FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Weiterentwickelte Empfehlungen
des Deutschen Vereins
zur Vollzeitpflege / Verwandtenpflege
(Teil 1)

DV 07/02/04-AF II
26.2.2004

 

Vorbemerkung: In mehreren Bundesländern ist ein bedrohlicher Trend zur Rückentwicklung des Pflegekinderwesens zu beobachten. Gegen diesen Trend richten sich die neugefaßten Empfehlungen des »Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge«. Deshalb werden sie hier in voller Länge publiziert. In das für uns besonders wichtige Kapitel »Auf Dauer angelegte Pflegeformen« schieben wir in Kursivschrift Kommentare aus unserer Sicht und Erfahrung ein.
(G.E. u. K.E. Mai, 2004)

 

Einleitung
Rechtsgrundlagen
Vollzeitpflege als Hilfe zur Erziehung

1. Voraussetzungen für Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege/ Verwandtenpflege
1.1. Der „erzieherische Bedarf“ als Voraussetzung für Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII
1.2. Die Auswahl der Hilfeart nach §§ 27, 33 SGB VIII
1.2.1. Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII als geeignete und notwendige Hilfe i.S.v. § 27 SGB VIII
1.2.2. Abgrenzung zwischen Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII und Heimerziehung/sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII

2. Verhältnis von Adoption und Vollzeitpflege

3. Differenzierung der Vollzeitpflege nach Form und Funktion
3.1. Pflegeformen für die befristete Betreuung von Kindern und Jugendlichen
3.1.1. Kurzzeitige Vollzeitpflege
3.1.2. Interims-Vollzeitpflege
3.1.3. Familiäre Übergangs-/Bereitschaftsbetreuung
3.2. Auf Dauer angelegte Pflegeformen
3.2.1. Allgemeine Vollzeitpflege
3.2.2. Sozialpädagogische Vollzeitpflege
3.2.3. Sonderpädagogische Vollzeitpflege
3.2.4. Exkurs: Abgrenzungsprobleme der besonderen Pflegeformen gegenüber Erziehungsstellen nach § 34 SGB VIII
3.3. Besonderheiten der Großeltern- und Verwandtenpflege
3.3.1. Grundsätzliches zur Großeltern-/Verwandtenpflege
3.3.2. Empfehlungen zur Ausgestaltung der Großeltern- und Verwandtenpflege
3.4. Vollzeitpflege in der Familie des Vormunds oder des Pflegers
3.4.1. Anspruch auf Hilfe zur Erziehung
3.4.2. Pflichten des Jugendamtes

4. Kooperation und Organisation in der Vollzeitpflege
4.1. Verhältnis und Kooperation zwischen freien, öffentlichen und privat-gewerblichen Anbietern
4.1.1. Grundsätzliches zur Kooperation
4.1.2. Rechtliche Bewertung
4.2. Orientierungsrahmen für die Organisation
4.2.1. Aufgabenstellung
4.2.2. Modelle der Aufgabenorganisation
4.2.3. Gewichtungsfaktoren

5. Steuerung des Hilfeprozesses - Hilfeplanung
5.1. Beteiligte
5.2. Dokumentation der Hilfeplanung: Hilfeplan
5.2.1. Kooperation
5.2.2. Lebensperspektiven
5.3. Überprüfung des Hilfeplans

6. Gestaltung des Hilfeprozesses
6.1. Werbung, Erstinformation und Suche nach geeigneten Pflegeeltern
6.2. Qualifizierung von Bewerberinnen/Bewerbern, individuelle Vorbereitung und Eignungsfeststellung
6.3. Die allgemeine Vorbereitung der Inpflegegabe
6.4. Der Vermittlungsprozess
6.5. Die Anbahnung des Pflegeverhältnisses
6.6. Der Beginn des Pflegeverhältnisses
6.7. Die Begleitung laufender Pflegeverhältnisse
6.7.1. Arbeit mit dem Pflegekind
6.7.2. Arbeit mit der Herkunftsfamilie
6.7.3. Arbeit mit der Pflegefamilie
6.7.4. Kontakt- und Umgangsregelungen
6.8. Die Beendigung von Pflegeverhältnissen
6.8.1. Allgemeine Empfehlungen zur Gestaltung von Beendigungsprozessen
6.8.2. Empfehlungen zur Beurteilung und Gestaltung von Rückführungen

7. Sorgerechtliche Aspekte
7.1. Ausgestaltung der sorgerechtlichen Beziehungen bei „freiwilliger“ Inpflegegabe
7.1.1. Gesetzliche Befugnis nach § 1688 BGB
7.1.2. Richterliche Gestaltung nach § 1630 Abs. 3 BGB
7.2. Mögliche zivilrechtliche Folgen bei länger dauernder Vollzeitpflege (Verbleibensanordnung)
7.3. Vollzeitpflege in Folge familiengerichtlicher Sorgerechtsbeschränkung

8. Besondere Aspekte
8.1. Soziale Absicherung der Pflegeeltern
8.2. Risikoabsicherungen für Pflegekinder und Pflegeeltern
8.3. Datenschutz

Einleitung

Die Vollzeitpflege, über Jahrhunderte hinweg lediglich ein öffentlich oder privat arrangiertes Versorgungssystem für verwaiste oder uneheliche Kinder armer Mütter, hat sich erst Mitte der 60er Jahre allmählich zu einer erzieherischen Hilfe mit eigenem Profil entwickelt. Um diese Zeit wurde die Pflegefamilie zunächst als Alternative zu den damals noch verbreiteten Säuglings- und Kleinkindheimen mit ihren hospitalisierenden Wirkungen entdeckt. Anfang der 70er Jahre traten neben die – noch heute dominante – allgemeine Vollzeitpflege (damals noch häufig – das Programm kennzeichnend – als „Dauerpflege“ benannt) dann erste Differenzierungsformen. Mit der in Berlin und Bremen entwickelten „heilpädagogischen Pflegestelle“ öffnete sich das Pflegekinderwesen auch älteren, „heimmüden“ und in ihrer Entwicklung beeinträchtigten Kindern. Die Erziehungsstellen des LWV Hessen suchten ebenfalls seit dieser Zeit im Rahmen der damaligen Freiwilligen Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung auch noch für Jugendliche eine Alternative zur Heimerziehung und seit Beginn der 80er Jahre entstanden regional „sonderpädagogische“ Pflegestelle zumeist für behinderte, auch mehrfachbehinderte Kinder. Mit diesen Formen war die Idee der (semi-) professionellen Pflegefamilie mit Konsequenzen auch für die Verfachlichung der Pflegestellenarbeit über die besonderen Pflegeformen hinaus geboren. Mit dem Modellprojekt „Beratung im Pflegekinderwesen“, im Auftrag des BMJFG vom Deutschen Jugendinstitut konzipiert und unter Beteiligung von 32 Jugendämtern und freien Trägern zwischen 1980 und 1985 realisiert, erhielt das Pflegekinderwesen weitere neue Impulse. Sie wurden Ausgangspunkt für – nicht immer emotionslos geführte – Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des auf die Ablösung der Kinder von traumatisierenden Eltern und auf die volle Integration in die Pflegefamilie setzenden „Ersatzerziehungskonzepts“ und des jetzt in die Diskussion gebrachten, an Modellen systemischer Familientherapie orientierten, „Ergänzungsfamilienkonzepts“. Kompromisshaft ging die Kontroverse in die Formulierung des § 33 SGB VIII ein, der die Ausgestaltung von Pflegeverhältnissen als zeitlich befristete oder als eine auf Dauer angelegte Lebensform, jeweils an bestimmte Voraussetzungen gebunden, vorsieht.

Seit dem In-Kraft-Treten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zu Beginn des letzten Jahrzehnts hat es, die Impulse des neuen Gesetzes aufnehmend, insbesondere auch mit Berufung auf § 33 Satz 2 SGB VIII (Schaffung geeigneter Formen der Familienpflege für entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche) eine Reihe von weiteren Neuentwicklungen gegeben. Viele von ihnen verstehen sich als professionelle, zum Teil sogar verberuflichte Formen des Pflegekinderwesens: Erziehungsstellen, Bereitschafts- oder Übergangspflegestellen, Pflegeformen für ein besonderes Klientel, z.B. für besonders stark traumatisierte Kinder oder Kinder von HIV-infizierten oder an AIDS erkrankten Personen. Teils unter gleicher Begrifflichkeit, teils mit Kunstnamen versehen, ist eine nur noch schwer überschaubare Vielfalt von Sonderformen, besonderen Konzepten und besonderen Organisationsformen entstanden, eine Entwicklung die durch die Öffnung des Heimsystems für pflegefamilienähnliche Betreuungsformen noch verstärkt wurde.

Überlebt hat darüber hinaus auch die älteste Betreuungsform für die Versorgung „familienloser“ oder „familiengelöster“ Kinder, ihre Versorgung durch Angehörige des erweiterten Familienkreises. Nicht im Wortlaut des Gesetzes, wohl aber in der Gesetzeskommentierung, ist sie als Großeltern- und Verwandtenpflege weiterhin auch rechtlich verankert, in jüngerer Zeit allerdings Gegenstand einer die Anerkennung von Großeltern als Pflegepersonen im Sinne des § 33 SGB VIII erschwerenden höchstrichterlichen Rechtsprechung geworden.

Die an sich begrüßenswerte Vielfalt des Pflegekinderwesens, zu der auch noch Pflegeverhältnisse außerhalb der §§ 27, 33 SGB VIII gehören, nämlich privat arrangierte Pflegeformen mit keiner oder nur mit geringer öffentlicher Aufsicht sowie die Adoptionspflege, beginnt besonders in ihren Randbereichen in Feldern, in denen es Überschneidungen mit Regelungen außerhalb des Unterabschnitts „Hilfe zur Erziehung“ gibt, unübersichtlich zu werden.

Mit diesen fachlichen Empfehlungen wird eine Rückbesinnung auf grundlegende Funktionen des Pflegekinderwesens initiiert und eine gewisse Ordnung in die Vielfalt gebracht. Reagiert wird damit auch auf neuralgische Praxisprobleme, insbesondere auf wechselseitige Anerkennungsfragen nach Wechsel der Zuständigkeit und auf Abgrenzungsfragen zwischen unterschiedlichen familiären Betreuungsformen im Rahmen und außerhalb des Rahmens erzieherischer Hilfen im Sinne der §§ 27 ff. SGB VIII.

Die Gliederung und der Umfang der Empfehlungen mögen zunächst irritieren. Doch kann der Text als „Modulwerk“ genutzt werden – er ist so abgefasst, dass jedes Kapitel für sich Aussagekraft hat und Orientierungen eröffnet.

Rechtsgrundlagen

Für die vielfältigen Funktionen der Vollzeitpflege enthält das SGB VIII verschiedene Rechtsgrundlagen. Neben der klassischen Vollzeitpflege als Hilfe zur Erziehung und der dort geregelten Sonderform für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche (§§ 27, 33, 39 SGB VIII) sieht das Gesetz die Vollzeitpflege auch als Form der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche vor (§ 35a Abs. 1 Satz 2 Nr.3 SGB VIII). Darüber hinaus wird Vollzeitpflege auch eingesetzt im Rahmen der Inobhutnahme (§ 42 Abs. 1 Nr.1 SGB VIII). Zur Betreuung und Versorgung in Notsituationen (§ 20 SGB VIII) kann im Einzelfall auch die Unterbringung bei einer Pflegeperson in Betracht kommen, wenn die vorrangig anzustrebende Versorgung des Kindes im elterlichen Haushalt nicht möglich ist.

Als Rechtsgrundlagen außerhalb des SGB VIII sind insbesondere die Adoptionspflege (§ 1744 BGB) und die Unterbringung in geeigneten Pflegestellen im Rahmen der Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche (§§ 39 ff. BSHG) zu nennen.

Aus der jeweiligen Funktion der Vollzeitpflege ergeben sich auch spezifische Anforderungen an die Pflegeperson und die Ausgestaltung der Hilfe.

Vollzeitpflege als Hilfe zur Erziehung
1. Voraussetzungen für Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege/ Verwandtenpflege
1.1 Der „erzieherische Bedarf“ als Voraussetzung für Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII

Inhaber des Rechtsanspruchs auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII ist der Personensorgeberechtigte.

Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung setzt gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII voraus, dass eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist.

„Nichtgewährleistung“ einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung liegt vor, wenn die Personensorgeberechtigten mit ihren Mitteln den Anspruch des Kindes oder Jugendlichen auf Erziehung i. S. v. § 1 Abs. 1 SGB VIII nicht sicherstellen können. Dies ist der Fall, wenn eine Fehlentwicklung bzw. ein Rückstand oder Stillstand der Persönlichkeitsentwicklung festzustellen oder nach fachlicher Einschätzung zu erwarten ist.

Bei der Beurteilung, ob eine defizitäre Erziehungssituation in diesem Sinn vorliegt, ist sowohl auf das erzieherische Handeln bzw. Nichthandeln, d.h. die bewussten und unbewussten pädagogischen Einwirkungen auf das Kind in der Familie, als auch auf das Ergebnis des erzieherischen Verhaltens abzustellen. Der Erziehungsstand des Kindes ist hierbei unter Berücksichtigung seiner konkreten Lebenslage, d.h. seines Alters, seiner Entwicklung und seiner Sozialisationsbedingungen, zu beurteilen.

Dabei kommt es auf die einzelnen Faktoren, die der erzieherischen Defizitsituation zugrunde liegen, nicht an. Soziale, gesundheitliche, psychische oder psychosoziale Belastungen der Familie begründen an sich keinen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung. Maßgeblich ist vielmehr der Zustand, den sie herbeiführen. Beeinträchtigt dieser die persönliche Entwicklung des Kindes und können ihn die Personensorgeberechtigten ohne Hilfe zur Erziehung nicht beseitigen, ist der Hilfetatbestand des § 27 Abs. 1 SGB VIII erfüllt, ohne dass hierfür eine Gefährdung des Kindeswohls im Sinne von § 1666 BGB festgestellt werden muss.

1.2 Die Auswahl der Hilfeart nach §§ 27, 33 SGB VIII
1.2.1 Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII als geeignete und notwendige Hilfe i.S.v. § 27 SGB VIII

Liegt ein erzieherischer Bedarf vor und ist damit die Voraussetzung der Gewährung einer Hilfe zur Erziehung erfüllt, so muss nach § 27 Abs. 1 SGB VIII die für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen geeignete und notwendige Hilfe ausgewählt werden.

Die konkrete, jeweils zu gewährende Hilfe muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend nach Maßgabe des vorliegenden erzieherischen Bedarfs durch Abwägung zwischen den im Einzelfall geeigneten und notwendigen Hilfen ermittelt werden.

Die gewählte Hilfe muss sich für die Erreichung des mit der Hilfegewährung erstrebten Zweckes eignen. Dies ist der Fall, wenn sie die prognostische Einschätzung erlaubt, dass mit ihr am besten die jeweilige erzieherische Mängellage behoben werden kann.

Notwendig ist diejenige Hilfe, die erforderlich ist, um den mit der Hilfegewährung angestrebten Zweck zu erreichen. Das bedeutet, dass die Notwendigkeit einer Hilfe dann gegeben ist, wenn diese zum einen dem erzieherischen Bedarf gerecht wird und zum anderen in ihren Einwirkungen auf die betreffende Familie das schonendste Mittel darstellt.

Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe orientieren sich demnach am erzieherischen Bedarf, der nicht nur Voraussetzung für die Begründung des Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung ist, sondern auch als Maßstab für die Hilfeauswahl und den Hilfeumfang fungiert.

Die Zuordnung eines bestimmten erzieherischen Bedarfs und einer bestimmten Hilfeart vollzieht sich im Wege des in § 36 SGB VIII geregelten Entscheidungsverfahrens.

Vollzeitpflege kann gem. § 33 SGB VIII entsprechend dem Alter und Entwicklungsstandes des Kindes bzw. Jugendlichen, seiner persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie entweder eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten.

Generell liegt ein dieser Hilfeform entsprechender Bedarf vor, wenn Eltern wichtige Versorgungs- und Erziehungsfunktionen nicht wahrnehmen und die betroffenen Kinder nicht mehr über familienunterstützende Hilfen erreicht werden können.

Da Vollzeitpflege jedoch sowohl auf kurze Zeit als auch auf Dauer angelegt sein kann, muss möglichst schon vor der Inpflegegabe festgestellt werden, mit welcher Perspektive das Pflegeverhältnis einzurichten ist. Es sind Handlungsvorgaben entweder für eine baldige Rückführung des Kindes zu erarbeiten, oder es muss – soweit es für diese Option innerhalb eines am Alter des Kindes orientierten Zeitrahmens nach fachlicher Bewertung keine realistische Grundlage gibt – nach einer auf Dauer angelegten Lösung gesucht werden. Dem Erfordernis einer besonders sorgfältigen, alle Beteiligten einbeziehenden Vorbereitung trägt das SGB VIII durch §§ 36 und 37 Rechnung.

Die Vollzeitpflege nimmt in zweierlei Hinsicht innerhalb der Hilfe zur Erziehung eine Sonderstellung ein:

    Ø Als lediglich eine Art der Hilfe zur Erziehung erscheint sie nur, wenn sie der vorübergehenden sozialpädagogischen Hilfeerbringung dient, entweder als zeitlich begrenzte familienergänzende Erziehungshilfe oder als sozialpädagogische Pflegestelle. Bei der Dauerpflege hingegen wird ein neuer Familienzusammenhang begründet, der nicht nur nach jugendhilferechtlichen, sondern auch nach familienrechtlichen Maßstäben zu beurteilen ist.

    Ø Der öffentliche Träger der Jugendhilfe bedient sich bei der Gewährung von Vollzeitpflege eines privaten, von der Verfassung geschützten Lebensraumes, nämlich einer Familie. Oftmals besitzen die hilfeerbringenden Personen keine Berufsqualifikation für diese Aufgabe. Sie verfügen aber über genau jenen dichten Sozialisationsrahmen und über Erfahrungen, mit welchen die Defizite des Kindes aufgeholt werden sollen. Für den Erfolg der Hilfe kommt es entscheidend darauf an, dass für das jeweilige Kind mit der ihm eigenen Lebensgeschichte die geeignete Pflegefamilie ausgewählt wird.

1.2.2 Abgrenzung zwischen Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII und Heimerziehung/sonstige betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII

Das pädagogische Setting der Hilfen gem. § 34 SGB VIII wird einerseits zunehmend familienähnlich gestaltet, andererseits nehmen sich Pflegefamilien in zunehmendem Maße auch besonders entwicklungsbeeinträchtigter Kinder an. Die Unterscheidung zwischen Hilfe zur Erziehung in einer Familie und Hilfe zur Erziehung in einer Institution gestaltet sich daher zunehmend schwieriger.

Zur Abgrenzung zwischen einer Einrichtung i.S.v. § 45 SGB VIII und einer Pflegestelle i.S.v. § 44 SGB VIII können folgende konstitutive Wesensmerkmale der betreffenden hilfeerbringenden Stellen herangezogen werden:

Pflegestelle (§ 33 i.V.m. § 44 SGB VIII)

    • Pflegeeltern sind die Betreuungs- und Bezugspersonen des Kindes und teilen mit ihm den familiären Alltag.
    • Das Betreuungsverhältnis ist an ein bestimmtes Kind gebunden.
    • Es besteht kein Anstellungsverhältnis oder ein sonstiges weisungsgebundenes Verhältnis zu einem Leistungsträger.
    • Die Zahl der Pflegekinder ist nach oben begrenzt.

Heim und sonstige betreute Wohnform (§ 34 i.V.m. § 45 SGB VIII)

    • Es ist eine Mindestplatzzahl vorgesehen (nur bei landesrechtlichen Vorgaben).
    • Die Betreuung hat eine Orts- und Gebäudebezogenheit.
    • Die institutionelle Betreuung ist vom Wechsel der Betreuungspersonen unabhängig.
    • Die institutionelle Betreuung ist vom Wechsel der zu betreuenden jungen Menschen unabhängig.
    • Die Betreuungskräfte stehen in einem Arbeitsverhältnis oder sonstigem weisungsgebundenen Verhältnis zum Träger. 

2. Verhältnis von Adoption und Vollzeitpflege

Eine Verbindung zwischen der Adoption und einer auf längere Dauer zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie wie der Vollzeitpflege stellt § 36 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII her. Mit der Prüfungspflicht des Jugendamtes, ob „vor und während einer langfristig zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie“ die Annahme als Kind in Betracht kommt, räumt das Gesetz der Adoption einen Vorrang gegenüber anderen Formen dauerhafter Fremdbetreuung ein.

Die Entscheidung, ob eine Fremdunterbringung auf Zeit und mit einer Rückkehroption angelegt ist oder dem Kind/Jugendlichen auf Dauer einen Lebensort außerhalb der Herkunftsfamilie sichern soll, ist unter Abwägung aller relevanten Faktoren so früh wie möglich zu treffen. Bei dieser Prognoseentscheidung sind unter Berücksichtigung des Alters des Kindes/Jugendlichen und seiner persönlichen Bindungen die Chancen abzuwägen, die – innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes/Jugendlichen vertretbaren Zeitraums – für eine nachhaltige Verbesserung der Erziehungskompetenz der Eltern gegeben sind; eine Verbesserung, die es den Eltern ermöglicht, das Kind bzw. den Jugendlichen wieder selbst erziehen zu können. Ergibt sich in diesem Klärungs- und Beratungsprozess zwischen Fachkraft und Eltern, dass die Fremdunterbringung auf längere Dauer angelegt ist, ist im Hilfeplanverfahren zunächst die Adoptionsalternative und anschließend die im Einzelfall angezeigte Hilfe außerhalb der eigenen Familie, z. B. Vollzeitpflege, zu prüfen. Gegebenenfalls wird die Adoptionsfachkraft dann in das Verfahren einbezogen. Die Prüfungspflicht erstreckt sich auch auf die Zeit während der Hilfegewährung und ist im Rahmen der Hilfeplanfortschreibung vorzunehmen.

Ein Eltern-Kind-Verhältnis, das in einem Dauerpflegeverhältnis entstanden ist, kann rechtlich abgesichert werden, indem die Pflegeeltern das Pflegekind adoptieren. Hierfür ist erforderlich, dass die leiblichen Eltern in die Adoption einwilligen oder deren Einwilligung ersetzt wird. In der Praxis scheitert diese Umwandlung nicht selten an der fehlenden Einwilligung der Eltern (§ 1747 BGB) bzw. an der Schwelle, die § 1748 BGB für die Ersetzung der Einwilligung vorsieht. Aber auch auf Seiten der Pflegeeltern können Gründe dafür vorliegen, das Pflegekind (noch) nicht zu adoptieren. Viele Pflegeeltern können sich eine Kindesannahme aus finanziellen Gründen nicht leisten. Liegt ein Antrag auf Adoption seitens der Pflegeeltern vor, enden die Leistungen gemäß §§ 33, 39 SGB VIII ab wirksamer Einwilligung der Eltern in die Adoption bzw. deren rechtskräftiger Ersetzung. Die Adoptiveltern sind dann gegenüber dem Kind unterhaltspflichtig.

Wenn aus einem Vollzeitpflegeverhältnis eine Adoption wird, weil Fakten eingetreten sind, die die Adoption z. B. durch die Pflegeeltern ermöglichen (leiblichen Eltern sind einwilligungsbereit), ist eine Adoptionspflege im Sinne des § 8 AdVermiG nicht notwendig. Die Hilfe zur Erziehung und die Leistungen zum Unterhalt werden dann mit der wirksamen Einwilligung der Eltern in die Adoption beendet.

3. Differenzierung der Vollzeitpflege nach Form und Funktion

Vollzeitpflege nimmt ihrer vielfältigen Ausgestaltung wegen innerhalb der Hilfen zur Erziehung eine Sonderstellung ein. Sie kann als eine zeitlich befristete, also vorübergehende Hilfeleistung ebenso ausgestaltet werden wie als eine auf Dauer angelegte Lebensform. Sie bezieht sich auf ein breites Spektrum von Hilfebedarfen und übernimmt damit für das Gesamtsystem erzieherischer Hilfen unterschiedliche Funktionen. Je nach zeitlicher Perspektive, Hilfebedarf und Funktion werden den Pflegepersonen unterschiedliche Qualifikationen abverlangt. Die nachfolgenden Empfehlungen setzen die vier Kriterien in ein Verhältnis zueinander und verknüpfen sie – unter Beachtung der rechtlichen Voraussetzungen und mit Blick auf Praxisentwicklungen – zu sechs unterschiedlichen Pflegeformen.

Nicht unterschieden wird zunächst zwischen Fremd- und Verwandtenpflege, da grundsätzlich auch Verwandte die unterschiedlichen Funktionen ausfüllen können. Da es in der Praxis dennoch erhebliche Unterschiede in Nutzung und Bewertung von Fremd- und Verwandtenpflegestellen gibt, wird auf die Besonderheiten der Verwandtenpflege in einem gesonderten Abschnitt eingegangen.

3.1 Pflegeformen für die befristete Betreuung von Kindern und Jugendlichen

Im Rahmen der befristeten Betreuung von Kindern und Jugendlichen werden drei Pflegeformen unterschieden:

  • Kurzzeitige Vollzeitpflege für Kinder oder Jugendlichen, die – bei einem bestehenden erzieherischen Bedarf – wegen eines vorübergehenden Ausfalls der Personensorgeberechtigten von diesen nicht versorgt werden können;
  • eine in Anlehnung an den internationalen Sprachgebrauch als Interims-Vollzeitpflege gekennzeichnete Pflegeform, deren Funktion die zeitlich befristete, aber nicht kurzfristige, Betreuung und Versorgung von Kindern oder Jugendlichen ist, deren Rückführung in die Herkunftsfamilie oder deren Verselbständigung in einem zeitlich befristeten Zeitraum angestrebt wird;
  • die Familiäre Übergangs-/Bereitschaftsbetreuung mit der Funktion der Gestaltung von Übergängen im Leben eines Kindes oder Jugendlichen.

Obgleich sich die drei Formen befristeter Unterbringung in ihren Funktionen voneinander unterscheiden, haben sie hinsichtlich der an die Pflegepersonen gestellten Anforderungen sowie deren Rolle und Aufgabenverständnis ein ähnliches Profil. Dies macht es möglich und je nach örtlichen Bedingungen ggf. auch sinnvoll, die selben Personen mal für die eine, mal für die andere Aufgabe zu gewinnen und die drei Pflegeformen organisatorisch zu verbinden.

3.1.1  Kurzzeitige Vollzeitpflege

Ø Charakterisierung der Pflegeform

Der erzieherische Bedarf erstreckt sich auf die Versorgung und Erziehung eines an seine Herkunftsfamilie gebundenen, in seiner Entwicklung nicht gravierend beeinträchtigten Kindes/Jugendlichen, das bzw. der aber dennoch einer besonderen Zuwendung und einer geplanten erzieherischen Hilfe während des vorübergehenden Ausfalls der Personenberechtigten bedarf.

Typische Fallkonstellationen sind:

  • tatsächliche Verhinderung der Personensorgeberechtigten wegen eines zeitlich eingegrenzten Aufenthalts in einem Krankenhaus, einer therapeutischen Einrichtung, einer psychiatrischen Einrichtung oder einer Haftanstalt
  • eine nach fachlicher Einschätzung in einem überschaubaren Zeitraum überwindbare persönliche Krise eines Sorgeberechtigten
  • ein die Erziehungsfähigkeit in einem erheblichen Umfang einschränkender, vorübergehender Erschöpfungszustand
  • eine nach fachlicher Einschätzung vorübergehende Labilisierung eines familiären Systems, etwa in Situationen von Trennung und Scheidung.

Die Pflegepersonen haben die Aufgabe, während des vorübergehenden Ausfalls der Personenberechtigten die Versorgung und Erziehung des Kindes zu sichern. Sie sind Pflegeeltern auf Zeit mit einem spezifischen Versorgungsauftrag. Je nach Fallkonstellation handelt es sich um eine befristete Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen nach § 33 Satz 1 oder § 33 Satz 2 SGB VIII.

Ø Empfehlungen zur Ausgestaltung

Wie jede Form der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII ist auch die kurzzeitige Vollzeitpflege an die Anspruchsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII gebunden. Anders als die Kurzzeitpflege, mit der auf „einfache“ Anlässe, wie kurzfristige Krankheit oder Kuraufenthalt der Personensorgeberechtigten, reagiert wird und die ihrem Charakter nach unter Beachtung des Nachrangigkeitsgebots gegenüber Sozialleistungen anderer Träger nach § 20 SGB VIII (Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen) auszugestalten ist, soll eine kurzzeitige Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII nur dann gewährt werden, wenn das zu versorgende Kind oder der zu versorgende Jugendliche besondere erzieherische Anforderungen an die Pflegepersonen stellt und eine über die Alltagsversorgung hinaus gehende erzieherische oder pflegerische Betreuung und Unterstützung erforderlich ist. Dies kann z.B. auf in der Herkunftsfamilie schlecht (aber noch ausreichend) versorgte Kinder zutreffen, auf Kinder, die wegen einer unsicheren Bindung an die Personen der Herkunftsfamilie während der Trennung besondere Ängste entwickeln, oder auf Kinder, die während der Trennung einer besonderen, z.B. pflegerischen Zuwendung bedürfen.

Obwohl die befristete Vollzeitpflege mehr als eine „einfache“ soziale Notsituation voraussetzt, ist unabdingbare Voraussetzung für eine von vornherein nur für kurze Zeit kalkulierte Versorgung und Betreuung eines Kindes oder Jugendlichen die fachliche Prognose, dass das Kind nach der befristeten Inpflegegabe mit oder ohne Unterstützung des Jugendamtes wieder in seiner Herkunftsfamilie leben kann. Dies kann in der Regel dann angenommen werden, wenn die Personen der Herkunftsfamilie und das Kind oder der Jugendliche hinreichend aneinander gebunden sind und eine längerfristige Trennung von niemandem angestrebt wird.

Die kurzzeitige Unterbringung eines Kindes setzt voraus, dass dem Kind – seinem Alter und Entwicklungsstand sowie den jeweiligen Umständen entsprechend – Gelegenheit  gegeben wird, intensiven Kontakt zu den Personen seiner Herkunftsfamilie zu halten. Die Pflegepersonen müssen bereit sein, dies zu unterstützen.

Insbesondere in Fällen von Erschöpfung und Labilisierung des familiären Systems sind den Personen der Herkunftsfamilie besondere Unterstützungsleistungen durch den Pflegekinderdienst bzw. den Allgemeinen Sozialdienst im Sinne von Krisenintervention anzubieten oder zu arrangieren.

Der Zeitraum der Befristung kann nur unter Berücksichtigung des Gesamts der Umstände im Einzelfall (z.B. Häufigkeit und Qualität der Besuchskontakte) beurteilt werden. Als „Faustregel“ lässt sich sagen, dass eine Befristung um so kürzer sein muss, je jünger ein Kind ist. Auch bei älteren Kindern sollte die Befristung einen Zeitraum von sechs Monaten nicht überschreiten.

Unter vergleichbaren Voraussetzungen ist zu empfehlen, für die kurzfristige Unterbringung Personen im sozialen Umfeld des Kindes oder Jugendlichen zu suchen, um örtliche Trennungen zu vermeiden, Milieuunterschiede zu minimieren und gewachsene Beziehungen „auszunutzen“.

3.1.2 Interims-Vollzeitpflege

Ø Charakterisierung der Pflegeform

Der erzieherische Bedarf erstreckt sich auf die Überwindung einer die Personen der Herkunftsfamilie überfordernden Entwicklungsbeeinträchtigung eines Kindes/Jugendlichen in einem voraussichtlich befristeten, aber nicht kurzen Zeitraum, und/oder die Beseitigung von Faktoren in der Herkunftsfamilie, die zu der pädagogischen Überforderung geführt haben. Von der kurzzeitigen Vollzeitpflege unterscheidet sich die Interims-Vollzeitpflege zum einen hinsichtlich der erwarteten Dauer, zum anderen im Hinblick auf Zielsetzung und Funktion: Sie ist auf die Erlangung oder Wiederherstellung der erzieherischen Kompetenz der Personensorgeberechtigten gerichtet; die Rückführung des Kindes/Jugendlichen in die Herkunftsfamilie wird als mögliche Option betrachtet; die Überwindung eines Entwicklungsrückstandes eines Kindes/Jugendlichen bzw. die Überwindung von „Verhaltensstörungen“ eines Kindes/Jugendlichen erscheinen nach fachlicher Einschätzung in einem befristeten Zeitraum in der Pflegefamilie überwindbar.

Typische Fallkonstellationen sind:

  • in ihrer Familie wegen struktureller erzieherischer Überforderung der Personensorgeberechtigten schlecht versorgte und unzureichend betreute Kinder oder Jugendliche
  • ambivalent an Personen der Herkunftsfamilie gebundene oder unangemessen in die Versorgung der Bezugspersonen eingebundene ältere Kinder oder Jugendliche
  • mit der Erziehung eines Kindes noch überforderte, aber mit Unterstützung stabilisierbare (junge) Mütter

In solchen Fällen übernehmen die Pflegepersonen die pädagogische Verantwortung für das Kind bzw. den Jugendlichen für jenen Zeitraum,

  • der für die Stabilisierung der Personen der Herkunftsfamilie notwendig ist
  • und/oder der notwendig ist, um das Kind so zu fördern, dass eine Rückführung nicht zu einer weiteren pädagogischen Überforderung der Personen der Herkunftsfamilie führt,
  • oder der notwendig ist, um eine (junge) Mutter auf die Übernahme der vollen Verantwortung für ihr Kind vorzubereiten,
  • oder der notwendig ist, um einen Jugendlichen auf die Verselbständigung vorzubereiten.

Die Interims-Vollzeitpflege unterscheidet sich von der kurzzeitigen Vollzeitpflege zunächst durch die gewöhnliche Dauer. Sie füllt mit einer durchschnittlichen Dauer von zwei Jahren eine auch von der Praxis empfundene Lücke zwischen der kurzzeitigen Vollzeitpflege und den auf Dauer angelegten Pflegeformen. Entscheidend ist, dass die Herkunftsfamilie eine besondere Unterstützung durch das Jugendamt erfährt. Sie setzt darüber hinaus aber auch die fachliche Einschätzung voraus, dass die Erziehungsfähigkeit der Sorgeberechtigten mit den tatsächlich verfügbaren Mitteln eines Jugendamtes in einem bestimmten Zeitraum wieder erreicht werden kann. Grundlegende Voraussetzungen hierfür sind das Interesse der Sorgeberechtigten am Wohl des Kindes, ihr Wunsch, die Sorge für das Kind so bald wie möglich wieder selbst zu übernehmen, und ihre Bereitschaft, den Kontakt zum Kind zu halten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu pflegen sowie mit den Pflegeeltern und dem betreuenden Sozialdienst zu kooperieren.

Die Pflegefamilie hat damit einen auf einen befristeten Zeitraum konzentrierten, spezifischen sozialpädagogischen Auftrag zu erfüllen. Es handelt sich hierbei um eine „sozialpädagogische Pflegestelle auf Zeit“, die  rechtlich eine zeitlich befristete Erziehungshilfe nach § 33 SGB VIII darstellt und in der Regel als eine Erziehungshilfe für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche im Sinne des § 33 Satz 2 SGB VIII ausgestaltet ist.

Ø Empfehlungen zur Ausgestaltung

Verantwortbar ist die Einrichtung einer Interims-Vollzeitpflege nur, wenn alle Beteiligten – Personensorgeberechtigte, Pflegepersonen und Soziale Dienste – die Befristung bewusst tragen und das Pflegeverhältnis entsprechend ausgestalten. Auch das Pflegekind muss, soweit hierzu schon in der Lage, die Befristung kennen.

Die Sozialen Dienste werden in aller Regel eine aktive Rolle bei der Förderung von Kooperationsbeziehungen zu spielen und zusätzliche Leistungen zur Wiederherstellung der Erziehungsfähigkeit der Personensorgeberechtigten zu erbringen haben.

Die befristete (sozialpädagogische) Interimspflege stellt hohe Anforderungen an die Pflegepersonen und bedarf deshalb einer besonderen fachlichen Begleitung und in der Regel auch eines (semi-) professionellen Selbstverständnisses der Pflegepersonen sowie einer entsprechenden Vorbildung. Pflegekinderdiensten ist zu empfehlen, die Pflegeform mit einer eigenen Aufgabenbeschreibung zu versehen. Hierzu können auch besondere Werbemaßnahmen, besondere Schulungen und Fortbildungsveranstaltungen sowie die Planung besonderer Unterstützungsleistungen, z.B. Supervision und „Pflegeelternabende“, gehören.

Auch wenn das befristete Pflegeverhältnis verantwortlich geplant und unterstützt wurde, kann nie garantiert werden, dass sich die Planungen tatsächlich realisieren lassen. Es muss immer damit gerechnet werden, dass etwas anders verläuft als geplant. Die Übernahme eines Kindes aus der befristeten Vollzeitpflege in eine auf Dauer angelegte Lebensform sollte deshalb nicht ausgeschlossen werden. Empfohlen wird, dies – so weit möglich – einvernehmlich zwischen den Beteiligten im fortgeschriebenen Hilfeplan ausdrücklich fest zu stellen.

3.1.3 Familiäre Übergangs-/ Bereitschaftsbetreuung

Ø Charakterisierung der Pflegeform

Der erzieherische Bedarf ergibt sich – mit fließenden Übergängen – daraus, dass ein Kind/Jugendlicher entweder wegen Gefährdung seines Wohls zumindest aktuell nicht bei den Personen seiner Herkunftsfamilie verbleiben kann, es/er selbst um Inobhutnahme nachsucht und/oder Zeit zur Klärung seines weiteren Verbleibs benötigt wird. Bei jeder dieser Fallkonstellationen haben die Pflegepersonen den Auftrag, einen Übergang im Leben eines Kindes oder Jugendliche zu unterstützen und zu begleiten. Diese Funktion unterscheidet die Familiäre Übergangs-/ Bereitschaftspflege von allen anderen befristeten Pflegeformen.

Typische Fallkonstellationen sind somit:

  • (vorübergehende) Inobhutnahme eines in der Herkunftsfamilie oder an einem anderen Lebensort nicht versorgten, aktuell gefährdeten Kindes/Jugendlichen
  • „Flucht“ eines Kindes/Jugendlichen von seinem bisherigen Aufenthaltsort und verweigerter Rückkehr
  • Inobhutnahme eines obdachlosen Kindes/Jugendlichen, z.B. nach Entfernung von seinem bisherigen Lebensort
  • vorübergehende Unterbringung eines Kindes/Jugendlichen in einer Familie bis zum Zeitpunkt der Klärung des endgültigen Aufenthalts

Die Pflegepersonen haben die Aufgabe, dem Kind/Jugendlichen in dem zur Klärung der Situation notwendigen zeitlichen Rahmen „Obhut“ zu geben, es zu versorgen und sich am Klärungsprozess für das Kind zu beteiligen. Charakteristisch ist, dass für das Kind oder den Jugendlichen ein Übergang zu gestalten ist. Rechtlich handelt es sich um eine erzieherische Hilfe gemäß § 33 Satz 2 SGB VIII oder um eine Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen gemäß

§ 42 SGB VIII oder um eine Herausnahme des Kindes oder Jugendlichen ohne Zustimmung der Personensorgeberechtigten gemäß § 43 SGB VIII, wobei die Übergange zwischen einer Maßnahme nach §§ 42, 43 SGB VIII und einer Leistung nach § 33 SGB VIII fließend sein können.

Ø Empfehlungen zur Ausgestaltung

Bei der Entscheidung über die geeignete Rechtsgrundlage sind die rechtlichen Voraussetzungen und Folgen zu überprüfen, insbesondere auch die bei Inobhutnahme oder Herausnahme vom Gesetzgeber verpflichtend vorgeschriebenen Verfahrensweisen. Eine in der Praxis häufig vorkommende Änderung der rechtlichen Grundlage – zumeist die Umwandlung einer Inobhutnahme oder Herausnahme in eine erzieherische Hilfe – ist zu dokumentieren und den an der Unterbringung beteiligten Personen sowie den Personensorgeberechtigten unverzüglich mitzuteilen.

Die zeitliche Perspektive einer Übergangs-/Bereitschaftsbetreuung muss sowohl dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes als auch der besonderen Funktion der Pflegeform angemessen sein. Bei Säuglingen und Kleinkindern sollte ein Zeitraum von drei bis vier Monaten, bei älteren Kindern oder Jugendlichen ein Zeitraum von sechs Monaten nicht überschritten werden. Nur eine strenge zeitliche Limitierung kann ein „Festwachsen“ des Kindes/Jugendlichen in der Pflegefamilie und damit eine neue, ggf. traumatisierende Trennung des Kindes von der Pflegeperson verhindern.

An Personen in der familiären Übergangs-/Bereitschaftspflege richten sich  hohe Anforderungen hinsichtlich  ihrer Bereitschaft, sich ausdrücklich als Pflegeeltern auf Zeit zu verstehen, dem Kind oder Jugendlichen Schutz und Versorgung zu bieten und sich am Klärungsprozess zu beteiligen. Hierzu ist von Übergangs-/ Bereitschaftspflegepersonen ein (semi-) berufliches Verständnis ihrer Rolle zu erwarten, was aber nicht grundsätzlich eine besondere, „einschlägige“ berufliche Ausbildung voraussetzt. Der sehr unterschiedlichen Anforderungen wegen, die mit der Pflegeform verbunden sind, ist zu empfehlen, Pflegepersonen mit unterschiedlichen persönlichen und beruflichen Voraussetzungen für die Aufgabe anzuwerben und bereit zu halten.

Dies gilt auch für die der „Bereitschaftspflege“ namengebende ständige Bereitschaft von Pflegepersonen. Die unterschiedliche Zwecke machen es nicht erforderlich, bei allen Übergangs-/ Bereitschaftspflegestellen eine ständige Bereitschaft vorzusehen. Die konkrete Anzahl sollte nach den örtlichen Gegebenheiten bestimmt werden.

Übergangspflegepersonen sind hohen emotionalen, sozialen und familiären Belastungen ausgesetzt. Dem sollte durch Bereitstellung von Supervision und Gewährleistung von Erholungs- und „Auszeit“-Phasen Rechnung getragen werden.

3.2 Auf Dauer angelegte Pflegeformen

Die „Vollzeitpflege auf unbestimmte Dauer“, die in der Praxis zumeist mit der Erwartung  verbunden ist, dass sich aus ihr eine „auf Dauer angelegte Lebensform“ entwickeln wird, ist die häufigste Pflegeform. Es ist die Pflegeform, an die Menschen denken, wenn von „Pflegekindern“ und „Pflegefamilien“ die Rede ist. Organisationsmittel der Pflegekinderdienste und Allgemeinen Sozialdienste wie Auswahl- und Beratungsmethoden sind hauptsächlich auf sie konzentriert. Auch Pflegegeldzahlungen orientieren sich im wesentlichen an ihr. Gleichzeitig ist diese Regelform ein in sich höchst differenziertes Gebilde. Vermittelt werden Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen und mit unterschiedlichsten biographischen Erfahrungen. In den Herkunftsfamilien der Kinder finden sich all’ jene Probleme, die für Erziehungshilfen überhaupt konstitutiv sind: Erzieherische Überforderung von Eltern/Müttern, Alkohol- und Drogenprobleme, psychische Erkrankungen, Armut und Obdachlosigkeit, unzureichende Versorgung, chronische Vernachlässigung, Überforderung der Kinder durch Übernahme der Elternrolle für Ihre Eltern (Parentifizierung), Misshandlung und sexueller Missbrauch. Häufiger als mit anderen erzieherischen Hilfen gehen hier Sorgerechtsentzüge oder -einschränkungen einher.

So vielfältig der biographische Hintergrund der Kinder und die der Inpflegegabe zugrundeliegende familiäre Problematik sind, so vielfältig sind auch die Struktur der Pflegefamilien, die Persönlichkeit der Pflegepersonen, ihr Bildungsgrad, ihre Berufszugehörigkeit und ihre Motivation zur Aufnahme eines Kindes. Absolute und relative Kinderlosigkeit, „Liebe zu Kindern“, soziale und religiöse Motive, der Wunsch, eine sinnvolle Aufgabe zu übernehmen oder dem Leben einen neuen Sinn zu geben, werden am häufigsten als Motiv genannt.

Entsprechend vielfältig ist auch das Selbstverständnis der Pflegepersonen in ihrer Rolle gegenüber dem Pflegekind und seinen Angehörigen. Viele Pflegepersonen möchten, zumindest „im Geheimen“, ein Kind, das sich ganz in ihre Familie integriert und „wie ein eigenes“ in der Familie aufwächst. Ein Teil versteht sich aber ausdrücklich auch als „Gastfamilie“ für ein Kind.

Unterschiedlich ist auch die Haltung der Pflegepersonen gegenüber Besuchskontakten – von Ablehnung, wenn Kinder mit Angst und Abwehr darauf reagieren, bis zu aktiver Unterstützung, wenn beide Familiensysteme sich nach den Bedürfnissen des Kindes richten.

    Schon diese Hinweise auf die Vielfalt der Probleme machen deutlich, daß alle Normierungen, die die Flexibilität der Einzelfallentscheidungen einengen,  von vornherein widersinnig sind.

Häufig erfüllen sich die Wünsche der Pflegepersonen; nicht selten werden sie aber auch enttäuscht. Es kann zu Überforderungen kommen; die rechtliche Situation kann zur Herausgabe des Kindes an die Herkunftsfamilie nötigen; Pflegepersonen und Pflegekind finden möglicherweise keinen Zugang zu einander; es kann zu nicht lösbaren Konflikten zwischen Pflegekindern und eigenen Kindern der Pflegefamilie kommen.

Die verschiedenen Konstellationen und „Schwierigkeitsgrade“, die unterschiedlichen Erwartungen an die Pflegepersonen und Voraussetzungen bei diesen sowie der im Einzelfall ganz unterschiedliche erzieherische Bedarf haben in der Vergangenheit – vom Gesetzgeber durch die Aufforderung zur Schaffung geeigneter Pflegeformen in § 33 Satz 2 SGB VIII  unterstützt – zu verschiedenen Differenzierungen Anlass gegeben.

Hier wird folgende Differenzierung empfohlen, die sich strikt am erzieherischen Bedarf des Kindes/Jugendlichen und an den auf ihn bezogenen Voraussetzungen bei den Pflegepersonen orientiert:

  • Allgemeine Vollzeitpflege für Kinder oder Jugendliche, deren Betreuung und Versorgung alltagspädagogische Kompetenzen von „Laien“ nicht überfordern und im Rahmen einer „Normalfamilie“ realisiert werden können;
  • Sozialpädagogische Vollzeitpflege für Kinder oder Jugendliche mit einem erzieherischen Bedarf, der nur über eine bewusst reflektierende Haltung der Pflegepersonen gedeckt werden kann und
  • Sonderpädagogische Vollzeitpflege, die wegen der Biographie und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes oder Jugendlichen eine „professionelle“ Haltung der Pflegepersonen gegenüber der zu leistenden Aufgabe voraussetzt.
  • Diese Differenzierung leuchtet ein, steigert allerdings das Risiko, daß den Sparkommissaren Gelegenheit gegeben wird, die höchste Stufe zugunsten der mittleren möglichst zu vermeiden. Auch die Terminologie ist änderungsbedürftig: Wie aus dem weiteren Text hervorgeht, geht es bei der dritten, eigentlich schon bei der zweiten Stufe nicht nur um pädagogische, sondern sogar überwiegend um therapeutische Aufgaben. Deshalb - und wegen der als ’heilpädagogisch’ bezeichneten Heime - heißen diese Pflegestellen in Berlin ’Heilpädagogische Pflegefamilien’. An diesem Begriff sollte unbedingt festgehalten werden (s. JETSCHMANN). Auch der Begriff ’Sozialpädagogische Vollzeitpflege’ ist sehr unpräzise und sagt nichts über die Besonderheit der Aufgabenstellung. Angemessener wäre hier die Bezeichnung ’Sozialtherapeutische Vollzeitpflege’, zumal ’sozialtherapeutisch’ nicht an bestimmte Professionen gebunden ist.

Ausdrücklich zu betonen ist, dass die Differenzierung nicht auf den konzeptionellen Streit zwischen einem „Ersatzfamilien-“ und einem „Ergänzungsfamilienkonzept“ eingeht, da jede der Pflegeformen einmal mehr, einmal weniger den jeweiligen, sich im Verlauf von Pflegeverhältnissen ggf. auch verändernden Voraussetzungen in der Herkunftsfamilie entsprechend ausgestaltet werden kann.

    Diese Abgrenzung von einer einseitigen Festlegung entweder auf das ’Ergänzungsfamilien-Modell’ oder das ’Ersatzfamilien-Modell’ ist ausgesprochen wohltuend und entspricht dem KJHG. Wenn man den an den Notwendigkeiten des Einzelfalls orientierten Entscheidungen Raum gibt, wird sich zeigen, welches der beiden Modelle häufiger angemessen ist, bzw. welches Modell sich in welcher Situation besser bewährt. Dasselbe gilt für die mit der Modellwahl eng verknüpften Fragen der Gestaltung des Umgangs mit der Herkunftsfamilie und der Rückkehroption.

3.2.1 Allgemeine Vollzeitpflege

Ø Charakterisierung der Pflegeform

Der erzieherische Bedarf erstreckt sich auf die Versorgung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung nicht oder nur in einem von Laienkräften noch zu bewältigenden Umfang beeinträchtigt sind. Geeignet ist die Pflegeform, wenn ein Kind oder Jugendlicher wegen des dauerhaften Ausfalls der Personensorgeberechtigten in der Herkunftsfamilie nicht mehr versorgt werden kann. Die Einrichtung einer Allgemeinen Vollzeitpflege erfolgt unter den genannten Voraussetzungen, wenn ein Kind – aus welchen Gründen auch immer – in einer Pflegefamilie seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat und eine Wegnahme aus der Pflegefamilie das Wohl des Kindes gefährden würde.

Typische Fallkonstellationen sind:

  • Ausfall der Personen der Herkunftsfamilie wegen Tod
  • Langfristiger Ausfall der Eltern oder des alleinerziehenden Elternteils wegen körperlicher Beeinträchtigung/Krankheit, psychiatrischen Versorgung oder Inhaftierung
  • Voraussichtlich auch mit Unterstützung nicht erreichbare Stabilisierung von Personen der Herkunftsfamilie oder gravierende Verletzung des Kindeswohls in der Vergangenheit
  • Rückzug der Personen der Herkunftsfamilie vom Kind/Jugendlichen oder aktive Ablehnung des Kindes/Jugendlichen
  • Entscheidung der Personen der Herkunftsfamilie, das Kind oder den Jugendlichen unbefristet – ggf. aber unter Aufrechterhaltung des Kontakts zum Kind/Jugendlichen – in der Pflegefamilie zu belassen
  • Bindung des Kindes/Jugendlichen an seine Pflegeperson nach einem bereits längeren Aufenthalt in der Pflegefamilie bei gleichzeitiger Entfremdung von den Personen der Herkunftsfamilie
  • Dieser Fall der allmählich wachsenden Bindung zur Pflegefamilie und Entfremdung von der meist bindungsgestörten Herkunftsfamilie ist in der Praxis der häufigste, entspricht den Erwartungen der Bindungstheorie und ist die große therapeutische Chance aller Dauerpflegefamilien.  Allerdings neigen viele Jugendämter und Gerichte dazu, solche Entwicklungen zu verhindern oder zu stören.

Die Pflegepersonen haben die Aufgabe, für das Kind oder den Jugendlichen die tatsächlich oder faktisch ausgefallene Familie zu ersetzen, wobei dies mit oder ohne Kontakt zu den Personensorgeberechtigten ausgestaltet werden kann. Die Pflegepersonen werden zu einer auf Dauer angelegten Lebensform für das Kind entweder im Sinne des „Ersatzfamilien-Konzepts“ oder des „Ergänzungsfamilien- Konzepts“.

    Hier bekennen sich die DV-Empfehlungen noch einmal zur Offenheit gegenüber den sich ansonsten befehdenden Konzepten ’Ergänzungsfamilie’ gegen ’Ersatzfamilie’, wobei eingeräumt werden muß, daß die in der Fachliteratur berichteten Erfahrungen und die empirische Forschung ziemlich einmütig für die Überlegenheit des Ersatzfamilien-Konzepts sprechen, was nicht ausschließt, daß es immer wieder Fälle gibt, in denen das Ergänzungsfamilien-Konzept vorzuziehen ist.

Soweit nicht die Voraussetzungen des § 33 Satz 2 SGB VIII erfüllt sind, handelt es sich um eine auf Dauer oder auf unbestimmte Zeit angelegte „allgemeine Vollzeitpflegestelle“.

Ø Empfehlungen zur Ausgestaltung

Zur Vermeidung von Überforderungen der Pflegepersonen und zur Verringerung des Risikos ungewollter Beendigungen („Abbrüche“) sollte das die Allgemeinen Vollzeitpflege von anderen Pflegeformen abgrenzende Merkmal darin bestehen, dass die zu leistende Aufgabe der Erziehung und Betreuung in einem die Dynamik einer „Normalfamilie“ nicht sprengenden Setting möglich ist und, wenn auch mit Unterstützung und Beratung, laienpädagogische Kompetenzen strukturell nicht überfordert. Sofern darüber hinausgehende Erwartungen an Pflegepersonen zu stellen sind, sollte eine der anderen Pflegeformen gewählt werden.

Ihrem Charakter als Regelform des Pflegekinderwesens entsprechend, sind im Einzelfall sehr unterschiedliche Voraussetzungen bei den Kindern, den Herkunftsfamilien und den Pflegepersonen zu erwarten. Dies verlangt nach einer flexiblen Handhabung der in Kapitel 6 beschriebenen allgemeinen Methoden für die Betreuung und Unterstützung von Pflegepersonen und Pflegekindern, für die Gestaltung von Besuchskontakten und die Arbeit mit den Herkunftsfamilien.

Auch da, wo ein Kind – wie oft in Entwicklungsberichten beschrieben – in die Pflegefamilie „voll integriert“ ist und ein „Eltern-Kind-Verhältnis“ entstanden ist, muss wegen der Besonderheit des Konstrukts „Pflegefamilie“ immer mit spezifischen Krisen und problematischen Situationen gerechnet werden. Den Pflegekinderdiensten verlangt dies eine konzentrierte Aufmerksamkeit im Hinblick auf Entwicklungen und insbesondere neue Konstellationen in der Pflegefamilie ab, z.B. nach Aufnahme eines weiteren Pflegekindes, nach Geburt eines (weiteren) eigenen Kindes, nach Trennung von Pflegepersonen oder nach Beendigung bzw. Neuaufnahme von Kontakten des Kindes zu Personen der Herkunftsfamilie.

Nicht immer als Ergebnis eines an sich wünschenswerten gemeinsamen Entscheidungsprozesses zwischen Herkunftsfamilie, Pflegepersonen und Pflegekind, sondern häufig als Folge der tatsächlichen Entwicklungen  kommen alle Beteiligten, auch die Sozialen Dienste, schon nach relativ kurzer Zeit zu der Überzeugung, dass das Kind seinen dauerhaften Lebensmittelpunkt in der Pflegefamilie finden soll. Unabhängig davon, ob sich diese Überzeugung auch längerfristig halten lässt, entsteht eine neue Ausgangssituation, die auch bei der Ausgestaltung des Pflegeverhältnisses Berücksichtigung finden sollte:

  • Was ihr Selbstverständnis betrifft, so sollte die Pflegeperson jetzt die entscheidende Verantwortung für das aufgenommene Kind tragen. Dem entspricht ein Beratungskonzept der Sozialen Dienste als „kundiger Begleiter“ im Hintergrund. Soziale Dienste sollten sich, auf der Grundlage einer vertrauensvollen Beziehung, einerseits zurücknehmen, andererseits ihr weiteres Interesse durch Telefonate, gelegentliche Hausbesuche und Einladungen zu Pflegeelterntreffen, Schulungen etc. bekunden.
  • Hier wird eine oft verkannte Besonderheit der Pflegefamilien respektiert: Pflegefamilien sind keine Dienstleistungsinstitutionen des Jugendamts oder Freier Träger, sondern ganz private und autonome Familien, die der Unterstützung und Beratung bedürfen, aber nicht der Lenkung oder gar Instrumentalisierung und Bevormundung (s. WESTERMANN). Viele Pflegekindervorschriften, Leitlinien und Pflegeschulprogramme ignorieren dieses fundamentale, den identitätssuchenden Kindern sehr zugute kommende Wesensmerkmal der Pflegefamilie in empörender Dreistigkeit.

  • Bedeutsam bleibt es, sowohl die Pflegepersonen als auch das Pflegekind (in einer seinem Entwicklungsstand angemessenen Weise) über die „Vorgänge“ in der Herkunftsfamilie zu informieren und mit ihnen die hierauf bezogenen Gefühle zu besprechen. Ein besonderes Augenmerk ist hierbei auf das Pflegekind zu richten.
  • Egal, ob sich die Personen der Herkunftsfamilie bewusst vom Kind gelöst haben oder dies lediglich Ergebnis einer spezifischen Dynamik ist, sie sollten als „abgelöste“ Angehörige auch weiterhin gewürdigt werden. Da es nicht der Realität entspricht, dass die Personen der Herkunftsfamilie ihr Kind einfach vergessen, sondern eher, dass ihre Phantasien um Schuld, Rache, Einsicht und Trotz kreisen, ist es nicht sinnvoll, auf „Vergessen“ zu setzen. Die Personen der Herkunftsfamilie sollten z.B. über persönlich gehaltene Berichte über die Entwicklung des Kindes darin bestärkt werden, dass ihre Entscheidung richtig gewesen ist.
  • Weder vergißt die Herkunftsfamilie ihr Kind noch dieses seine Herkunftsfamilie. Spätestens in der Pubertät muß das Pflegekind seine komplizierte und traumatische Lebensgeschichte in seine Identität integrieren.  Ob und wann dazu Begegnungen mit seiner Herkunftsfamilie notwendig sind, hängt wiederum von den besonderen Bedingungen des Einzelfalls ab. Auf der anderen Seite müssen die Interessen der leiblichen Eltern, auch wenn sie überwiegend pathologisch sein sollten, sehr ernst genommen werden. Um so eher können sie auf evtl. retraumatisierende oder den Bindungsaufbau in der Pflegefamilie störende Direktkontakte verzichten. Viele Jugendämter machen sich mehr zu Anwälten der leiblichen Eltern als diese es einfordern. Das Drängen der Jugendämter auf Umgangskontakte und Rückkehroptionen dient oft mehr kurzsichtigen fiskalischen Interessen als dem Kindeswohl.

3.2.2 Sozialpädagogische Vollzeitpflege

Ø Charakterisierung der Pflegeform

§ 33 Satz 2 SGB VIII verpflichtet die Jugendämter zur Schaffung besonderer Pflegeformen für besonders entwicklungsbeeinträchtigte junge Menschen. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber an zum Teil schon weit zurück liegende Praxisentwicklungen (heil- und sonderpädagogische Pflegestellen; Erziehungsstellen) anknüpfen, aber auch weitere Neuentwicklungen nicht ausschließen. Wenn also zu den bereits tradierten besonderen Pflegeformen weitere hinzugekommen sind, widerspricht dies nicht der Gesetzesintention. Problematisch ist aber, dass häufig  das selbe mit verschiedenen Begriffen oder umgekehrt unterschiedliches mit dem selben Begriff bezeichnet wird. So erhalten heilpädagogische Pflegefamilien diesen Status (und die mit ihm verbundene höhere Honorierung) keineswegs immer, weil sie ein besonders entwicklungsbeeinträchtigstes Kind aufnehmen, sondern allein auf Grund der Tatsache, dass eine der Pflegepersonen über eine – regional sehr unterschiedlich interpretierte – besondere Qualifikation verfügt.

    Das mag vorkommen, wird aber zuweilen in pauschalisierender Weise zur Rechtfertigung gegen die Ansprüche der Heilpädagogischen Pflegefamilien auf Planungssicherheit herangezogen, obgleich  jedenfalls in unserem Erfahrungsbereich  solche Fälle sehr selten sind. Im Gegenteil, wir kennen viele hochqualifizierte Pflegeeltern, die gegenüber bestimmten Kindern als heilpädagogische gelten und gegenüber anderen nicht, weil diese nicht als hinreichend schwierig eingeschätzt wurden.

Regional sehr unterschiedlich verläuft auch die Ausgestaltung dieser besonderen Form. Manchmal gibt es spezielle organisatorische Arrangements, spezielle personelle Zuständigkeiten und besondere Beratungsmethoden. In vielen Fällen sind diese Pflegeformen aber Bestandteil des allgemeinen Pflegekinderdienstes ohne besondere Arrangements, wie etwa Supervision oder besondere Pflegeeltern-Treffen. Ähnliches gilt im übrigen auch für Erziehungsstellen, die außerdem zu den gleichnamigen Erziehungsstellen im Rahmen des § 34 SGB VIII in „Konkurrenz“ stehen, ohne dass es klare Abgrenzungskriterien gibt. Dies alles führt dazu, dass entwicklungsbeeinträchtigte Kinder einmal über die allgemeinen Vollzeitpflege, einmal in einer besondere Pflegeform, einmal durch eine Erziehungsstelle nach § 34 SGB VIII betreut werden.

Im Interesse einer terminologischen Vereinheitlichung dieses Bereichs wird empfohlen, die verschiedenen Varianten dieses Typs mit dem einheitlichen Begriff der „sozialpädagogischen Pflegestelle“ zu belegen. Der Begriff signalisiert einerseits einen gewissen fachlichen Anspruch, engt die Pflegeform andererseits aber auch nicht auf eine professionelle Ausübung der Familienpflege ein. Darüber hinaus soll der Begriff den Blick auf besondere, über alltagspädagogische Kompetenzen hinaus weisende, bewusst zu gestaltende sozialpädagogische Prozesse erweitern. Der erzieherische Bedarf resultiert – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Konstellationen in der Herkunftsfamilie – aus Entwicklungsbeeinträchtigungen des Kindes oder Jugendlichen, die mit laienpädagogischen Mitteln nicht „angegangen“ werden können oder die Dynamik einer „Normalfamilie“ überfordern. Gleichzeitig liegen die der Allgemeinen Vollzeitpflege zugrundeliegenden Voraussetzungen vor.

    Unsere Zustimmung zur dreifachen Untergliederung der auf Dauer angelegten Pflegeformen, aber auch unsere  Bedenken zur vorgeschlagenen Terminologie haben wir bereits weiter oben angemerkt.

Typische Fallkonstellationen sind:

  • Das Kind oder der Jugendliche ist in einem erheblichen Umfang „verhaltensgestört“ oder in seiner Entwicklung beeinträchtigt und bedarf einer besonderen sozialpädagogischen Zuwendung und Unterstützung.
  • Das Kind oder der Jugendliche bedarf einer besonderen Unterstützung bei der sozialen, ggf. auch der schulischen Integration.
  • Das Kind oder der Jugendliche benötigt wegen einer angeborenen oder einer chronischen Erkrankung oder einer leichteren Behinderungsform einer besonderen pflegerischen und erzieherischen Zuwendung.
  • Das Kind oder der Jugendliche ist ambivalent an seine Herkunftsfamilie gebunden und es bedarf der Klärung von Fragen der Identität.
  • Es gibt andere erschwerende Bedingungen etwa wegen des Alters des Kinder/Jugendlichen, wegen der Notwendigkeit besonders intensiver Elternkontakte, wegen komplizierter Kontakt- und Umgangsregelungen in einem verzweigten Familiensystem oder wegen der Aufnahme von Geschwistergruppen.
  • Hier wird anerkannt, daß die Aufnahme von Geschwistern, die vielen Sozialarbeitern als natürliche Selbstverständlichkeit gilt, eine zusätzliche Belastung darstellt, die die Ablösung von pathologischen Beziehungsmustern sehr erschweren kann.

Die Pflegepersonen haben die Aufgabe, geeignete Mittel zu einer „nachholenden“ und positiven Sozialisation und zur Überwindung von Entwicklungsbeeinträchtigungen bzw. anderen Beeinträchtigungen bereit zu stellen oder zu arrangieren. Sie müssen bereit und in der Lage sein, die hiermit – ggf. einschließlich der mit der Kontaktpflege zur Herkunftsfamilie – verbundenen Aufgaben zu übernehmen. Sofern der Auftrag nicht befristet werden kann, handelt es sich um eine auf Dauer angelegte Vollzeitpflegestelle für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder oder Jugendliche nach § 33 Satz 2 SGB VIII.

Ø Empfehlungen zur Ausgestaltung

Obwohl eine „einschlägige“ berufliche Vorbildung der Pflegepersonen in vielen Fällen hilfreich sein kann, wird empfohlen, diese nicht generell und ausschließlich als zwingende Voraussetzung für diese Pflegeform zu betrachten. Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung sollte die Bereitschaft und Befähigung der Pflegepersonen sein, besonders beanspruchende Belastungen und die hiermit verbundenen Verpflichtungen gegenüber den jeweiligen Kooperationspartnern zu tragen.

    Diese Empfehlung können wir aus unserer Erfahrung voll unterstützen. Manchmal sind pädagogische oder psychologische Vorausbildungen sogar hinderlich, weil sie zu ungerechtfertigtem Vertrauen auf akademisch vermittelte Theorien und Methoden verleiten (s. Aktionsforschung als Grundlage der Pflegeelternausbildung).

Soweit an Pflegepersonen besondere erzieherische Anforderungen gestellt werden, sollte ihnen auch eine besondere Unterstützung durch den Sozialdienst zuteil werden. Es empfiehlt sich deshalb, die Pflegeform besonders auszugestalten und – umgekehrt – an die Pflegepersonen besondere Erwartungen, z.B. Teilnahme an regelmäßigen „Elternabenden“, an besonderen Schulungsmaßnahmen und an Supervision, zu richten. In kleineren Jugendämtern wird sich dies nur im Einzelfall in speziellen organisatorischen Arrangements niederschlagen können, kann aber durch individuelle Einzelfalllösungen unterstützt werden.

    Auch hier können wir zustimmen. Eine systematische Umfrage unter unseren Pflegeeltern ergab, daß ausnahmslos alle meinten, daß sie ohne solche Unterstützung und gegenseitige Beratung längst aufgegeben hätten (s. IPP-BERICHT).

Ein faktisch nicht befriedigend lösbares, in der Praxis aber immer wieder zu Entscheidungsunsicherheiten führendes Problem stellt dar, dass die Gewährung eines besonderen Status an bestimmte Entwicklungsbeeinträchtigungen eines Kindes zu Beginn des Pflegeverhältnisses gebunden wird. Gerade die qualifizierten Bemühungen der Pflegepersonen können im zeitlichen Verlauf dann aber zur – oft nur scheinbaren – Behebung der Beeinträchtigung führen, so dass die „Anspruchsvoraussetzung“ damit eigentlich entfällt. Empfohlen wird, dennoch keinen Statuswechsel vorzunehmen: Zum einen, um einem erneuten Aufbrechen von Entwicklungsbeeinträchtigungen vorzubeugen, zum anderen, weil es den Pflegepersonen nicht zumutbar ist, für ihr erfolgreiches Handeln „bestraft“ zu werden.

Nicht selten gibt es auch den umgekehrten Fall: Erst nach Aufnahme des Kindes, ggf. erst nach einem längeren Zeitraum, werden vorher nicht bekannt gewordene erhebliche Entwicklungsbeeinträchtigungen erkennbar oder es treten andere nicht vorhersehbare Komplikationen auf, die für die Pflegepersonen eine erhebliche zusätzliche Belastung bedeuten und insoweit auch eine besondere Unterstützung erforderlich machen. Für diese Fallgruppe sollte je nach den Voraussetzungen im Einzelfall ein Wechsel zum Status „sozialpädagogische Pflegestelle“ ermöglicht oder ein – ggf. befristeter – Zuschlag zum allgemeinen Pflegegeld gewährt werden.

    Dieses klare Bekenntnis zur Planungssicherheit und zum Bestandsschutz ist angesichts gegenläufiger Entwicklungen (s. AV-Pflege) von ganz großer Bedeutung!!

3.2.3 Sonderpädagogische Vollzeitpflege

Ø Charakterisierung der Pflegeform

Im Zuge der Ausdifferenzierung des Pflegekinderwesens, aber auch im Zuge neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Auswirkungen frühkindlicher und anderer Traumatisierungen, wurden regional zum Teil sehr anspruchsvolle Formen der Betreuung für diese Kinder oder Jugendlichen entwickelt. Herausgebildet haben sich auch Sonderformen für Kinder und Jugendliche, die aus anderen Gründen einer besonders intensiven und zeitaufwendigen pflegerischen oder psychologischen Betreuung zumeist auf Dauer bedürfen. Gemeinsam ist den verschiedenen Fallgruppen, dass von den Pflegepersonen langfristig und ohne Aussicht auf Behebung Problembereiche zu „ertragen“ sind. Dies entspricht den Aufgaben von Sonderpädagogen, so dass eine Bezeichnung der Pflegeform als „sonderpädagogische Vollzeitpflege“ empfohlen wird.

    Noch besser wäre die weniger ’aussondernde’ Bezeichnung ’Heilpädagogische Pflegefamilien’ (s.o.). Aber diese terminologische Differenz der Auffassungen schmälert nicht unsere große Freude darüber, daß die Empfehlungen des DV die neuen Erkenntnisse der neuropsychologischen Traumaforschung aufgreifen, deren Bedeutung wir von Anfang an hervorgehoben haben (s. Sachgebiet TRAUMAFORSCHUNG).

Der erzieherische Bedarf basiert in dieser Pflegeform auf Beeinträchtigungen des Kindes, die auch mit einer besonderen und gezielten sozialpädagogischen Zuwendung nicht vollends behebbar sind, weil sie zu einer grundlegenden Persönlichkeitsstörung geführt haben oder weil es sich um eine schwere Behinderung oder Erkrankung handelt.

    Die Anerkennung als Persönlichkeitsstörung ist ebenso mutig wie korrekt und hat erhebliche diagnostische und therapeutische Konsequenzen, beispielsweise führte sie bei uns zu dem Motto: Erst Beziehung, dann Erziehung! 

Typische Fallkonstellationen sind:

  • Infolge einer Alkoholembryopathie oder einer anderen neurologischen bzw. hirnphysiologischen Funktionsstörung dauerhaft geschädigte oder behinderte Kinder
  • Auf der Basis von „Hospitalismus“ oder chronischer Vernachlässigung in der Familie frühkindlich traumatisierte Kinder sowie durch Misshandlung, sexuelle Gewalt oder andere biographische Erfahrungen traumatisierte Kinder oder Jugendliche.
  • Dissoziale, stark suchtgefährdete Jugendliche oder Jugendliche mit erheblichen psychosomatischen Reaktionsweisen oder psychologischen Auffälligkeiten, auch bei gemeinsamer Mutter-Kind-Unterbringung
  • Spezielle Problemkreise wie krebskranke oder sterbende Kinder, mit Hepatitis C oder HIV infizierte Kinder sowie an AIDS erkrankte Kinder oder Jugendliche
  • schwer - und mehrfachbehinderte Kinder.
  • Wenn die soeben zitierten Ergebnisse der neuropsychologischen Traumaforschung konsequent angewendet werden, muß dieser Katalog zur Anerkennung vieler vernachlässigter, mißhandelter und mißbrauchter Kinder als heilpädagogische bzw. sonderpädagogische Problemfälle führen, weil sich gezeigt hat, daß solche Traumata nicht nur zu psychischen, sondern auch zu physischen, nämlich hirnorganischen Schäden führen, bis hin zu gravierenden Verlusten von Hirnsubstanz durch massenhaften Zelltod.

Aufgabe der Pflegefamilie ist die Bereitstellung eines Rahmens, in der ein dauerhaft geschädigtes oder traumatisiertes Kind leben und – unter Berücksichtigung der Art der Entwicklungsbeeinträchtigung – nur mit therapeutischer Unterstützung kompensierende Entwicklungsfortschritte erzielen kann. Die Pflegepersonen erfüllen insoweit therapeutische oder therapieunterstützende Funktionen. Sie müssen in der Regel über eine besondere, dem Problembereich angemessene fachliche Voraussetzung verfügen.

    Die Anerkennung der Pflegefamilie als Ort der Therapie ist ein wesentlicher Fortschritt dieser Empfehlungen. Externe Therapeuten sollten sich also als Unterstützer der therapierenden Pflegefamilie verstehen, das schützt sie davor, eine Bindung zum Kind aufzubauen,  die die ohnehin schwierige Bindung zu den Pflegeeltern gefährdet. Die wesentlichen “Medikamente“ der familiären Therapie sind nach bewährter heilpädagogischer Tradition: Liebe, Ruhe, Stetigkeit. Dazu bedarf es liebesfähiger, reflexionsbereiter und sehr belastungsfähiger Menschen mit viel Unterstützung von außen, aber nicht unbedingt einschlägiger Diplome.

Rechtliche Grundlage ist § 33 Satz 2 SGB VIII, ggf. i.V.m. § 35 a SGB VIII.

Ø Empfehlungen zur Ausgestaltung

Sonderpädagogische Pflegestellen verlangen nach einer gezielten Suche nach geeigneten Pflegepersonen. Sie lassen sich in Fällen von Traumatisierungen in der Regel nur in Kreisen von beruflich vorgebildeten und interessierten Personen finden;

    Da haben wir andere Erfahrungen (s.o.), aber der Text enthält ja auch die weise Einschränkung “in der Regel“.

in Fällen von Schwerbehinderung und unheilbarer Krankheit aber auch in Laienkreisen. Zu suchen ist auf jeden Fall nach Personen, die bereit sind und deren familiäre Konstellation und Dynamik es zulässt, sich ganz auf ein Kind oder einen Jugendlichen einzulassen und ihm ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.

    Dazu müssen die Jugendämter zuverlässige Planungssicherheit bieten. Wie könnten sie sonst Pflegeeltern darin unterstützen, ihre beruflichen Stellungen aufzugeben und ihre gesamte Lebensplanung umzustellen?!

Die Förderung eines im beschriebenen Sinne entwicklungsbeeinträchtigten Kindes oder Jugendlichen setzt in aller Regel eine enge Kooperation mit Spezialisten – Fachärzten, Therapeuten, ggf. besonderen Zentren für Diagnostik und Therapie und besonderen Vorschul-, Bildungs- und Integrationseinrichtungen – voraus. Sonderpädagogische Pflegestellen können deshalb nur unter der Voraussetzung einer Zugänglichkeit zu entsprechenden Einrichtungen und Diensten verantwortlich eingerichtet werden.

Die Sorge um ein schwer entwicklungsgestörtes, behindertes oder krankes Kind bedeutet für die Pflegepersonen eine hohe Alltagsbelastung. Die Einrichtung und Ausgestaltung sonderpädagogischer Pflegestellen sollte deshalb besondere Arrangements zur Entlastung und Erholung der Pflegepersonen (z.B. Babysitter-Dienste, ggf. getrennte Erholungsurlaube), zur Bearbeitung und Lösung von Krisen (z.B. über Supervision) sowie zur regelmäßigen Schulung und Fortbildung vorsehen. Zu empfehlen ist deshalb auch, sonderpädagogische Pflegestelle in einem Verbund mit eigenständiger fachlicher Leitung zu organisieren.

    Alle diese Qualitätsansprüche sind auch finanziell zu rechtfertigen, weil die als Alternative bereitstehenden heilpädagogischen Heime erheblich teurer sind und im besten Falle gute Beziehungen, aber nicht die notwendigen liebevollen und dauerhaften Dualbindungen bieten können.

3.2.4 Exkurs: Abgrenzungsprobleme der besonderen Pflegeformen gegenüber Erziehungsstellen nach § 34 SGB VIII

Zu Irritationen in der Praxis hat geführt, dass der Begriff „Erziehungsstellen“ sowohl der Kennzeichnung von Pflegeformen, die hier als entweder sozialpädagogische oder als sonderpädagogische Pflegestelle charakterisiert werden, als auch von familiären Betreuungssettings im Rahmen des § 34 SGB VIII dient. Es wird deshalb empfohlen, den Begriff „Erziehungsstellen“ künftig ausschließlich für die Differenzierungsform im Rahmen des § 34 SGB VIII zu verwenden, zumal sich der Begriff „Erziehungsstellen“ inzwischen erfolgreich als Variante im Regelungsbereich des § 34 SGB VIII durchgesetzt hat, insbesondere aber auch, weil der Begriff eher das Anliegen der Heimerziehung als das des Pflegekinderwesens trifft.

Auch inhaltlich-konzeptionell stellt die Abgrenzung von besonderen Pflegeformen gegenüber Erziehungsstellen nach § 34 SGB VIII ein Problem dar, zumal Entscheidungen für das eine oder das andere in der Praxis oft eher nach Verfügbarkeit als aufgrund fachlicher Erwägungen getroffen werden.

Folgende Anhaltspunkte können für eine Erziehungsstelle nach § 34 SGB VIII sprechen:

  • Aufgrund der besonderen Problematik eines Kindes ist eine enge Bindung an Pflegepersonen nicht indiziert; das Kind selbst oder seine personensorgeberechtigten Angehörigen wünschen eine eher neutrale Rolle der Betreuungspersonen. Eine solche Haltung wird in der Regel nicht bei Kleinkindern, sondern nur bei Kindern jenseits des Vorschulalters bzw. Jugendlichen und nur bei Personensorgeberechtigten, die weiterhin eine aktive Rolle im Leben ihres Kindes spielen möchten, anzutreffen sein.
  • Die besondere Problematik des Kindes sprengt die Möglichkeiten eines privat-familiären Arrangements. Dies gilt insbesondere für Konstellationen, in denen z.B. Konflikte zwischen gemeinsam vermittelten Geschwisterkindern oder einem aufgenommenen Kind und eigenen Kindern einer Pflegefamilie prognostizierbar sind.
  • Es erscheint sinnvoll, die „Arbeit“ mit dem Kind und seiner Herkunftsfamilie in einem organisierten größeren Rahmen zu erbringen. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn das Kind therapeutische oder schulische Einrichtungen eines Jugendhilfeträgers bzw. entsprechende vom Träger regelhaft arrangierte und bereit gestellte Leistungen mitnutzen soll oder wenn vom Jugendhilfeträger familientherapeutische Maßnahmen angeboten werden.
  • Darüber hinaus ist eine entscheidende Voraussetzung, dass Pädagoginnen und Pädagogen auch in ihrer persönlichen Haltung darin entschieden sind, eine berufliche Rolle dem Kind gegenüber einnehmen zu wollen. Dem Kind darf keineswegs vermittelt werden, es sei ein (künftiges) Familienmitglied; vielmehr ist der Betreuungscharakter auf Zeit in einem institutionellen Rahmen zu betonen.
  • Die klare begriffliche und funktionale Abgrenzung der Pflegefamilie von der Erziehungsstelle ist sehr verdienstvoll. Auch wenn eine Erziehungsstelle nach § 34 KJHG sich um hohe Familienähnlichkeit bemüht, kann sie zwar viel mehr leisten als herkömmliche institutionelle Heime, aber schon die privilegierte rechtliche Stellung des Pflegekindes (insbes. § 1632 BGB) und die Autonomie der Pflegeeltern schafft gänzlich andere Rahmenbedingungen.

3.3 Besonderheiten der Großeltern- und Verwandtenpflege
3.3.1 Grundsätzliches zur Großeltern-/Verwandtenpflege

Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Versorgung von „familienlosen“ Kindern oder von Kindern, deren Mütter/Eltern ihre Versorgung nicht übernehmen konnten, in der Mehrheit der Fälle eine Sache der Großfamilie, zumeist der Großeltern. In vielen Teilen der Erde ist dies auch heute noch so. Nachdem die Verwandtenpflege im Rahmen der Professionalisierung der Sozialarbeit, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, in den fortgeschrittenen Industriestaaten westlicher Prägung allmählich in Vergessenheit geriet und jedenfalls nicht mehr als eigenes Subsystem der Kinder- und Jugendhilfe betrachtet worden war, haben einige hoch industrialisierte Staaten – allen voran die USA und die Niederlande – in jüngerer Zeit wieder ein erhöhtes Interesse daran gezeigt.

Obgleich es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten einen kontinuierlichen Rückgang an Verwandtenpflegestellen gab (nach dem Einigungsvertrag auch in den Neuen Bundesländern, in denen zur Zeit der DDR die Großelternpflege noch eine nicht unerhebliche Rolle spielte), werden nach Mikrozensusdaten auch heute noch rund 72.000 Kinder und Jugendliche von Großeltern und Verwandten bis zum dritten Grad versorgt, davon rund 10.000 im Rahmen einer erzieherischer Hilfe nach § 33 SGB VIII. Für weitere etwa 10.000 junge Menschen, die bei ihren Großeltern/Verwandten leben, werden Sozialhilfeleistungen und – regional im unterschiedlichen Umfang – Beratungsleistungen erbracht; bei den übrigen handelt es sich um den Jugendämtern nicht bekannte, privat zwischen Eltern und Verwandten arrangierte Betreuungsverhältnisse.

In fachlicher Hinsicht stößt die Großeltern-/Verwandtenpflege in der Praxis auf eine Reihe von Bedenken und Vorbehalten: Bei der Verwandtenpflege handelt es sich häufig um vom Jugendamt nur noch „nachvollziehbare“ Inpflegegaben, da ein Antrag auf erzieherische Hilfe bzw. auf Sozialhilfeleistungen oft erst gestellt wird, wenn das Kind bereits geraume Zeit bei den Großeltern/Verwandten lebt. Dies führt zu Problemen bei Eignungsfeststellungen und in deren Folge im Einzelfall zu fachlichen Bedenken. Dieses Problem wird als besonders gravierend empfunden, weil es in vielen Fällen Zweifel an der persönlichen Eignung der Großeltern/Verwandten gibt. Insbesondere gegenüber Großeltern bestehen häufig Bedenken, ob sie den Schutz des Pflegekindes gegenüber Angehörigen der Herkunftsfamilie gewährleisten können; es werden intergenerative Komplikationen vermutet; die Sicherheit des Kindes erscheint wegen des Alters der Pflegepersonen nicht immer gewährleistet und Großeltern/Verwandte gelten als weniger bereit zu einer vertrauensvollen Kooperation mit dem Jugendamt als andere Pflegefamilien.

Dem gegenüber werden aber auch, durch Forschungen bestätigte, besondere Vorteile der Großeltern-/Verwandtenpflege benannt. Zu ihnen gehören insbesondere die „originäre“ familiäre Verbundenheit, die Vertrautheit der Verwandten mit der Biographie des Kindes, ihre soziale Nähe zum Kind und ihre Bereitschaft, auch in schwierigen Situationen zu dem Kind zu stehen. Mit Blick auf die Kinder wird hervorgehoben, dass sie die Versorgung durch Angehörige ihrer Familie weniger als Identitätsbruch erleben als die Unterbringung in einem fremden Familie.

Die fachlichen Vorbehalte ebenso wie ihre Vorteile verweisen darauf, dass die Großeltern-/ Verwandtenpflege – jedenfalls soweit es sich um Verwandtenpflegearrangements handelt, die dem Jugendamt bekannt werden – ihrem Charakter nach in mancherlei Hinsicht nicht mit den Gegebenheiten der „Fremd“-Pflege vergleichbar ist. Die Pflegeverhältnisse werden in der Regel nicht bewusst arrangiert, sondern entwickeln sich fließend von der gelegentlichen Mitbetreuung des Kindes bis zur endgültigen Inpflegenahme. Nicht selten kommt es auch vor, dass ein Kind zu seinen Großeltern/Verwandten/älteren Geschwistern „flüchtet“ und sich dort „festsetzt“. Die Großeltern/Verwandten sind nicht an einem „Pflegekind“ interessiert, sondern sie beschließen – zumeist angesichts gravierender Probleme in der Geburtsfamilie des Kindes – die Verantwortung für ein spezifisches, ihnen familiär und emotional verbundenes Kind zu übernehmen. Die Verhältnisse des Kindes, seine Familiengeschichte und seine Biographie sind ihnen in der Regel „intim“ vertraut; oft sind sie selbst deren Teil. Dies sind einige der Gründe dafür, dass sie sich nicht vor der Inpflegenahme melden, sich im Wissen über das Kind den Sozialen Diensten überlegen fühlen und sich nicht so gerne „in die Karten gucken lassen“ möchten, aber auch dafür, dass sie sich im Kreis von „richtigen“ Pflegeeltern, in Schulungen, bei Pflegeelterntreffen und in formellen Beratungssettings nicht aufgehoben fühlen. Charakteristisch ist ferner, dass Großeltern/Verwandte durchschnittlich aus bildungsferneren Schichten als andere Pflegepersonen kommen und ihre sozialen Verhältnissen und ihre finanzielle Situation durchschnittlich schlechter ist. Man kann Großeltern/Verwandten deshalb nur dann gerecht werden, wenn man ihre Besonderheiten berücksichtigt.

Dass Großeltern/Verwandtenpflegeverhältnisse anders sind als „Fremd“-Pflegeverhältnisse, bedeutet nicht, dass es Großeltern/Verwandte leichter hätten als andere Pflegepersonen. Sie haben es mit ähnlichen Kindern und ähnlichen Problemen zu tun. In dem „großfamiliären“ Arrangement sind Schwierigkeiten und Probleme aber anders „eingefärbt“. Die intime Kenntnis von Biographie und Familiengeschichte provoziert Vergleiche mit Verhaltensweisen der leiblichen Eltern und revitalisiert Familientraditionen und Familiengeheimnisse. Biographisch verquickt sind Großeltern/Verwandte – insbesondere, wenn das Kind mütterlicher- oder väterlicherseits Enkelin oder Enkel ist – auch über das häufig konstatierte „Versagen“ des eigenen Kindes oder Schwiegerkindes. Die Konstellation ist nicht selten Anlass für Schuld- und Schamgefühle sowie Selbstvorwürfe und verknüpft die Großeltern manchmal unheilvoll mit den ungelösten Konflikten der eigenen Kinder. Auch Besuchskontakte sind nicht Begegnungen unter Fremden, sondern „Familientreffen“, in denen die „alten Konflikte“ wieder hervorbrechen können. Überhaupt sind Auseinandersetzungen mit den Eltern des Kindes in eine lange gemeinsame Geschichte eingebettet und im Bewusstsein der Großeltern/Verwandten allgegenwärtig. Hieraus resultieren das besondere Verantwortungsgefühl der Großeltern/Verwandten und ihre Bereitschaft, auch schwierige Situationen zu „ertragen“ genauso, wie zerstörerische intergenerative, ggf. auch auf das Verhältnis zum Kind ausstrahlende Konflikte. Einen weiteren Problembereich bildet die Tendenz mancher Großeltern, sich gegenüber der sozialen Umwelt und Außeneinblicken in das binnenfamiliäre Geschehen abzuschotten, was in der Konsequenz dann zu Gefühlen der Überforderung und dem Gefühl, mit einem Übermaß an Problemen allein gelassen zu werden, führen kann. Zusammengefasst: Großeltern/Verwandte brauchen in der Regel nicht weniger Beratungs- und Unterstützungsleistungen als „Pflegefamilien“. Diese müssen allerdings anders „eingefärbt“ sein und den spezifischen Besonderheiten gerecht werden.

3.3.2 Empfehlungen zur Ausgestaltung der Großeltern- und Verwandtenpflege

Großeltern bzw. Verwandte müssen bereit und in der Lage sein, den Hilfebedarf in Kooperation mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabe der §§ 36, 37 SGB VIII zu decken und insoweit die Rechte und Pflichten von nicht-verwandten Personen wahrnehmen.

Eine Überprüfung ihrer Eignung als Pflegepersonen in diesem Sinne sollte sich an folgenden Maßstäben, die lediglich als Minimalkriterien zu verstehen sind, orientieren:

  • Die Pflegepersonen müssen eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung und Betreuung gewährleisten können.
  • Sie müssen Gewähr für den Schutz des Kindes oder Jugendlichen, auch vor deren Entwicklung gefährdenden Übergriffen aus der Geburtsfamilie, bieten können.
  • Sie müssen zur Kooperation mit dem Jugendamt bereit sein und eine entsprechende Verpflichtung eingehen. Hierzu gehört auch die Bereitschaft, unterstützende Leistungen anzunehmen.
  • Im Falle einer nachvollziehenden Hilfebewilligung muss zum Zeitpunkt der Entscheidung deutlich sein, dass das Kind oder der Jugendliche den Verbleib bei den Großeltern/Verwandten wünscht und keine offensichtlichen Entbehrungen erleidet.
  • Die Eltern widersprechen der Betreuung des Kindes/Jugendlichen nicht ausdrücklich.

Besondere Probleme im Kontext der Eignungsfeststellung tun sich dann auf, wenn sich das Kind bei Antragstellung der Personensorgeberechtigten auf Gewährung einer erzieherischen Hilfe bereits seit längerer Zeit in der Großeltern- oder Verwandtenfamilie befindet, dort bereits seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat und Bindungen an die Pflegepersonen eingegangen ist, die Bereitschaft und Befähigung der Pflegeperson aber zur Zusammenarbeit mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe angezweifelt wird.

Auch in einem solchen Fall sollten einer vorgängige wie eine nachvollziehende Anerkennung die genannten Maßstäbe zugrunde gelegt werden.

Wenn Großeltern und Verwandte die Minimalvoraussetzungen nicht in ihrem Gesamtumfang erfüllen, sollte von der Bewilligung einer erzieherischen Hilfe nach § 33 SGB VIII abgesehen werden. Sofern dennoch der Schutz des Kindes und eine mindestens einfachen Standards sowie den Bedürfnissen des Kindes entsprechende Erziehung gewährleistet ist , wird – wie auch in der Praxis üblich – empfohlen, das Betreuungsarrangement bei Bedarf durch familienunterstützende Leistungen nach dem Zweiten Kapitel, Zweiter Abschnitt SGB VIII (Förderung der Erziehung in der Familie), durch niedrigschwellige zusätzliche Hilfen (wie etwa Schularbeitshilfen für das Kind), ggf. auch durch zusätzlich zu gewährende Hilfen aus dem Hilfekatalog der §§ 27 ff. SGB VIII abzusichern. Die Jugendämter sollten ferner, Großeltern und anderen Verwandten – auch wenn diese sich zunächst zurückhaltend geben – wiederkehrend Beratungsangebote machen und den Schutz des Kindes in der Familie überprüfen.

Die Notwendigkeit eines eigenständigen Beratungs- und Unterstützungskonzepts für die Verwandtenpflege legt es nahe, dort, wo die Fallzahlen dies ermöglichen, die Betreuung von Verwandtenpflegestellen unabhängig von der rechtlichen Zuordnung organisatorisch als eigenständigen Bereich bzw. als Vertiefungsgebiet einer/eines Mitarbeiters/in zu betrachten und auszugestalten. Ein solcher spezieller Dienst kann sich sinnvoll auch auf solche Pflegeverhältnissen erstrecken, in denen die Pflegepersonen zwar nicht mit dem Kind/Jugendlichen verwandt sind, ihm aber aus anderen nicht-professionellen Kontexten, etwa Nachbarschaftsbeziehungen, besonders vertraut sind; ein Sachverhalt, der weit häufiger gegeben ist, als dies gemeinhin thematisiert wird, und in mindestens jedem 10. Pflegeverhältnis Hintergrund der Inpflegenahme eines Kindes ist.

3.4 Vollzeitpflege in der Familie des Vormunds oder Pflegers
3.4.1 Anspruch auf Hilfe zur Erziehung

Dem Anspruch auf Hilfe zur Erziehung steht nicht entgegen, dass Pflegeeltern zugleich Vormund oder Pfleger für das Kind oder den Jugendlichen sind.

Ist die Anordnung der Vormundschaft oder Pflegschaft Folge eines (teilweisen) Entzugs der elterlichen Sorge, so ist die Rückkehr in die Herkunftsfamilie weiterhin denkbar.

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege kommt jedoch auch dann in Betracht, wenn die Vormundschaft oder Pflegschaft wegen des Todes der Eltern angeordnet worden ist, eine Herkunftsfamilie also nicht mehr besteht.

In seiner Entscheidung vom 15. Dezember 1995 bestimmte das Bundesverwaltungsgericht allerdings, dass der Vormund oder Pfleger ein Wahlrecht dahingehend hat, ob er die tatsächliche Betreuung und Erziehung des Kindes/Jugendlichen im Rahmen der Personensorge übernimmt, wozu er nicht verpflichtet ist, oder ob er die Betreuung im Rahmen von Hilfe zur Erziehung leistet.

Das Gericht vermischt hier die Frage des (primären) Hilfebedarfs für den Personensorgeberechtigten mit der Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts für das Kind oder den Jugendlichen.

Der Ansatzpunkt für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung muss bei der Erziehungssituation der Herkunftsfamilie gewählt werden. Bedürfen die Eltern zur Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben der Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses, so kann es für das Bestehen des Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung weder auf die tatsächliche noch auf die rechtliche Situation in der Pflegefamilie ankommen.

Die Übernahme der Pflegschaft oder Vormundschaft durch die Pflegeeltern ist nicht die Voraussetzung, sondern ausnahmslos die Folge ihrer Bereitschaft, ein fremdes Kind in Pflege zu nehmen. Sie setzt die zusätzliche Bereitschaft und Eignung der Pflegeeltern voraus, auch rechtliche Verantwortung für das Kind zu übernehmen – eine Lösung, die im Interesse des Kindes oder Jugendlichen in der Regel einer Amtsvormundschaft bzw. –pflegschaft vorzuziehen ist. Deshalb können an diese Bereitschaft der Pflegeeltern weder Konsequenzen im Hinblick auf den Wegfall eines bis dahin erzieherischen Bedarfs noch im Hinblick auf Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen geknüpft werden.

3.4.2 Pflichten des Jugendamtes (§ 53 Abs. 2 und 3 SGB VIII)

Die Führung der Vormunschaft bzw. Pflegschaft erfordert erzieherische Fähigkeiten, Kenntnis der einschlägigen Rechtsvorschriften und Selbstsicherheit im Umgang mit Behörden. Vormund und Pfleger haben daher nach § 53 Abs. 2 SGB VIII einen Rechtsanspruch auf regelmäßige und dem jeweiligen erzieherischen Bedarf entsprechende Beratung und Unterstützung durch das Jugendamt. Diese Aufgabe umfasst Anleitung und Schulung unabhängig von einer bestimmten Ratsuche und bezieht sich auf rechtliche, erzieherische und wirtschaftliche Aspekte der Führung der Vormundschaft und Pflegschaft.

Nach § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt verpflichtet, darauf zu achten, dass bestellte Pfleger und Vormünder im konkreten Einzelfall ihre Pflichten im Hinblick auf die Personensorge wahrnehmen. Das Jugendamt ist allerdings nicht befugt, in die Rechtsphäre des Vormunds/Pflegers einzugreifen. Werden konkrete Mängel bei der Ausübung der Personensorge festgestellt, kann es lediglich im Wege der Beratung auf die Beseitigung der Mängel hinwirken (§ 53 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII). Bleiben die Versuche einer eingehenden Beratung und Unterstützung erfolglos, muss das Jugendamt dies dem Vormundschaftsgericht mitteilen, wenn eine gerichtliche Intervention in Betracht kommt (§ 53 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII), also bei erheblichem pflichtwidrigem Verhalten.

weiter zu Teil 2

 

 

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