FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Erfahrungsbericht / Jahrgang 2005

 

Kampf um Verbleib eines Pflegekindes
Erfahrungsbericht aus Nordrhein-Westfalen


Im Januar 1998 nahmen wir unseren Pflegesohn Markus bei uns auf – gerade zwei Jahre und lebhaft, aber auch stark entwicklungsverzögert, sehr distanzlos, motorisch unruhig unkonzentriert und ein emotionaler Grenzgänger zwischen Lebensfreude, „Depressionen“ und absoluter Aggressivität.

Er hatte mit seiner Mutter in einer Mutter-Kind-Einrichtung gelebt, wurde aber trotz der Betreuung nur mangelhaft versorgt, geschlagen und eingesperrt. Stabile Beziehungen kannte er nicht. Die Mutter war antriebsarm, labil und „chaotisch“. Der Vater, zum Zeitpunkt der Geburt gerade 17 Jahre, konnte sie kaum unterstützen, die Beziehung der beiden war durch häufige Trennungen und Versöhnungen und körperliche Gewalt geprägt.

Markus entwickelte sich in fast allen Bereichen recht schnell. Was blieb, waren eine große Selbstunsicherheit, extreme Launenhaftigkeit,  starke Aggressivität gegen sich selbst und andere, absolute Unfähigkeit, sich länger zu konzentrieren und ein „schwarzes Loch“ – ein Gefühl, dass Markus fast immer hatte und das bedeutete: nie genug, nie zufrieden, nie „satt“.

Das Pflegeverhältnis verlief ziemlich unspektakulär. Unser Kontakt zum Vater war akzeptabel, zur Mutter sehr distanziert und angespannt. Besuchskontakte fanden alle 14 Tage für drei Stunden statt. Es kam  zwar immer wieder zu Problemen, Unzuverlässigkeiten, Vergessen des Termins, unangebrachte Besuchsgestaltung u.ä., aber dies ließ sich mit den bekannten Problemen der Eltern erklären und überraschte weder das Jugendamt noch uns besonders. Von Rückführung sprach niemand, und als die Eltern im November 1998 eine Tochter bekamen und aufgrund der weiterhin fraglichen Erziehungsfähigkeit eine Sozialpädagogische Familienhilfe eingesetzt wurde, waren wir uns der Dauerpflege sicher. Es war sehr klar, dass die Eltern – wenn überhaupt – mit nur einem Kind zurecht kommen würden.

Im April 1999 erklärten die Eltern jedoch während eines Hilfeplangespräches völlig unvermittelt, dass sie Markus wieder in ihren Haushalt aufnehmen wollten. Sie hätten ihre persönlichen Umstände geregelt (einen Monat zuvor hatten sie geheiratet) und kämen mit dem Baby gut zurecht. Die SPFH der Familie, die an diesem Gespräch teilnahm, bestätigte dies und befürwortete ebenfalls die Rückführung. Der Rückführungswunsch der Eltern wurde sofort und völlig ungeprüft akzeptiert. Mit der leiblichen Familie hatten in den letzten 16 Monaten weder der ASD noch der Pflegekinderdienst näheren Kontakt, man verließ sich allein auf das Wort der SPFH, unsere Bedenken wurden vollständig übergangen.

Zur Vorbereitung der Rückführung wurden ab sofort erweiterte Besuchskontakte vereinbart, sie sollten nun einmal wöchentlich ganztägig im Haushalt der Eltern stattfinden. Nach zwei Monaten sollte ein erneuter Hilfeplan stattfinden, in dem über die konkrete Rückführungsphase beraten werden sollte.

Die erweiterte Besuchsregelung entwickelte sich katastrophal. Markus, eigentlich zuverlässig sauber, begann einzukoten und seinen Kot in den Zimmern und an sich selbst zu verteilen. Er hatte massive Einschlafprobleme, weinte sich in den Schlaf und schlief nicht mehr im Dunkeln. Sein gesundheitlicher Zustand (Neurodermitis) verschlechterte sich dramatisch. Drei Wochen führten wir die Besuchskontakte durch und informierten jedes Mal den Pflegekinderdienst über die Folgen. Wir baten um ein erneutes Gespräch, da wir sowohl die Besuchsausweitung als auch die Rückführung insgesamt für nicht vertretbar hielten, wurden aber jedes Mal auf das in zwei Monaten anberaumte Gespräch verwiesen und sollten bis dahin „die Situation beobachten“. Unsere Sozialarbeiterin beim PKD erklärte uns, dass auch sie die Rückführung zwar für ein wenig übereilt halte, sie aber nicht fallverantwortlich und damit fast handlungsunfähig sei und sie die Entscheidung ihrer ASD-Kollegin akzeptiere, da das Jugendamt nach außen „mit einer Zunge“ rede. Eine Einigung „auf friedlichem Weg“ schien nicht möglich.

Daher wandten wir uns Mitte Mai 1999 an eine Fachanwältin, Frau Marquardt aus Köln, und stellten einen Antrag auf Verbleib gem. § 1632 Abs. 4 BGB. Zudem sagten wir die weiteren ganztägigen Besuchskontakte aufgrund der schlechten physischen und psychischen Verfassung von Markus ab. Das machte zwar alle wütend, es handelte aber niemand, und ein Gespräch fand erst zum zuvor vereinbarten Zeitpunkt, fünf Wochen später, statt. Eine kurze Pause zum Luftholen...

Zum Zeitpunkt des Gespräches waren die Eltern und das Jugendamt dann von dem von uns gestellten Verbleibensantrag informiert, die Stimmung war ausgesprochen „frostig“. Verweigerung der Besuchskontakte und Verbleibensantrag das grenzte an Meuterei. Aber immerhin wurde in diesem Gespräch nach zähem Ringen zunächst einmal nahezu die vorherige Besuchsregelung – 14-tägig, diesmal für 4 Stunden – vereinbart.

Auch die Eltern hatten sich mittlerweile einen Rechtsanwalt genommen, der natürlich die Abweisung des Antrages beantragt hatte. Das Jugendamt war zur Stellungnahme aufgefordert worden und äußerte sich, weiterhin ohne eigene Erkenntnisse und auf das Wort der SPFH vertrauend, zur Rückführung euphorisch. Die Eltern seien bemüht, es habe zwar immer kleinere aber nicht wirklich dramatische Unzuverlässigkeiten gegeben, man befürworte die Rückführung insgesamt. Alle Verfahrensbeteiligten beantragten in ihren Anträgen, Gegenanträgen und Stellungsnahmen die Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens. Der Ton der verschiedenen Stellungnahmen war (gelinde gesagt) recht rau und auch häufig unterhalb der Gürtellinie, und wir durften lernen, wie die gleichen Fakten von verschiedenen Seiten gänzlich unterschiedlich ausgelegt werden.

Im September 1999 erhielt Markus einen Verfahrenspfleger, einen Anwalt, den wir zum ersten und letzten Mal am Tag der gerichtlichen Anhörung sahen, wo er schwieg. Zugleich wurde vom Gericht ein unabhängiger Gutachter bestellt, der „zu der Frage, ob durch die beabsichtigte Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt der Pflegeeltern die Gefahr schwerwiegender Entwicklungsstörungen zu besorgen ist“ Stellung nehmen sollte und „gegebenenfalls Wege aufzeigen, durch die eine Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie ohne Gefährdung des Kindeswohles möglich erscheint.“

Der Gutachter begann mit seine Arbeit zwei Monate später, nach weiteren drei Monaten lag das Gutachten schriftlich vor (Februar 2000). Wir hatten mit dem Gutachter ein Riesenglück. Er machte seine Arbeit sehr ausführlich und gewissenhaft, explorierte die Eltern und uns in mehreren Einzelgesprächen, beobachtete, testete und befragte Markus in drei Stunden und führte mehrstündige Umgangsbeobachtungen mit den leiblichen Eltern und uns durch. Das Gutachten war sehr umfangreich und im Ergebnis sehr eindeutig: Der Gutachter sprach den Eltern für Markus jegliche Erziehungsfähigkeit ab. Sie seien nicht ansatzweise in der Lage, bereits die versorgerischen Bedürfnisse von Markus zu erkennen und zu befriedigen, gleiches gelte für die emotionalen Bedürfnisse. Die Erziehungsdefizite seien so massiv, dass sie auch mit der Hilfestellung durch eine SPFH nicht auszugleichen seien. Er bestätigte die festen Bindungen an uns und erklärte ausdrücklich, dass eine Rückführung ohne Gefährdung des Kindeswohles nicht möglich erscheine. Letztlich strafte er auch nahezu alle Aussagen und Stellungnahmen der SPFH Lügen.

Nach Vorlage des Gutachten änderte sich die Meinung des Jugendamtes zur Frage der Rückführung schlagartig. Es plädierte nun für einen Verbleib bei uns und erklärte, die Erkenntnisse des Gutachtens seien so nicht bekannt gewesen. Das erstaunte uns schon sehr, denn die Argumente und Begründungen des Gutachters deckten sich nahezu 1:1 mit unseren Einwendungen und Erklärungen gegen eine Rückführung und waren bei Kenntnis der Familie keinesfalls überraschend. Wir stiegen von einer „persona non grata“ wieder zu einer ernstzunehmenden Pflegefamilie auf und hofften nun auf einen zügigen Abschluss des Verfahrens.

Statt dessen begann ein erneuter Briefwechsel zwischen den Anwälten. Ziel war eine außergerichtliche Einigung und dies schien auch zunächst erfolgreich. Dann begann der Anwalt der Eltern jedoch, die freiwillige Zustimmung zum Verbleib an eine deutlich erweiterte Besuchsregelung (14-tägig am Wochenende sowie jeweils an den 2. hohen Feiertagen) zu knüpfen. Dies kam aber weder für uns noch für den Pflegekinderdienst, der nun endlich deutlich Stellung bezog, in Betracht. Wir strebten einen weiteren Abstand an.  Der Streit um die Umgangsregelung zog sich Monat um Monat hin und verhinderte eine Anhörung zur Verbleibensanordnung. Im Juni 2000 schien sich eine Lösung abzuzeichnen: Die Eltern, die sich mittlerweile wieder getrennt hatten, stimmten monatlichen Besuchskontakten zu. Das Ende schien wieder einmal nahe.

Der Anwalt der Eltern intervenierte jedoch unmittelbar, unterstützt von der SPFH,  nach dem Gespräch bei Gericht und beantragte nun eine gerichtliche Regelung des Umgangsrechtes.

Wegen dieses neuen Antrages wurden wieder monatelang Stellungnahmen ans Gericht verfasst, bis es dann im März 2001 – und damit 1 ¾ Jahre nach unserem Verbleibensantrag und ein Jahr nach Abschluss des Gutachtens – endlich zur Anhörung kam. Dort erklärten sich die Eltern mit Markus` Verbleib bei uns einverstanden, so dass wir unseren Antrag auf Verbleib zurückzogen. Hinsichtlich der Besuchsregelung wurde ein Vergleich geschlossen: Markus sollte seine Eltern einmal monatlich für vier Stunden und an jeweils einem Feiertag zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten für ebenfalls vier Stunden besuchen. Damit wurde nahezu die Besuchsregelung festgelegt, die bereits acht Monate zuvor im Rahmen der Hilfeplanung vereinbart worden war.

Nach Abschluss des Verfahrens haben die Eltern von Markus ihr gerichtlich so massiv eingefordertes Umgangsrecht noch ca. ein Jahr genutzt – allerdings sehr unregelmäßig und deutlich weniger, als es ihnen zugestanden hätte. Sie nahmen noch an einem Hilfeplan teil, bei dem sie einer Teilübertragung des Sorgerechtes für die Bereiche schulische Angelegenheiten und Gesundheitsfürsorge zustimmten (aktuell beantragen wir die Übertragung auch der übrigen Teile der Vormundschaft). Seit knapp drei Jahren besteht nun keinerlei Kontakt mehr.

Unser Verbleibensantrag war notwendig. Er wäre es aber nicht gewesen, wenn das Jugendamt – anstatt sich nur auf das Wort der SPFH zu verlassen – eigene Überlegungen angestellt hätte.

Was blieb, war ein schaler Beigeschmack über die fachlichen Fehler des Jugendamtes, das der SPFH, die sich wiederholt in beleidigender Form über uns und nachweislich falsch über die Entwicklung in der leiblichen Familie geäußert hatte, blind vertraute und unsere Bedenken nicht ernst nahm, eine hohe Rechtsanwaltsrechnung und ein toller Pflegesohn, der nun – mittlerweile mit zwei weiteren Pflegekindern – dauerhaft bei uns aufwachsen darf.

Markus hat an einer zweijährigen Spieltherapie teilgenommen und sich hinsichtlich seiner emotionalen Defizite deutlich stabilisiert. Er besucht zur Zeit die 3. Klasse der Grundschule.

Übrigens erhielten wir zwei Monate nach Abschluss des Verfahrens eine Rechnung der Gerichtskasse über 6000 DM (Auslagen für Zustellungen und Sachverständigenentschädigung). Auf Erinnerung unserer Rechtsanwältin, die trotz des Vergleiches vom Gericht als begründet angesehen wurde, wurde die Gerichtskostenrechnung vier Monate später aufgehoben.

S.M. (März, 2005)

 

s.a. Pflegeeltern im Kampf für ihr Pflegekind – emotionale und wirtschaftliche Folgen
s.a. Pflegeeltern müssen weder Gerichts- noch Gutachterkosten zahlen

 

 

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