen, deren vergleichbare Umsetzung besser gewährleistet als das Entscheidungsverhalten vieler Jugendämter, das durchaus von den betroffenen Eltern gelegentlich als Willkür wahrgenommen wird.

Ein beliebiges Beispiel aus der Praxis

Tatsächlich ist es für mich in keinem anderen Rechtsanspruchsbereich denkbar, dass z.B. Jugendamtsleiter, wie in Leipzig mit Schreiben vom 5. September 2000 Hilfeempfängern mitteilen, dass sie »Finanzierungen der Leistungen über § 35a KJHG ... in dieser Form nicht weiterführen« werden. Der freundliche Zusatz: »Wir wünschen Ihrem Kind und Ihnen weiter alles Gute« wird auch nur als Zynismus erlebt werden können. Diese behördliche Willkür wird in einem internen Vermerk (Steuerung Hilfen zur Erziehung § 35a) dann auch noch ideologisch untermauert. Als Grund für diese Abwicklung wird dort z.B. angegeben, dass »sowohl der Anspruch auf Hilfe als auch die Ausgestaltung der Hilfe weitgehend von der Diagnose des Arztes bestimmt wird.« Dies entspricht genau dem zweigliedrigem Modell der Eingliederungshilfe, welches diagnostizierbare Störungen voraussetzt: »Der Anspruch auf Hilfe wird in einem umfangreichen und zeitaufwendigen Diagnostizierungsverfahren ermittelt, was zum einen für die Kinder/Jugendlichen belastend ist und zum anderen ein rechtzeitiges Finden der geeigneten Hilfe behindert.« Eingliederungshilfe wird prinzipiell als stigmatisierend abgelehnt: »Die beabsichtigte Eingliederung führt in der Praxis oft zu Ausgrenzungen« oder »Die Definitionen eines Defizits beim Kind/Jugendlichen ist die Leistungsvoraussetzung. Diese Defizitszuschreibung führt zu einer unter Umständen jahrelangen Stigmatisierung des Kindes oder Jugendlichen«.

Das Beispiel verdeutlicht, warum viele Vertreter von Elternverbänden, Betroffenenverbänden aber auch die Leistungserbringer schon allein in der Zuständigkeit einer weniger ideologielastigen Administration einen Fortschritt sehen würden. Tatsächlich ist kaum vorstellbar, dass im Bereich der Sozialhilfe oder im Bereich der Krankenkasse contra legem Rechtsansprüche einfach global negiert werden, vernünftige Bescheide mit einer Rechtsmittelbelehrung nur auf Aufforderung verschickt werden etc.

Andererseits würde die Fortsetzung des Status quo derzeit wahrscheinlich insgesamt zu den geringsten Irritationen führen. Sie hätte den großen Vorzug, dass die Errungenschaften in Bezug auf die Kinder, die gleichzeitig Eingliederungshilfe und Hilfen zur Erziehung benötigen, beibehalten werden könnten. Allerdings wäre eine kleine Korrektur von größter Bedeutung. Aus rein pragmatischen Erwägungen sollte man sich unbedingt dazu entschließen, die kleine Zahl der mehrfach von Behinderung betroffenen Personen unbedingt in der Zuständigkeit eines Eingliederungshilfeträgers zu belassen.

Nach den Wünschen der Betroffenenvertreter und der meisten anderen Verbände sollten dies Sozialhilfeträger sein. Damit könnten die größten Kritik- und Reibungspunkte in Bezug auf die jetzige Praxis durch die neue Regelung zur Frühförderung und die Lösung der Problematik der Mehrfachbehinderung aus dem Weg geräumt werden.

Stärkere Einbeziehung der Kinder

Die von Grundrechts- und Menschenrechtspositionen herleitbare Forderungen nach stärkerer spezifischer Berücksichtigung der Lage von Kindern und Jugendlichen wird am besten entlang einschlägiger Artikel der UN-Kinderrechtskonvention verdeutlicht.

Ein Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention

Zu Art. 3: Für alle Entscheidungen, die Kinder betreffen, muss ein klarer Kindeswohlbezug als zentrale Entscheidungsmaxime hergestellt werden (z.B. wie wird mit der Problematik finanzieller Elterninteressen bei Budgetlösungen umgegangen?).

Zu Art. 12, 13: Partizipations- und Informationsrechte des Kindes im Bereich Wunsch- und Wahlrecht muss den spezifischen Partizipationsbedürfnissen und Beeinträchtigungen behinderter Kinder Rechnung getragen werden. Es kann nicht von einer generellen Einwilligungsunfähigkeit ausgegangen werden, da gerade chronisch Kranke im Umgang mit ihrer Erkrankung zu Experten für ihre Problematik werden und damit die Tragweite von Entscheidungen sehr gut absehen können. Dies ist in entsprechenden arztrechtlichen Entscheidungen wenigstens für das Jugendalter unumstritten. Die Stellung der Kinder und Jugendlichen im Dreieck zwischen Kostenträger, Elterninteressen und eigenen Interessen muss berücksichtigt werden. Selbst für die Kinder, die nicht in der Lage sind einzuwilligen (Informed Consent) ist ein »asent«, d.h. eine Zustimmung bzw. ein Vetorecht für bestimmte Maßnahmen, vorzusehen (vgl. z.B. Regelungen im Betreuungsrecht oder bei den europäischen Regulierungen zur medizinischen Forschung an Kindern und Jugendlichen). Das Recht der Kinder auf Information in gerichtlichen und Verwaltungsverfahren müsste analog dem europäischen Übereinkommen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention so ausgestaltet werden, dass die verfahrensführenden Behörden Kinder unaufgefordert in einer für sie verständlichen Weise über die Verfahrensabläufe und Verfahrensstände informieren. Hierbei sind enge zeitliche Rahmenbedingungen einzuhalten. Die Berücksichtigung der Zeitperspektive ergibt sich ebenfalls aus der Konvention zur Umsetzung der UN-KRK.

Zu Art. 19: Menschen mit Behinderung sind einem stärkeren Gewalt-, Ausbeutungs- und Missbrauchsrisiko ausgesetzt. Es muss deshalb sichergestellt werden, dass bestimmte insbesondere stationäre Leistungen in einem Kontext erbracht werden, der diese Kinder und Jugendlichen nicht selbst gefährdet bzw. erneut gefährdet. Ein entsprechendes Berichtswesen muss aufgebaut werden (geschlechtsspezifische Einrichtungsstatistik). Gerade durch die Vielzahl von möglichen freien Trägern und Anbietern muss die Frage der Tätigkeitsuntersagung oder ähnliches geklärt werden analog zu den Regelungen im Arztrecht oder im Recht der Psychotherapeuten im Sinne eines Approbationsentzugs. Die bestehenden strafrechtlichen Sanktionen garantieren hier nachgewiesenermaßen keinen hinreichenden Schutz.

Zu Art. 20: Besonderer Schutz des Staates für fremduntergebrachte Kinder bedingt die Einführung von unabhängigen Besuchskommissionen, wie sie z.B. durch viele Länderpsychiatriegesetze im Psychiatriebereich mit sehr positiven Folgen etabliert sind). Bei der großen Anzahl kirchlicher Träger mit teilweise Monopolstellungen in manchen Landstrichen ist auch Art. 20, Abs. 3 UN-KRK zu berücksichtigen.

Zu Art. 23: Für die Konkretisierung der Formulierung »aktive Teilnahme« sollte auch im Sinne des nun im Gesetzesentwurf verwandten Teilhabebegriffs die internationale Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation im Behinderungsbereich ICIDH-2 als Anhalt genommen werden. Dadurch ergibt sich für den Teilhabebegriff eine neue bereichsübergreifende Bedeutung. Während bisher die Eingliederungshilfe in der alten Nomenklatur der Weltgesundheitsorganisation nur ein soziales Handicap kompensieren sollte und auch Hilfen bei funktionellen Einschränkungen (disability) gewährt wurden, um soziale Nachteile zu vermeiden, waren Leistungen, die das Schadensbild (impairment) direkt betrafen, prinzipiell Leistungen aus SGB V. Der Teilhabebegriff der WHO bezieht sich nun in der neuen Klassifikation auf das Funktionsniveau, welches im Kindes- und Jugendalter entwicklungsbezogen definiert und beschrieben werden muss. Erwachsenenanhaltswerte sind hier nicht hilfreich. Es geht nicht um Rehabilitations-, sondern Persönlichkeitsentwicklung (Habilitation). Es geht nicht primär um Wiedereingliederung, sondern um Autonomieentwicklungen unter erschwerten Bedingungen.

Hilfen müssen sich auf bestimmte Charakteristika beziehen, d.h. die Alltagssituationen, in denen sich Behinderung bemerkbar macht, müssen berücksichtigt werden. Die zentrale Alltagssituation für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist die Beschulung. Gerade weil der Gesetzentwurf für Erwachsene und auch ältere Jugendliche und Heranwachsende sinnvollerweise das Arbeitsrecht als lebensrelevanten Alltagskontext zentral aufgreift, müsste logischerweise für jüngere Kinder und Jugendliche der schulische Kontext in gleicher Weise Beachtung finden.

Aktive Möglichkeiten zur Erleichterung der Partizipation müssten positiv formuliert werden, d.h. dem Integrationsgedanken muss Rechnung getragen werden, die Zugänglichkeit aller Bereiche muss gewährleistet werden. Es reicht nicht, allein negativ formulierte Teilhabehindernisse (»participation restrictions«) durch Eingliederungshilfe auszugleichen. »Faszilitatoren« müssten im Sinne der Wortwahl der WHO definiert werden. Als zentrales Maß für das Gelingen sieht die WHO in Bezug auf die Teilhabe die persönliche Zufriedenheit an, gerade wegen der spezifischen Verantwortung für die Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen müssten zusätzlich noch andere Qualitätsmaße, die auch die Erreichung pädagogischer Ziele etc. miteinbeziehen, beachtet werden.

Nochmal ein Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention

Zu Art. 25: Eine Überprüfungsmöglichkeit im Unterbringungsfall ist zu fordern. Besuchskommissionen wurden schon angesprochen (z.B. Frage der Langzeitfixierung von Menschen mit geistiger Behinderung aus Gründen der Pflegeökonomie etc.).

Auch die Art. 28 und 29 unterstreichen das in Bezug auf die Schule gesagte.

Zu Art. 31: Freizeitaktivitäten und Einbindung in die Peer-group haben für Integrationsbemühungen zum Wohle von Kindern mit Behinderungen eine besondere Bedeutung. In der Sprache der WHO müssten hier für spezifische Fazilitatoren und eine individuelle personenbezogene Ausgestaltung geplant werden.

Zu Art. 39: Bestehende Hilfen, die Gewaltopfern zugute kommen (Opferentschädigungsgesetz) müssen im Sinne einer Gesamtplanung miteinbezogen werden. Eine Definition der Schnittstellen zur Jugendhilfe, zum BSHG und zum Rentenversicherungsträger fehlt hier bis jetzt.

Während im Erwachsenenbereich das Ausgehen von einer spezifischen Behinderungsform oder einer körperlichen Ursache in Bezug auf die sozialen Teilhabeeinschränkungen generell angemessen erscheint, muss im Kindes- und Jugendalter immer der Erziehungs- und Förderbedarf mitbedacht werden. Deshalb ist der Punkt »Frühförderung« im Entwurf hier vorbildlich. Allerdings hätte jede andere Altersgruppe im Kindes- und Jugendalter genau so Beachtung verdient. Das Verfahren im Jugendhilferecht nach § 36 Abs. 3 in Bezug auf die Interdisziplinarität in der Hilfeplanung garantiert trotz aller Schwierigkeiten in der Praxis die Einbeziehung unabhängiger ärztlicher Fachkompetenz und die Sicherstellung einer individualisierten Planung mit pädagogischen Sachverstand. Es ist nicht zu verstehen, warum Kindern und Jugendlichen mit Behinderung im Bereich der Hilfeplanung nicht genau so viel Aufmerksamkeit und fundiertes interdisziplinäres Handeln gegeben werden sollte.

Die schwierige Aufgabe der Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung innerhalb des SGB IX spricht quasi die Frage des Minderheitenschutzes in einem Gesetzeswerk zum Minderheitenschutz an. Hierdurch wird der Weg der Integration, der für Erwachsene durch das Aufgreifen des wesentlichen Arbeitsbereiches zielstrebig beschritten wird, für Kinder aus dem Blick verloren. In den geplanten Servicestellen etc. werden die Fachleute, die sich im Entwicklungsbereich auskennen, in einer Minoritätenposition sein oder es müssten für Kinder und Jugendlichen spezifische Servicestellen ausgebaut werden. Eine stärkere Auseinandersetzung mit der ICIDH-2 muss auf der Fachebene erfolgen, damit eine inhaltliche, entwicklungsspezifische Ausfüllung des nun zahlreich verwandten Teilhabebegriffs erreicht werden kann.

Was bedeutet dies für die Ausgestaltung der geplanten Servicestellen?

Die Servicestellen werden eine zentrale Weichenstellungsfunktion haben. Bei vielen Expertengesprächen ist sehr schnell deutlich geworden, dass es wohl keinen Königsweg für die Lösung der Eingliederungshilfeproblematik geben wird. Meine hier geäußerten Vorschläge sind auch eher Wegweiser durch die vorhandenen Verästelungen und notwendige Begradigungen an besonderen Verfahrensstellen. Wenn wir auch weiterhin vielfältige Wege für Hilfe haben werden und kein Königsweg gefunden werden kann, geht es sehr viel mehr um ein vernünftiges »Navigationssystem«.

Die Servicestellen können mit dieser Metapher umschrieben werden. Überfrachtet man nun ein solches Navigationssystem mit Daten aus für Kinder und Jugendlichen eher irrelevanten Bereichen (Rentenversicherung, Arbeitsverwaltung etc.) kann das Navigationssystem für seine spezifische Aufgabe nicht gut arbeiten.

Die grundlegende Debatte um das SGB IX zeigt, dass bislang die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, insbesondere eine fachlich entwicklungspsychologische und entwicklungspsychopathologisch fundierte Sichtweise, die auch den Erziehungsgedanken stets berücksichtigt, zu wenig eingegangen ist. Sinnvoll wäre es deshalb unter dem Dach einer generellen Servicestelle oder am Jugendamt eine spezifische Servicestelle Kinder und Jugendliche anzusiedeln, da selbstverständlich auch die Begutachtung und Entscheidungsfindung nicht generelle Erfahrungen mit Behinderungen, sondern mit dem Entwicklungsalter voraussetzt. An diesen Servicestellen ist der Bereich Schule als zentrales Reha-Ziel zu beteiligen. Selbstverständlich ist auch die Jugendhilfe nicht nur als Reha-Träger, sondern in ihrer generellen Funktion mit ihrem Sachverstand einzubinden. In der bisherigen Begründung der Einbeziehung der Jugendhilfe (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes zum SGB IX, S. 4) lässt sich nur eine marginale Bedeutung der Jugendhilfe erkennen. Selbstverständlich entstehen Befürchtungen, dass dann Servicestellen für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppe gefordert werden könnten. Kinder und Jugendliche sind aber nicht irgendeine Subgruppe, sondern sie sind ein Teil der Bevölkerung, der aufgrund seiner schwachen Position der speziellen Rücksichtnahme und Unterstützung bedarf. Dies ist die vornehmste Aufgabe der Eltern aber auch die staatliche Gemeinschaft hat hier dieser Situation Rechnung zu tragen. Werden die Einzelschicksale von Kindern und Jugendlichen in einer generellen Servicestelle, wo ganz andere Kompetenzen dominieren, bearbeitet, besteht dezidiert die Gefahr, dass ihre spezifischen Bedürfnisse in der fülle von Problemen und Notwendigkeiten die für erwachsene Menschen bestehen, untergehen.

Fazit

De facto bleiben derzeit trotz einiger kosmetischer Korrekturen und der positiven deklaratorischen Absichtserklärung Kinder und Jugendliche und ihre spezifischen Bedürfnisse im ganzen System des SGB IX eine nicht hinreichend berücksichtigte Randgruppe. Weder im Beirat für die Teilhabe behinderter Menschen – § 64 SGB IX – noch in Bezug auf das Berichtswesen – § 66 SGB IX – wird spezifisch auf sie hingewiesen.

Dennoch ist der vorliegende Gesetzentwurf eine Chance. Eine Chance zur Vereinfachung, eine Chance zum Umdenken im Sinne der Förderung von Teilhabe, im Sinne von mehr Integration. Diese Chance kann nur genutzt werden, wenn die spezifischen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen beachtet werden und längst fällige Korrekturen erfolgen. Hochgesteckte Ziele wie ein einheitliches Leistungsgesetz oder die große Lösung, die aus gutem Grund seit Jahrzehnten gefordert werden, sind in diesem ersten Schritt wahrscheinlich nicht realisierbar. Gerade deshalb sollte auf dem Weg aber das Ziel nicht aus den Augen verloren werden und sollten wenigstens die dringenden von allen Seiten unstrittig angemahnten Korrekturen erfolgen. Dies bedeutet, dass unbedingt eine einheitliche Zuständigkeit für Kinder, die von verschiedenen Behinderungsformen gleichzeitig betroffen sind, geregelt werden muss. Die positiven Erfahrungen mit der Hilfeplanung aus der Jugendhilfe müssten im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes auch auf die Normen im BSHG bei der Eingliederungshilfe Anwendung finden, die bisher in der Praxis in Bezug auf die Gesamtpläne gerade im Hinblick auf die Partizipation der Betroffenen von massiven Implementationsmängeln gekennzeichnet ist. Kinder und Jugendliche ist eine spezifische Untergruppe der Servicestelle zu fordern, die die notwendige Einbeziehung des Bereiches Schule zwingend vorsieht. Es kann nicht angehen, dass allein die Tatsache, dass der Kultusbereich in Länderhoheit geregelt wird, während die Jugendhilfe und die Sozialhilfe ein Bundesgesetz zugrunde liegen haben, dazu führt, dass Hilfeplanungen oder Gesamtpläne unabhängig von den Förderausschüssen und der Förderplanung bei Schule betrieben werden. Teilweise werden sogar Eltern auf ihrer Suche nach Hilfe mit widersprüchlichen Scheinargumenten zur Kostenabwehr hin und her geschickt. Positive Entwicklungen sind durch das SGB IX bei der Integration von jungen Menschen mit Behinderungen in das Arbeitsleben zu erwarten. Der hier vorgeschlagene Kompromiss einer Bereinigung der größten Mängel der jetzigen Situation bei ansonstiger Beibehaltung des Status quo hätte auch den Vorteil, dass diejenigen Jugendlichen mit Behinderungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr ganzes Leben lang beeinträchtigt sein werden, keinen Trägerwechsel zu gewärtigen haben werden, während im Bereich der seelischen Behinderung, wo aufgrund von Therapieerfolgen und koordinierten erzieherischen Hilfen häufig Remissionen und Teilhabeerfolge erzielt werden können, die vorhandenen sinnvollen Normen wie der § 41 SGB VIII weiter positiv Anwendung finden können.
(Feb. 2002)

Prof. Dr. Jörg M. Fegert,
Universität Ulm, Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie

Veröffentlicht in: Jugendhilfe, 1/2001; http://www.jugendhilfe-netz.de/archiv/index.shtml

s.a. Brauchen wir doch noch die große Lösung? Sollen alle Eingliederungshilfemöglichkeiten im Kindes- und Jugendalter bei allen Behinderungsformen in der Zuständigkeit der Jugendhilfe angesiedelt werden?

 

 

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