FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2009

 

Solidarisch mit den Pflegeeltern im Interesse des Kindes

«Jedes Pflegekind muss neu erforscht werden»

mit Gudrun Eberhard sprach Christa Zopfi

 

In unsern Köpfen existieren unterschiedliche Mutterbilder. Woran könnten sich Pflegemütter orientieren?

Wer fest gefügte Rollenbilder hat, ist heute schwierig dran. Im Lebensalltag wird Flexibilität verlangt. Wir wissen nicht, wie unsere Gesellschaft in zehn bis zwanzig Jahren ausschaut. Wir können uns nicht mehr auf etwas Festes verlassen; wir haben keine Gewissheit, den Beruf, den wir einmal erlernt haben, lebenslang auszuüben. So kann man sich auch nicht verlassen, dass eine Beziehung, die man einmal eingegangen ist, ein Leben lang hält. Das war früher ein wichtiges Standbein in der Lebensgestaltung.

Die Ehe bedeutete für viele Frauen existenzielle Sicherheit.

Für Frauen, die sich auf das Rollenbild der Hausfrau und Mutter festgelegt hatten, war es eine Katastrophe, wenn die Ehe in Brüche ging – sie stürzten ins soziale Abseits. Auch heute ist es ihnen durch die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland beinahe unmöglich, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Sie geraten in eine Abhängigkeit von der Sozialbehörde. In den unteren sozialen Schichten, wo die Mädchen keine grossen Chancen haben, weil sie eine schlechte Schulbildung vorweisen, sind die Rollenbilder noch sehr fest gefügt; sie bieten eine Identitätsform: «Wenn ich sonst schon keine Möglichkeiten habe, werde ich Mutter und bekomme gesellschaftliche Anerkennung.» Das ist eine schwierige Geschichte, weil dadurch Frauen, die am wenigsten auf eine moderne Mutterschaft vorbereitet sind, die meisten Kinder gebären. Sie rechnen damit, dass sie vom Staat Erziehungs- und Kindergeld bekommen. Das geben sie in der Regel nicht für die Kinder, sondern für den eigenen Lebensunterhalt aus. Bei uns läuft eine heftige Diskussion, ob der Staat nicht sinnvoller in Bildungseinrichtungen investieren sollte, statt das Kindergeld zu erhöhen.

Pflegemütter sind besondere Mütter, vor allem, wenn sie noch eigene Kinder haben. Wie unterscheiden sie sich voneinander?

Pflegemütter mit eigenen Kindern müssen einen Spagat aushalten. Sie spüren sehr deutlich, dass sie zu den Pflegekindern eine andere Beziehung haben als zu den eigenen. Es ist ein Unterschied, ob man Kinder in seinem Bauch getragen hat, die sich nach der Geburt abnabeln mussten, oder ob man ein fremdes Kind in die Familie aufnimmt, es an sich heranzieht und langsam «annabelt». Diesen Unterschied zu spüren, ist ganz wichtig. Die Pflegemütter möchten das fremde Kind wie ein eigenes lieben, und sie spüren, dass dies nicht geht. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Sie zweifeln an sich und an ihrer Liebesfähigkeit, stellen sich die Frage, ob sie die Aufgabe richtig und gut ausführen, ob sie dem Kind das bieten können, was es braucht. Sie haben aber den Vorteil, dass sie Erfahrungen mit eigenen Kindern haben, sie kennen den Entwicklungsprozess, wissen, was etwa üblich oder gesund ist. Das alles hilft ihnen. Wenn Pflegemütter keine eigenen Kinder haben, verbirgt sich in ihnen häufig die Sehnsucht, dass das Pflegekind das fehlende eigene ersetzen soll. Sie richten deshalb Erwartungen an die Kinder, was an und für sich gut ist, denn Erwartungen sind ein wichtiger Sozialisationsfaktor, sie zeigen dem Kind Ziele und Entwicklungslinien auf. Pflegekinder, mit ihrer meist traumatischen Vorgeschichte, sind nicht in der Lage, diese Erwartungen zu erfüllen. Eltern mit eigenen Kindern können leichter davon Abstand nehmen und ihre Erwartungen auf Leistungen ausrichten, die ein Pflegekind erbringen kann. In der Beratungsarbeit ist es wichtig, den Fokus auf diese unbewussten Erwartungen zu legen. Das Pflegekind muss mit der Zeit lernen, dass die Pflegeeltern ganz wichtige Menschen in seinem Leben sind, aber nie seine Eltern werden. Auch das ist ein schmerzhafter Prozess. Wenn er erfolgreich verläuft, macht er deutlich, dass Liebe noch etwas anderes sein kann, als sein eigenes Kind zu lieben.

Was genau ist das Positive an diesem Prozess?

Jede Familie hat eine bestimmte Familienkultur, die gewachsen ist. Sie spiegelt sich in Ritualen und Denkweisen wieder, im Humor, im Umgang mit andern Menschen. Ein Pflegekind passt da nicht ganz hinein, weil es eine andere Familienkultur erlebt hat. Vielleicht spielt die genetische Frage eine wichtigere Rolle, als wir manchmal wahrhaben wollen, auch das Temperament ist zu einem grossen Teil genetisch festgelegt. Das Pflegekind kann sich nur begrenzt anpassen. Es ist umso mehr auf die Toleranz der Pflegeeltern angewiesen, je älter es beim Eintritt in die Familie ist. Ich denke da an einen Jungen, der bei einem kinderlosen Pflegeelternpaar lebte. Er hatte eine leichte Autismusstörung und konnte die emotionale Bedeutung einer Aussage nicht erfassen. Wenn jemand lachte, wusste er nicht, weshalb. Die Pflegemutter erklärte ihm, wenn jemand zum Beispiel den Mund verziehe und dem Gegenüber in die Augen blicke, dann freue er sich und lache. Weil der Junge sehr intelligent war, hat er das begriffen, und die Pflegemutter hat jahrelang mit ihm geübt. Er arbeitet jetzt in einem Call-Center – da ist er perfekt. Am Telefon muss man alles über Worte transportieren, und dies hat er mit Hilfe seiner Pflegemutter und von Fachleuten erworben.

Wie konnte die Pflegemutter diese Störung erkennen?

Die haben wir in unserem «Beratungskreis» nach langen Fallgesprächen diagnostiziert, und Fachleute haben sie bestätigt. Für die Pflegemutter war es ganz wichtig zu erfahren, dass sie dem Jungen trotz Behinderung sehr viel mitgeben konnte. Dadurch bekam sie eine Lebensaufgabe, die schöner und wichtiger nicht sein kann. Auch für den Pflegevater war es wichtig zu begreifen, dass der Junge krank war, und ein krankes Kind in die Familie zu integrieren, ist schwierig und zugleich befriedigend. Praktisch alle unsere Pflegeeltern haben ein tiefes Gefühl dafür, dass die Pflegekinder sie herausforderten wie sonst nichts im Leben. Wenn man an seine Grenzen gebracht wird und dies übersteht, erfährt man eine unglaubliche Bereicherung. Da entsteht ein Gefühl der Dankbarkeit, weil einem die Pflegekinder Höhen und Tiefen vermitteln, die der Mensch braucht, um seine seelische Bandbreite erleben zu können.

Was könnte der Grund sein, weshalb in vielen Pflegefamilien ein konventionelles Familienkonzept besteht, mit traditioneller Rollenverteilung zwischen Frau und Mann?

Das Modell der Familie ist uralt. Es hat geradezu Schwerkraft, egal, wohin sich die Gesellschaft entwickelt, und es hat auch Vorteile: Es bietet den Menschen Sicherheit, einen Intimraum und einen Ort des Rückzugs. Die Sehnsucht danach ist heute wieder stärker, weil die Anforderungen an Flexibilität zunehmen. Das ist eigentlich ein gesundes Zeichen. Die Menschen bemühen sich, einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre seelischen Bedürfnisse gut unterbringen können. Das Konzept Vater-Mutter-Kind ist ein gutes Konzept und nicht zu verwechseln mit der bürgerlichen Familie, bei der der Vater ausser Haus erwerbstätig und die Mutter für den Haushalt, für Wärme und Emotionalität zuständig ist. Wenn schon, sollte man auf das alte Konzept zurückgreifen. Wenn ein Kind geboren wird, ist es naheliegend, dass die Mutter zu Hause bleibt, weil sie das Kind stillt. Ich glaube, dass ein Pflegekind in der Anfangszeit im übertragenen Sinn erst mal die «Mutterbrust» braucht, auch wenn die keine Milch gibt, sondern Wärme, Geborgenheit, Kuscheln. Ich glaube auch, dass Frauen darauf besser vorbereitet sind als Männer. Dass eine Frau Milch geben kann, hängt mit Hormonen zusammen – sie steuern auch unser Denken, hemmen Aggressionen und haben die Funktion, dass die Mütter nicht von Wutgefühlen überschwemmt werden, wenn die Kleinen Dummheiten anstellen. Wichtig ist, dass sich Pflegeeltern über ihr Rollenverständnis austauschen, dass sie auch flexibel sind. Vielleicht gibt es eine Phase, in der es sinnvoll ist, dass der Vater zu Hause bleibt und für das Kind sorgt. Wenn die Mutter von ihrer Arbeit nach Hause kommt, hat sie einen freieren Blick auf die Geschehnisse und kann den Vater stützen oder ihn entlasten. Es ist wichtig, dass Pflegeeltern ihre Rollen immer wieder reflektieren, und zwar nicht alleine, sondern in einer Gruppe.

So verstanden orientiert sich dieses Mutterbild an einer «nährenden Brust», ob diese weiblich oder männlich ist?

Im Kopf haben wir alle diese Mutterbilder. Das alte Familienkonzept ist mit der Sehnsucht nach Sicherheit verbunden und kann die auch vermitteln. Wir sollten uns aber nicht darauf fixieren und uns fragen, was daran gut ist, und diese Erkenntnisse in die Pflegefamilie übertragen. Kinder brauchen eine warme, nährende Mutterbrust, auch wenn sie älter sind. Wenn der Vater dies bieten kann, dann soll er es tun. Pflegemütter müssen sich daran orientieren, dass Pflegekinder einen riesigen Nachholbedarf haben, sie sind immer in der Säuglingssituation – das muss eine Familie wissen, die ein Pflegekind aufnimmt, auch wenn es sieben oder neun Jahre alt ist. Eine Abklärung muss bestätigen, dass die Pflegeeltern dies leisten können und wollen. Wenn sie zum Schluss kommen, dass sie diese «Nahrung» nicht geben können, sollten sie kein Pflegekind aufnehmen. Ich denke an einen Pflegevater, der diese Rolle sehr gut übernommen hat – eine burschikose, kumpelhafte aber ganz liebevolle und geduldige Art, mit den Kindern umzugehen. Er spürt, was sie brauchen, und das ist das Entscheidende. Pflegeeltern müssen auch wissen, dass die Kinder meist schwere Entwicklungsstörungen mitbringen. Es braucht sehr viel Zeit, Geduld und Kraft, einem solchen Kind nochmals eine Lebenschance zu geben. Das schafft man nicht, wenn beide berufstätig sind und nur begrenzt Zeit haben für das Kind. Deshalb der Rückgriff auf traditionelle Rollenbilder.

Wenn eine Frau ein Kind mit einer Behinderung zur Welt bringt, bekommt sie Beratung und das Kind eine oder mehrere Therapien. Da sehe ich eine Parallele zu Pflegekindern mit schweren Entwicklungsstörungen.

Ich finde es schlimm, dass diese schweren emotionalen Behinderungen von den zuständigen Leuten oft nicht zur Kenntnis genommen werden, im Gegenteil. Statt die Pflegeeltern zu beraten und zu begleiten, sind sie erstaunt, wenn nach zwei Jahren nicht alle Probleme gelöst sind. Erfahrene Pflegeeltern schaffen es relativ schnell, dem Kind gute «Krücken» in die Hand zu geben, sodass sie oberflächlich gesehen schon bald anpassungsfähig sind: Sie sind höflich und können sich ausdrücken. Die Grundstörung ist aber nach wie vor da. Das hat dann häufig zur Folge, dass die Kindergärtnerin oder die Lehrerperson Erwartungen an das Kind stellen, die es gar nicht erfüllen kann. Daraus entstehen ganz schwierige Situationen für alle Beteiligten.

Pflegeeltern, die sich Ihrem Projekt «TPP, Therapeutisches Programm für Pflegekinder» angeschlossen haben, kommen in den Genuss einer kontinuierlichen Weiterbildung. Wie läuft das?

Ich bin der Meinung, dass es nicht ausreicht, in einem Kurs theoretisch bestimmte Probleme zu besprechen. Die Pflegeeltern müssen anhand ihrer konkreten Situationen die entsprechenden Theorien vermittelt bekommen. Die Erfahrungen der andern Gruppenmitglieder sind sehr wertvoll. Viele Probleme in der Arbeit mit Pflegekindern lassen sich nicht lösen, was Pflegeeltern oft an den Rand der Verzweiflung bringt. Wenn sie hören, dass es andern ebenso geht, können sie die Belastung besser tragen. Dies ist gewährleistet, wenn man in einer festen Gruppe seine Fragen besprechen kann. Bei uns verpflichten sich die Pflegeeltern, regelmässig die Sitzungen zu besuchen, und nicht nur, wenn sie Probleme haben. Auch das Jugendamt hat versucht, solche Gruppen zu bilden, die dann immer wieder auseinandergefallen sind. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Besuch freiwillig ist, zum anderen, dass das Amt auch Kontrolle ausübt und die Pflegeeltern nicht offen reden können aus Angst, als ungeeignet dazustehen. Bei uns wissen sie, dass wir zum Wohle des Kindes ganz auf ihrer Seite stehen. Dadurch, dass sie sich alle drei Wochen treffen, kennen sie sich gut und haben Vertrauen zueinander. Wenn das Kind im Zentrum steht, fühlen sich die Pflegeeltern vermutlich auch nicht persönlich angegriffen, wenn es Probleme gibt. Eine weitere Stärke unseres Modells ist die Aktionsforschung, weil hier jede und jeder ein Fachmitglied ist. Jeder ist mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten, seinen Gefühlen gleich wichtig. Jeder ist Forschungsobjekt und Forschungssubjekt. Jedes Pflegekind muss neu erforscht werden. Man kann nicht in eine Fachkiste greifen und Lösungen für die Probleme finden.

veröffentlicht in NETZ 1, 2009, s. www.pflegekinder.ch

 

 

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