FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2009

 

 „Unsere Kenntnisse belegen, dass kein Kind für unbestimmte Zeit
- bis abwesende Eltern in der Lage und willens sind, es zurückzu-
holen – ‚auf Eis’ gelegt werden kann, ohne dass seine Gesundheit
 und sein Wohlsein gefährdet werden“ (Joseph Goldstein u.a in
 „Diesseits des Kindeswohls“, S. 43)
 

Was ist ein sicherer Ort für ein sehr junges Kind?

- Ein Tagungsbericht -

„Schaut auf dieses Kind!“
Diese etwas abgewandelte Überschrift bezieht sich auf ein Zitat von Ernst Reuter im Jahre 1948 „Schaut auf diese Stadt“, der damals die „Völker der Welt“ zum Schutz Berlins aufrief. Bei unserer Fachtagung „Wenn Frühe Hilfen nicht greifen. Unterbringung von Klein(st)kindern“ am 12./13. November 2009, die im nach dem früher Regierenden Bürgermeister von Berlin benannten Ernst-Reuter-Haus stattfand, ging es im weitesten Sinn um Kinderschutz. Bundesweit nahmen 263 Fachkräfte aus der öffentlichen und freien Jugendhilfe daran teil.

(Zeitweilige) Unterbringung von Klein(st)kindern – Ist das Problem ein Problem?
Die Tagung eröffnete Bruno Pfeifle, Leiter des Jugendamtes Stuttgart, mit einer interaktiven Einführung ins Tagungsthema, die er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Städten gestaltete und bei der auch das Plenum gleich zu Beginn dieser Tagung Gelegenheit bekam, sich zu Wort zu melden. Herr Pfeifle sagte, dass sich die Fachkräfte die Entscheidung nicht leicht machen, ab wann ein Kind außerhalb der Familie untergebracht werden muss, und die Ambivalenzen teilweise sehr groß sind. In vielen Jugendämtern ist „gefühlte Realität“, dass immer mehr Kleinstkinder in Obhut genommen werden und die Fallzahlen in diesem Bereich angestiegen sind. „Was ist nun Ihre, was ist meine gefühlte Realität?“ fragte er in die Runde, nachdem er zunächst den Bundestrend in Bezug auf Inobhutnahmen 0- bis 6-jähriger Kinder in Deutschland vorgestellt hatte. Die Kolleginnen und Kollegen auf dem Podium ergänzten, wie es konkret in einzelnen Städten und Landkreisen mit den Inobhutnahmen 0- bis 6-jähriger Kinder aussieht. Kurz zusammengefasst (aber detailliert in der Tagungsdokumentation nachlesbar) kam raus: Ja, wir haben ein Problem und es stellt sich die Frage, was der Grund dafür ist und wie wir jetzt damit umgehen. Die Diskussion über das „Warum“ wäre eine eigene Tagung wert. Ein wichtiger Grund sei ganz sicher die Einführung des § 8a SGB VIII und die Neufassung von § 42 SGB VIII im Jahr 2005. Zudem sei in den letzten Jahren eine sehr kritische und von der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit begleitete Debatte über einen besseren Kinderschutz geführt worden und die Schaffung eines bundesweiten „Kinderschutzgesetzes“ inzwischen auch wieder Bestandteil des Koalitionsvertrages der neuen Regierung. Aber man müsse auch darüber nachdenken, ob es neben gestiegenen Belastungen in Familien und der medialen Berichterstattung über schlimme Einzelschicksale auch mit einer veränderten fachlichen Wahrnehmung und Bewertung im Jugendamt zu tun habe und ganz unmittelbar mit der Angst, wenn nicht in Obhut genommen wird, könnte der „worst case“ eintreffen.

Trauma oder neue Chance? Trennungen junger Kinder im Familienkonflikt
Zu diesem Thema referierte Dr. Jörg Maywald, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, und richtete seinen Blick nach den vorher vorgetragenen quantitativen Aspekten auf die qualitative Dimension des Problems. Ein Beispiel, dass dies gut veranschaulicht: Die Notaufnahmeeinrichtung wurde in der Reflektion eines fünfjährigen Jungen als „Kinderraststätte“ bezeichnet, in der der Aufbau stabiler Beziehungen nicht vorgesehen ist. Was sagt die Bindungsforschung, liegt in solchen Trennungen ein „lebensgeschichtlicher Sinn“, wie können zum Teil chronisch wiederkehrende Traumata verarbeitet werden, welche Konsequenzen sollte die Praxis aus den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ziehen? Nicht die am wenigsten schädliche Alternative, sondern die günstigste Alternative für das Kind müsse gefunden werden. Besonders beim Schutz von Klein(st)kindern als ein Kinderrecht gelte ein „Optimierungsgebot“, das bedeute u.a.:

    • Kinder nicht zur Stabilisierung ihrer (kranken) Eltern instrumentalisieren,
    • Hilfeplanung unter Beachtung des kindlichen Zeitempfindens,
    • Eingewöhnung und sanfte Übergänge gewährleisten,
    • Umgangsregelung an langfristiger Perspektive des Kindes orientieren,
    • Biografiearbeit ermöglichen.

"Wie wir wurden, was wir sind" – Riskante Entwicklungswege von Klein(st)kindern
Dr. Mauri Fries, Dipl.-Psychologin, Martha-Muchow-Institut, Berlin,
nahm uns Teilnehmerinnen und Teilnehmer bildlich und sprachlich mit auf die Reise in das Innenleben von drei Kleinkindern, die uns „erzählten“, warum sie welche „Überlebensstrategien“ entwickelt haben und wie für sie das Zusammenleben mit ihrer Mutter besser wäre. „Schaut auf die Kinder“, sagte Dr. Mauri Fries mehrfach, „dann kann es Ihnen als Fachkräften gut gelingen, schwierige Bindungsmuster zwischen Mutter und Kind zu erkennen und in neue Bahnen zu lenken. Wir können Ihnen dabei helfen.“

Hilfen für Kleinstkinder in Krisen:
Chancen und Risiken an einem neuen Lebensort auf Zeit
Prof. Dr. Klaus Wolf, Professor für Sozialpädagogik, Universität Siegen, stellte zu Beginn seines Vortrages die Frage: Was ist ein sicherer Ort für ein sehr junges Kind? Er stellte in diesem Zusammenhang eine abgewandelte Maslow’sche Bedürfnispyramide für Kleinkinder vor und nannte dabei insbesondere „Kontinuität“ als eine unverzichtbare Bedingung guter Entwicklung. Deshalb müssten aus pädagogischer Sicht Ortswechsel und Beziehungsabbrüche legitimiert werden. Es gehe um das Abwägen von möglichen Schäden und Belastungen für das Kind einerseits und seinen Entwicklungschancen andererseits. Hierzu stellte er Qualitätsmerkmale für eine Entscheidungsfindung vor und wies darauf hin, dass sicher viele Gerichtsprozesse vermeidbar wären, wenn der Herkunftsfamilie bei der Bewältigung ihrer Probleme – im Fall, dass das Kind nicht zu ihr zurückkehrt – besser geholfen würde.

Im Weiteren ging Herr Prof. Wolf auf drei verschiedene Settings ein:

    • Inobhutnahme durch eine stationäre Einrichtung,
    • Mutter-Kind-Einrichtung,
    • Familiale Bereitschaftsbetreuung.

Er machte deutlich, dass er keine Präferenz für eines der drei Settings habe, da es immer darauf ankomme, was für das betreffende Kind am besten geeignet sei. Zentrales Risiko sei ein „unauffälliges, nicht-intendiertes Ruinieren der Entwicklungschancen durch Diskontinuität“, dies gelte es zu verhindern.

Best practice und Erfahrungsaustausch
Eingehend beschäftigt haben wir uns im Verlauf der Tagung dann damit, Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:

  • Welche Unterbringungsformen und „Settings“ sind geeignet, die gleichzeitig auch relativ stabile Beziehungen gewährleisten?
  • Welche speziellen Lösungen bieten sich an, wenn die Unterbringung von „Geschwisterreihen“ erforderlich ist?
  • Was ist zu tun, wenn sich das Zusammenleben mit Klein(st)kindern als so schwierig erweist, dass es Herkunfts- bzw. Pflegefamilie nicht mehr schaffen?
  • Wie sollten aus fachlicher Sicht Übergänge gestaltet werden?
  • Welche Unterbringungsformen haben sich bereits in der Praxis bewährt, welche neuen innovativen Ansätze, Projekte und Überlegungen gibt es bundesweit hierzu?

Diese Fragen haben wir anhand verschiedener Praxisbeispiele in Arbeitsgruppen und Rundtischgesprächen diskutiert. In Erinnerung geblieben ist mir aus einer Arbeitsgruppe der Satz von Frau Schmidt aus Stuttgart: „Wir machen den Müttern immer zuerst klar, wie es für die Kinder ist, wenn sie mit ihnen leben müssen.“ Und dass für später dann ein „dürfen“ daraus werden soll …

In einem der moderierten Rundtischgespräche am zweiten Arbeitstag sagte Prof. Wolf, dass es im europäischen Kontext erforschte, harte Indikatoren für die Zufriedenheit von Pflegeeltern gibt und diese bestünden nicht etwa in mehr Geld oder einer besseren Werbung von Pflegeeltern. Entscheidend seien die Qualität der Betreuung von Pflegefamilien durch das zuständige Jugendamt und unbürokratische Einzelfallentscheidungen, z.B. wenn es um die Genehmigung notwendiger Therapien für das Kind gehe.

Offen geblieben sind in der Diskussion noch wichtige Forschungsfragen mit weit reichenden Konsequenzen für die Jugendhilfepraxis und in erster Linie für die betroffenen Kinder:

  • Was passiert denn nach einer Rückkehr (in die Familien)?
  • Und was bedeutet es, wenn Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sagen: „Wir müssen ‚die’ rechtzeitig unterstützen.“? Kontrolle, weil es vielleicht wieder nicht gut gehen könnte? Da gibt es noch vieles zu überdenken, nicht nur den Sprachgebrauch.
  • Ist die diagnostizierte Störung des Kindes, „nicht bindungsfähig“ zu sein, nicht auch zugleich eine „Leistung“, weil es eine elementare Überlebensstrategie ist?
  • Wie bestimme ich als Fachkraft den Zeitpunkt, ab wann eine Bereitschaftspflege in eine „Dauerpflege“ umgewandelt wird? Wie erhalte ich den Kontakt zwischen den Familien? Was ist letztendlich unter pädagogischen Gesichtspunkten verantwortbar?

Weg vom Kampfmuster hin zum Kooperationsmuster
Was nehme ich aus dieser Veranstaltung mit? Dr. Mauri Fries und Barbara Bütow, Martha-Muchow-Institut, Berlin, haben gemeinsam für uns, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den Koffer für die Reise nach Hause gepackt. Was haben sie uns eingepackt?

Wenn ich als Kind zugehört hätte, u.a. das:

  • Bitte schaut noch mehr auf mich, versteht mein Verhalten und nutzt dafür die Forschungsergebnisse
  • Versucht mir meine Eltern zu erhalten, aber nicht um jeden Preis.
  • Legt mich nicht auf Eis.

Wenn ich als Eltern zugehört hätte, u.a. das:

  • Ich bin ein Risikofaktor, der den Jugendämtern viel Arbeit macht.
  • Ich sehe die hohe Arbeitsbelastung, den Druck und die Angst der Leute im Jugendamt.
  • Kann ich schon kommen, obwohl es noch nicht so schlimm ist?
  • Ermöglicht meinem Kind Biografiearbeit, ich bleibe immer Mutter oder Vater.
  • Helft mir, mit der Trennung zurechtzukommen!

Und an die Fachkräfte gerichtet:

Seid sicher, wir und die Zeiten werden nicht besser.
Gebt die Hoffnung nicht auf und tut auch etwas für Euch.

Und damit verbunden die Hoffnung, dass viele Fachkräfte in ihrem Koffer etwas drin haben, von dem sie noch gar nicht wissen, dass sie es mitgenommen haben. Vielleicht das Gefühl, sich von einem Lebensschicksal anrühren zu lassen und etwas dafür tun zu können …

Dipl.-Soz. Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
landua@difu.de

 

 

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