FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2006

 

Aufgaben der heilpädagogischen Pflegestelle
in der Arbeit mit
traumatisierten Kindern

Diplomarbeit zur Erlangung des Grades
einer Diplomsozialarbeiterin/Sozialpädagogin
an der Fachhochschule für Sozialarbeit und
Sozialpädagogik “Alice Salomon”

von Irina Eberhard (Feb. 2006)

 

Vorbemerkung: Irina Eberhard, die Tochter von Gudrun und Kurt Eberhard, ist seit 1996 Mitglied der AGSP, dort u.a. als Einzelfallhelferin tätig und hat an einer wichtigen Publikation mitgewirkt (s. Das Kindeswohl auf dem Altar des Elternrechts). 2001 schloß sie eine Erzieherausbildung ab und hat nun im Zuge ihrer sozialpädagogischen Ausbildung an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin eine Diplomarbeit vorgelegt, in der sie die Symptome und neuropsychologischen Ursachen prosttraumatischer Störungen bei vernachlässigten und mißhandelten Kindern sowie deren Behandlung in heilpädagogischen Pflegefamilien darstellt.

Christoph Malter (Februar 2006)



Gliederung

I. Einleitung
1. Begründung der Themenwahl
2. Aufgabenstellung und Arbeitsplan
3. Auswahl der Informations- und Erkenntnisquellen

II.    Traumatisierte Kinder Darstellung, Ursachen und Behandlung
1. Begriffsanalyse
2. Phänomenale Fragestellung:
   Erscheinungsbild und Verlauf der Posttraumatischen Belastungsstörung
3. Kausale Fragestellung
3.1 Psychologische Erklärungen
3.2 Biologische Erklärungen
3.3 Soziologische Erklärungen
4. Aktionale Fragestellung
4.1 Präventive Reaktionsmöglichkeiten
4.2 Therapeutische Reaktionsmöglichkeiten

III. Die heilpädagogische Pflegestelle
1. Begriff und Aufgabe
2. Das Therapeutische Programm für Pflegekinder (TPP)
2.1 Geschichte des TPP
2.2 Konzeptionelle Besonderheiten
2.3 Erkenntnistheoretische Grundlage
2.4 Psychologische Grundkonzepte
2.5 Effizienz

IV.  Entwicklungsgeschichte eines traumatisierten Pflegekindes
1. Vorstellung des Pflegekindes
2. Vorgeschichte
3. Betreuungsgeschichte
4. Bilanz

V.   Möglichkeiten und Grenzen der heilpädagogischen Pflegestelle
1. Ergebnisse aus der Fachliteratur
2. Ergebnisse aus Gesprächen mit Experten
3. Ergebnisse aus einer Umfrage mit Pflegeeltern
4. Ergebnisse aus einer Befragung ehemaliger Pflegekinder
5. Ergebnisse aus eigenen Erfahrungen
6. Resumée
6.1 Möglichkeiten der heilpädagogischen Pflegestelle
6.2 Grenzen der heilpädagogischen Pflegestelle

VI.  Rückblick und Ausblick

Literaturverzeichnis

 

I. Einleitung

1. Begründung der Themenwahl

1996 begann meine Arbeit als Einzelfallhelferin im Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP) der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP). Das TPP ist ein Projekt, das durch das Friedrichs-Stift zu Berlin finanziert wird. In der AGSP sind meine Mutter als Sozialarbeiterin und Juristin und mein Vater als Psychologe und Psychotherapeut tätig. Da in unserer Familie viel über die Arbeit meiner Eltern gesprochen wurde und das Büro meiner Mutter und die Praxis meines Vaters in meinem Elternhaus liegen, bin ich seit meiner Kindheit mit dem Thema vertraut. Es wurde oft über die Schicksale der Pflegekinder, ihre Herkunftsfamilien und die Probleme der Pflegeeltern mit den meist schwer traumatisierten Kindern gesprochen. Diese Erfahrungen haben mich tief geprägt und mich dazu bewogen, eine Erzieherausbildung und nun das Sozialarbeitsstudium zu absolvieren.

Neben diesen persönlichen Eindrücken hatte ich auch die Möglichkeit mitzuverfolgen, wie die Fachliteratur, die Forschung und die soziale Praxis sich in den Jahren immer wieder neu positioniert haben. Beispielsweise hat die Hirnforschung inzwischen gezeigt, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit nicht nur psychische Schäden, sondern auch hirnorganische Schäden hinterlassen. Damit wird noch deutlicher, wie drastisch Kinder betroffen sind, die Vernachlässigung, Missbrauch oder körperliche Gewalt erlebt haben.

Aktuell hören wir in den Medien immer wieder von Kindern, die durch die Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung zu Tode kamen. In vielen Fällen war das Jugendamt über die Verhältnisse, in denen die Kinder lebten, informiert und hat offensichtlich zu spät oder mit den falschen Hilfen reagiert.

Aus diesen Gründen möchte ich eine Arbeit schreiben, die auf Basis von psychologischen und biologischen Erkenntnissen deutlich macht, wie Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch im Kindesalter zu lebenslangen schweren seelischen und physiologischen Einschränkungen führen und wie heilpädagogische Pflegefamilien darauf reagieren können. 

2. Aufgabenstellung und Arbeitsplan

Wie aus dem Aufbau der Gliederung ersichtlich, werde ich mit einem theoretischen Teil beginnen, in dem ich neben einer begrifflichen Definition von Trauma und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) das Erscheinungsbild einer PTBS beschreibe, ihre möglichen Ursachen nenne und mögliche Behandlungsmethoden aufzeige.

Im dritten Teil werde ich die Geschichte und Merkmale der heilpädagogischen Pflegestelle am Beispiel des TPP darstellen.

Zwecks Konkretisierung beschreibe ich an einem Praxisbeispiel die Geschichte eines traumatisierten Kindes, das nun in einer heilpädagogischen Pflegefamilie lebt. Anhand dieser Informationen möchte ich schließlich untersuchen, welche Möglichkeiten und Grenzen einer heilpädagogischen Pflegefamilie gegeben sind, die seelischen und körperlichen Einschränkungen eines traumatisierten Kindes zu mildern oder sogar zu heilen.

3. Auswahl der Informations- und Erkenntnisquellen    

In der Begründung meiner Themenwahl ist die wichtigste Erkenntnisquelle bereits genannt: meine langjährigen Erfahrungen im TPP der AGSP und meine Praxis als Erzieherin.

Die wichtigsten Texte, vor allem für den zweiten Teil waren Besser in Möller ’Drogenmissbrauch im Jugendalter’, Bowlby ’Frühe Bindung’, Brisch ’Bindungsstörungen’, Glaser ’Kindesmisshandlung und Vernachlässigung’, Hahlweg und Ehlers (Hg.) ‚’Psychische Störungen und ihre Behandlungen’, Huber ’Trauma und die Folgen’ und das Buch, welches mich persönlich am tiefsten berührt hat: ‚Bindungsstörungen’ von René Spitz.

Im dritten Teil, beziehe ich mich zum einen auf Gesetzestexte aus dem KJHG und aus den Berliner Ausführungsvorschriften und andererseits auf die anläßlich des 20-jährigen Jubiläums des TPP veröffentlichten Ergebnisse aus der Arbeit mit heilpädagogischen Pflegekindern und Pflegefamilien.

Ferner haben die Gespräche und Interviews mit betroffenen Pflegekindern, Pflegeeltern und einschlägigen Experten insgesamt viel zu dem Entstehen der Arbeit beigetragen, vor allem waren sie im letzten Punkt ’Möglichkeiten und Grenzen der heilpädagogischen Pflegestelle’ von großer Bedeutung.

Ich bedanke mich bei meinen betreuenden Dozenten und allen anderen Gesprächspartnern, die mich beim Entstehen dieser Arbeit unterstützt haben.

II. Traumatisierte Kinder- Darstellung, Ursachen und Behandlung

1. Begriffsanalyse

Vorerst möchte ich eine Begriffsdefinition des Wortes ’Trauma’ und ’Posttraumatische Belastungsstörung’ vornehmen. Wenn ich die Begriffe benutze, beziehe ich mich auf folgende Definitionen:

"Trauma (gr. "Wunde"): 1. seelischer Schock, starke seelische Erschütterung, die einen Komplex bewirken kann (Psycholog., Med.). 2. Wunde Verletzung durch äußere Gewalteinwirkung (Med.)" (Duden, Großes Fremdwörterbuch, 1994)

Die meisten Menschen gehen nach dem ersten Schock unbeschadet aus einem solchen belastenden Erlebnis hervor. Es kann aber je nach Art und Dauer des Traumas und nach den äußeren und inneren Bedingungen des Einzelnen, also seiner Vulnerablität, zu langfristigen Folgeschäden kommen.

Die psychopathologischen Folgen, die ein solches traumatisches Erlebnis auf die Persönlichkeit haben kann, werden in der Fachsprache unter dem Begriff ’Posttraumatische Belastungsstörung’ (PTBS) zusammengefaßt. Der Einfachheit halber werde ich in meiner Arbeit die Abkürzung benutzen.

Bei Hahlweg und Ehlers wird die PTBS folgendermaßen definiert:
"Die posttraumatische Belastungsreaktion ist eine lang anhaltende Störung infolge eines massiv belastenden Ereignisses, daß außerhalb des Rahmens der normalen menschlichen Erfahrung liegt (...)" ( Hahlweg und Ehlers, 1997, S.288)

Diese massiv belastenden Ereignisse können Gruppenerfahrungen, wie z.B. Krieg oder Naturkatastrophen sein, oder individuell erlebte Extremsituationen, wie z.B. eine Vergewaltigung oder Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch im Kindesalter. Mit den psychischen und physiologischen Folgeschäden dieser Kindheitstraumen und deren Behandlungsmöglichkeiten wird sich meine Arbeit beschäftigen.

2. Phänomenale Fragestellung: Erscheinungsbild und Verlauf der PTBS

In dem in Deutschland verwendeten Nachschlagewerk zur Diagnostik von psychischen Störungen der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) findet man die PTBS folgendermaßen definiert:
"Diese [die PTBS] entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören (...) Zeuge (...) oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus oder Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein. Prämorbide Persönlichkeitsfaktoren wie bestimmte Persönlichkeitszüge, (z.B. zwanghafte oder asthenische) oder neurotische Erkrankungen in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf verstärken, aber die letztgenannten Faktoren sind weder nötig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären.
Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks) oder in Träumen, vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und  emotionaler Stumpfheit,
Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Anhedonie sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Üblicherweise findet sich Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, die den Leidenden an das ursprüngliche Trauma erinnern könnten. Selten kommt es zu dramatischen akuten Ausbrüchen von Angst, Panik oder Aggressionen, ausgelöst durch ein plötzliches Erinnern und intensives Wiedererleben des Traumas oder der ursprünglichen Reaktion darauf.

Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Drogeneinnahme oder übermäßiger Alkoholkonsum können als komplizierende Faktoren hinzukommen. Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz, die Wochen bis Monate dauern kann(...). Bei chronischem Verlauf geht sie dann in eine dauerhafte Persönlichkeitsstörung über."  (ICD-10, 1993, F43.1, S. 169)

Ich habe mich für diese Definition des Verlaufs einer PTBS entschieden, da das ICD-10, neben dem DSM-IV das Standard-Nachschlagewerk zur Diagnostik von psychischen Störungen ist. Die Aufzählung möglicher Symptome und Folgen einer PTBS deckt sich weitgehend mit der einschlägigen Fachliteratur. Das DSM-IV definiert drei Symptomgruppen: 1. Intrusives Wiedererleben, 2. Vermeidung und reduzierte emotionale Reagibilität, 3. Übererregtheit. Es legt bei der Diagnostik der PTBS den Schwerpunkt auf die Vermeidung und reduzierte emotionale Reagibilität, das ICD-10 wiederum auf das Wiederleben des Traumas. Es besteht unter Fachleuten durchaus Kritik an unspezifischen und ungesicherten Symptomaufzählungen und Diagnoseleitlinien, wie denen im ICD-10 ( Schneider, 2005, S. 38), dass ich sie dennoch benutze, ist keine Ablehnung dieser Kritik, sondern folgt aus der faktischen Durchsetzung jener diagnostischer Kataloge auch in der sozialen Praxis.

Horrowitz (1976) geht davon aus, dass es eine phasische Abfolge von ’normalen’ psychologischen Reaktionen nach einem Trauma gibt. Direkt nach einem Trauma beginnt die Phase des Aufschreis. Sie ist gekennzeichnet durch Flucht- oder Kampfreaktionen und starke physiologische Übererregtheit. Danach folgt die Phase der Verleugnung im Wechsel mit der Intrusion. Kommt der Prozess zwischen diesen beiden widersprüchlichen Reaktionen zum Ende, werden die Erinnerungen weniger intensiv und die emotionalen Reaktionen darauf weniger stark. Dann beginnt die Phase des Durcharbeitens, in der das Trauma in die existierenden Informationsschemata integriert wird.

Abfolge verschiedener Phasen psychologischer Reaktionen nach einem Trauma
und pathologische Zustände als Ergebnis beeinträchtigter Verarbeitung nach
Horrowitz (1986)

TRAUMA

1. Aufschrei

übermäßig

1. extreme Angst

 

2a. Verleugnung

übermäßig

2a. extreme Vermeidung

 

2b. Intrusion

übermäßig

2b. überflutet sein von Erinnerungen

 

3. Durcharbeiten

blockiert

3. psychosomatische Reaktionen

 

4. Abschluß

nicht erreicht

4. Liebes- und Handlungsunfähigkeit

 (vgl. Steil und Ehlers in Reinecker, 1998, S.166)

Ob es zu Störungen dieser ’normalen’ psychischen Reaktionen kommt, liegt hauptsächlich am persönlichen Hintergrund des Betroffen, d.h. an seinem sozialen Hintergrund - vor allem ob er Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld erhält - , an seiner Prämorbidität, an seinem Selbstkonzept und an der Interpretation des Geschehens. Der Integrationsprozess kann durch einen Prozess der negativen Rückkopplung gestört werden, denn je stärker die negativen Emotionen, die mit der Erinnerung verbunden sind, desto stärker die Tendenz zur Vermeidung. Dadurch wird es erschwert, die Erinnerung als Teil der Persönlichkeit zu integrieren. Während der Phasen der Intrusion kann es zu einer neuen negativen Bewertung des Erlebnisses kommen, was zur Folge haben kann, dass der Betroffene fürchtet, er könne zukünftig ähnliche Ereignisse nicht verhindern und er erneut ein Gefühl der Ohnmacht entwickelt.

Horrowitz´ Theorie über die PTBS erwies sich als sehr einflussreich, seine Untersuchungen zu den psychischen Folgen von Traumata bei Vietnam-Veteranen trugen maßgeblich zur Aufnahme der PTBS als eigenständiges Krankheitsbild in das DSM III bei.

Das oben gezeigte Schema lässt sich gut auf das Schicksal von misshandelten, vernachlässigten oder missbrauchten Kindern anwenden. Denn häufig neigen sie dazu, das Erlebte zu verdrängen, besonders wenn sie Gewalt durch ihre Eltern erleben, gleichzeitig leiden sie unter intrusivem Wiedererinnern, was sich z.B. in Alpträumen äußert. Leben sie noch in ihren misshandelnden Familien, haben sie selten Bezugspersonen, die ihnen helfen, das Geschehene zu thematisieren, d.h. das Durcharbeiten ist blockiert. Wie Horrowitz voraussagt, leiden diese Kinder häufig an psychosomatischen Symptomen, wie z.B. Einnässen. Es sind Kinder mit solchen Biografien, die, wenn sie Glück haben, irgendwann in heilpädagogischen Pflegestellen landen. Doch oft geschieht dies zu spät, denn es zeigt sich in fast allen Fällen spätestens in der Pubertät, dass sie extreme Schwierigkeiten haben, zuverlässige Bindungen zu entwickeln.

Bei Steil und Ehlers (1998, S.158) wird die Epidemiologie und der Verlauf der PTBS beschrieben. Das Risiko, eine PTBS zu entwickeln, ist bei Frauen höher, als bei Männern. Ältere Menschen scheinen weniger anfällig zu sein, nach einem Trauma eine PTBS zu entwickeln. Von akuter PTBS spricht man, wenn sie nicht länger als drei Monate andauert und von einer chronischen wenn die Symptome länger als drei Monate anhalten. Bei circa 40-50% der Betroffenen kommt es laut Steil und Ehlers zu einer Chronifizierung. Zu den irreversiblen Schäden zählen vor allem der soziale Rückzug und die Entfremdung, die mit andauernden Persönlichkeitsveränderungen einhergehen.

Nicht jeder Mensch, der ein traumatisches Erlebnis hatte, entwickelt eine PTBS. Es müssen also zusätzlich zu den Merkmalen eines Traumas noch Faktoren wirken, die daran beteiligt sind, eine PTBS zu entwickeln.

3. Kausale Fragestellung

3.1 Psychologische Erklärungen  

Da ich mich in meiner Arbeit mit traumatisierten Kindern beschäftige, werde ich mich in diesem Abschnitt auf Erklärungsmodelle konzentrieren, die Traumata und ihre Folgen in der Kindheit untersuchen.

Die bekannteste lerntheoretische Erklärung zu diesem Thema stammt von Mowrer (1976).
Er erklärt das intrusive Wiedererinnern als klassisch konditionierte emotionale Reaktion. Reize, die mit dem traumatischen Ereignis verknüpft sind (z. B. ein bestimmtes Geräusch) werden zu Auslösern emotionaler Symptome.

Die Vermeidung traumarelevanter Reize werden operant über negative Verstärkung aufrecht erhalten. Vermeidet beispielsweise jemand nach einem Überfall stets die Straße, in der ihm dieses traumatische Ereignis widerfuhr, wird er damit ein intrusives Wiedererleben vermeiden. Dieses Vermeidungsverhalten wird sich verstärken, da ihm damit geglückt ist, seiner Angst aus dem Weg zu gehen.

Steil und Ehlers beurteilen diese Theorie jedoch kritisch, da z.B. klassisch konditionierte Reaktionen normalerweise über mehrere Paarungen des konditionierten und unkonditionierten Reizes aufgebaut werden und somit fraglich ist, ob einmalige kurze Traumata tatsächlich zu stabilen Konditionierungseffekten führen können. Symptome, die nicht mit Angst zu tun haben, greift diese lerntheoretische Erklärung gar nicht auf.
„Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Konditionierungstheorien einen wichtigen Bestandteil zum Verständnis derjenigen Symptome der PTBS leisten, die sich klar einer Angstreaktion zuordnen lassen. Sie münden in effektive verhaltenstherapeutische Behandlungsformen.“ (Steil und Ehlers in Reinecker, 1998, S.162)

Einen anderen Beitrag zur Erklärung von posttraumatischen Belastungssymptomen bei Kindern liefert die psychoanalytische Ich-Psychologie von René Spitz.

Spitz war Psychoanalytiker und Schüler von Sigmund Freud. Als theoretische Grundlage diente ihm die Ich-Psychologie Freuds. Er machte die wechselseitige Beziehung von Mutter und Kind und deren Bedeutung für die seelische Entwicklung zum Gegenstand seiner Untersuchungen. Er ging davon aus, dass ein Teil der Persönlichkeit des Menschen genetisch veranlagt sei und ein anderer Teil sich maßgeblich im Säuglingsalter entwickle. Hierbei ist für ihn die Mutter-Kind-Beziehung besonders wichtig. Da er mit Säuglingen keine psychoanalytische Tiefenforschung durchführen konnte, wählte er die Methode der Beobachtung und der empirischen Psychologie. Er untersuchte über viele Jahre Säuglinge verschiedenen Geschlechts und verschiedener Herkunft mehrmals wöchentlich mehrere Stunden lang unter Aspekten der Persönlichkeitsentwicklung (Entwicklung und Beherrschung der Wahrnehmung, des Körpers, der Beziehungen, des Gedächtnisses etc.). Bereits 1935 hatte er umfassende Säuglingsbeobachtungen durchgeführt und erstmals Filmaufnahmen, die später ausgewertet werden konnten, dokumentiert. 

Ein zentraler Begriff seiner Theorie ist die Objektbeziehung’ bzw. das ’Objekt der Libido’.
Eine Objektbeziehung besteht aus einem Subjekt (Säugling) und einem Objekt (Mutter). Diese Objektbeziehung entwickelt sich laut Spitz im Laufe des ersten Lebensjahres und mündet in ein ’Objekt der Libido’

Freud charakterisiert das Objekt der Libido folgendermaßen:
„Das Objekt des Triebes ist dasjenige, von welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist das Variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung seiner Befriedigung zugeordnet.“
(Freud in Spitz, 1960, S. 20)

Spitz stellte fest, dass Säuglinge drei Phasen bei der Entwicklung einer Objektbeziehung durchlaufen.

Die erste Phase nennt er ’Die objektlose Stufe’. Nach seinen Beobachtungen befindet der Säugling sich in den ersten drei Monaten in einer Phase der Undifferenziertheit.
 „Das Neugeborene ist nicht nur unfähig, ein Ding vom anderen zu unterscheiden, es kann es nicht einmal vom eigenen Körper abgrenzen und empfindet zu diesem Zeitpunkt die Umgebung als nicht von sich getrennt.“(Spitz. 1960, S. 21)

Das Neugeborene sei in einem Art Ruhezustand und kümmere sich lediglich um seine primäre Bedürfnisbefriedigung. Erst Ende des zweiten Monats erhalte der Mensch unter den Dingen eine besondere Bedeutung, da der Säugling dann einen herannahenden Menschen optisch wahrnehmen kann. Er schreit, wenn er hungrig ist und beruhigt sich wenn jemand naht. In dieser Zeit beginnt er, das Gesicht der Mutter beim Stillen unentwegt zu fixieren.

Ungefähr im dritten Monat ’antwortet’ der Säugling mit einem Lächeln beim Anblick eines Gesichtes. Spitz beobachtete, dass nicht nur die Mutter sondern jede beliebige Person angelächelt wird. Das Kind hat also noch keine echte Objektbeziehung entwickelt, sondern befindet sich auf dem Weg dazu, indem er aktiv auf menschliche Wesen reagiert. Spitz kennzeichnet diese Phase als ’Vorstufe des Objektes’.
„Das Phänomen ist der Beginn der sozialen Beziehungen im Menschenwesen und bildet die Vorraussetzung und Vorbild für alle späteren sozialen Beziehungen.“(Spitz, 1960, S.32)

Mit zirka sechs bis acht Monaten beginne das Kind, zwischen fremden und bekannten Gesichtern zu unterscheiden und äußere Unlustaffekte, wenn die Mutter abwesend ist oder fremde Personen sich ihm nähern. Dieses Phänomen nennt Spitz die ’Achtmonatsangst’ und ist für ihn ein Beweis, dass das Kind nun eine echte Objektbeziehung aufgebaut hat. Das Kind hat  im Vergleich zum ’Dreimonatslächeln’ eine neue Entwicklungsstufe erreicht. (vgl. Spitz, 1960, S. 54f)   

Der Säugling beginnt zunehmend, Gesten und Laute der Mutter nachzuahmen, bis sich circa im 12-18 Monat die Verständigungsversuche langsam in verbale Mitteilungen verwandeln. Dies ist laut Spitz der nächste entscheidende Wendepunkt in der kindlichen Entwicklung, da nun Worte zum Träger der Objektbeziehung werden.
„Die affektiven Signale, die das Kind von der Mutter empfangen hat, ihre Qualität, ihre Konstanz, die Gewissheit und Verlässlichkeit, die diese Signale dem Kind übermitteln, gewährleisten seine normale psychische Entwicklung. Diese von der Mutter dargebotenen affektiven Signale werden von ihrer unbewussten Einstellung bestimmt.“(Spitz, 1960, S.66)

Einen weiteren wichtigen Aspekt in der Persönlichkeitsentwicklung stellt die Triebentwicklung dar. Die Triebe entfalten sich nach Meinung von Freud und Spitz in Anlehnung an die Befriedigung oraler Bedürfnisse, die im Normalfall durch die Mutter gestillt werden. Da von der Mutter abhängt, wann sie die oralen Bedürfnisse ihres Kindes befriedigt, ist sie bei dem Kind sowohl für Gefühle des Wohlbefindens, als auch für Unlustaffekte verantwortlich. Gegen sie richten sich also sowohl libidinöse als auch aggressive Triebe. Es muss eine Synthese aus diesen beiden widersprüchlichen Tendenzen in einer Person stattfinden. Vom Gelingen dieser Synthese hängt ab, ob ein Kind lernt, Versagungen zu ertragen.
„Die Fähigkeit Versagungen zu ertragen, ist es letztlich , die dem Realitätsprinzip zu Grunde liegt. (...) Gleichzeitig ist es die Fähigkeit, Verzicht auf sofortige Triebbefriedigung zu ertragen, die die Denkfähigkeit ermöglicht.(...) Das macht die Abfuhr der Aggression in gerichteter Form und Lustgewinn möglich und dient dazu, die Herrschaft über die Dinge der Umwelt zu erwerben.“(Spitz, 1960, S. 61)

So beschreibt Spitz anhand seiner zahlreichen Beobachtungen die Entwicklung einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung und damit einer gesunden Ich-Konstitution des Kindes. Unter gesunder Mutter-Kind-Beziehung versteht Spitz:
„Es ist eine Beziehung, die sowohl die Mutter, wie das Kind befriedigen muß.“
(Spitz, 1960, S. 82)

Bei weiteren Versuchen untersuchte er Störungen in der Objektbeziehung und deren Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung.
„Seine revolutionären Studien in Heimen über die Auswirkungen längerer Trennung des Säuglings von seiner Mutter mit allen negativen Folgen für die motorische, kognitive und emotionale Entwicklung dieser Kinder führten ihn zur Beschreibung der Phänomene des ’Hospitalismus’ und der ’anaklitischen Depression’.“(Brisch, 2000, S. 63)

Er stellte bei Beobachtungen in Krankenhäusern auf Säuglingsstationen fest, dass diejenigen Neugeboren, die in ihren ersten Lebensmonaten eine sichere Bindung zu ihren Müttern aufbauen konnten und dann von ihnen getrennt wurden, im ersten Monat der Trennung sehr weinerlich reagierten, im zweiten zu schreien anfingen und begannen, die Nahrung zu verweigern, im dritten Monat schließlich verweigerten sie zunehmend den Kontakt zu den Beobachtern, der Gewichtsverlust nahm deutlich zu, ihre Motorik verlangsamte sich und ihre Krankheitsanfälligkeit nahm zu. Nach dem dritten Monat hörten sie zu weinen auf, begannen leise zu wimmern und nahmen einen starren Gesichtausdruck an, entwickelten Autoaggressionen, bis sie schließlich lethargisch, meist auf dem Bauch, in ihren Bettchen lagen. Diesen Zustand nennt Spitz ’anaklitische Depression’. Die Störungen verschwanden relativ schnell, wenn man sie in der kritischen Phase (um den dritten Monat der Trennung) ihren Müttern, bzw. einem annehmbaren Mutterersatz zurückgab. Er stellte jedoch darüber hinaus fest, dass Kinder, die von einer anaklitischen Reaktion genesen waren, zwar keine Aggressionen mehr gegen sich selbst richteten, dafür aber gegen andere Gleichaltrige. (vgl. Spitz. 1960, S.111 u. S.115)

Noch frappierender waren die Ergebnisse einer Untersuchung, die er an 91 Neugeborenen in einem Säuglingsheim vornahm, in dem eine Schwester für 10 Neugeborene zu sorgen hatte. Die körperliche Fürsorge sei vortrefflich gewesen, jedoch hatten die Schwestern keine Zeit für irgendeine Form von affektiver Zuwendung (Sprechen, Wiegen, Streicheln, Spielen). Die Neugeboren durchliefen erst die oben genannten Stadien und wurden schließlich völlig apathisch. Ihr Gesichtausdruck war vollkommen leer, und sie erreichten keine der altersangemessenen Entwicklungsstufen. Viele erlernten nicht einmal das Laufen, sie zeigten eine verminderte Resistenz gegen Infekte und ein deutlich unterdurchschnittliches Intelligenzniveau. 37 der 91 untersuchten Kinder starben schließlich. Dieses klinische Bild wird ’Hospitalimus’ genannt.
„...es zeigt eindrucksvoll, dass die normalen Mutter-Kind-Beziehungen weit über das körperliche hinaus eine lebenserhaltende, vor Krankheit schützende Wirkung haben, indes der völlige Liebesentzug zu einem fortschreitenden Verfall führt. Der Verfall der Kinder steht in direktem Verhältnis zur Dauer des Liebesentzugs, dem der Säugling ausgesetzt ist.(...) Die anaklitische Depression und der Hospitalismus zeigen uns, dass das durch Liebesentzug bedingte Fehlen von Objektbeziehungen die gesamte Entwicklung auf allen Gebieten der Persönlichkeit zum Stillstand bringt.“(Spitz, 1960, S114)

Einen damit verwandten Erklärungsansatz liefert die Bindungstheorie.

Begründer der Bindungstheorie ist John Bowlby. Er war Kinderarzt und Psychoanalytiker und in seiner Arbeit naturwissenschaftlich orientiert. Bereits 1940 begann er die negativen Folgen längerer Trennungen zwischen Mutter und Kleinkind zu untersuchen. Bowlby betrachtete Mutter und Säugling als Teilnehmer eines sich selbst regulierenden Systems. Er ging davon aus, dass alle Säuglinge instinktiv nach Bindung streben und Signale senden, die bei ihren Müttern instinkthaftes Pflegeverhalten auslösen (gemeint sind nicht nur leibliche Mütter, sondern alle weiblichen und männlichen Personen in mütterlicher Funktion). Die Bezugsperson muss ’feinfühlig’ die Signale des Säuglings wahrnehmen und sofort darauf reagieren. Wenn die Pflegeperson die Bedürfnisse des Säuglings befriedigt, kann er eine sichere Bindung aufbauen.

Die Herstellung der Bindung durch Austausch  der dafür notwendigen Signale, nennt man „bonding“. Dazu gehören der Austausch von Lächeln und Lauten, das Schaukeln, leises Singen, Füttern und das Präsentieren des Gesichtes in ca. 30cm Entfernung. Dies entspricht der Entfernung der mütterlichen Brust zum Gesicht. Diese Verhaltensweisen lösen neurochemische Reaktionen im Gehirn des Kindes aus, die zur Entwicklung des Beziehungsverhaltens beitragen. Die entscheidenden Grundsteine für das Bindungsverhalten eines Menschen werden in den ersten 12 Monaten gelegt, in dieser Zeit entwickelt das Kind sein Modell für späteres Beziehungs- und Bindungsverhalten. Wird es in dieser Zeit vernachlässigt oder misshandelt, nimmt es schwere, teilweise dauerhafte Schäden. In diesem Punkt stimmen Bowlbys Untersuchungen mit denen von Spitz genau überein.

Die Bindungsqualität von 12-18 Monate alten Kindern wird mit Hilfe des Testes zur ’Fremden Situation’ nach Mary Ainsworth (1978), einer Schülerin Bowlbys, untersucht.

Die Testsituation wird folgendermaßen gestaltet:
Mutter und Kind werden in einen fremden Raum gebracht, in dem sich interessantes Spielzeug befindet. Nach einer Weile betritt eine fremde Person den Raum und spricht die Mutter an. Die Mutter verabschiedet sich dann kurz von ihrem Kind und verlässt das Zimmer. Die fremde Frau macht nach einer kurzen Zeit Trost- und Spielangebote. Nach einer Weile betritt die Mutter wieder das Zimmer, und die fremde Frau geht hinaus. Nach einigen Minuten verlässt die Mutter wortlos das Zimmer und kehrt nach spätestens drei Minuten zurück. Der gesamte Vorgang wird auf Video aufgezeichnet. Später werten Beobachter die Situation unter Gesichtpunkten der Bindungssicherheit aus.

Ainsworth fand zunächst drei verschiedene Bindungsstile heraus:

1. sichere Bindung, 2. unsicher- vermeidende Bindung, 3. unsicher ambivalente Bindung. Erst später wurde von Mary Main die unsicher-desorganisierte Bindung als vierte Kategorie hinzugefügt.

Wie häufig diese Bindungsstile sind und wie sich die Kinder in der ’Fremden Situation’ verhalten ist folgender Aufstellung nach Perry (2002) zu entnehmen:

Bindungsstil

bei Einjährigen vorfindbar in Prozent

Verhalten in der „Fremden Situation“

sicher gebunden

60-70%

in der ungewohnten Situation zunächst neugierig; Aufregung und Weinen bei Trennung; warme Begrüßung bei Rückkehr der Mutter; Streben nach Berührung und Trost beim Wiedersehen

unsicher-vermeidend

15-20%

Ignoriert anwesende Mutter; folgt der Mutter mit den Augen, wenn sie Zimmer verlässt; wendet sich beim Wiedersehen von ihr ab;

unsicher-ambivalent

10-15%

wenig Neugier; bleibt in der Nähe der Mutter; sehr verzweifelt bei Trennung ambivalent oder wütend bei Rückkehr und wehrt sich gegen Mutter beim Wiedersehen.

desorganisiert/desorientiert

5-10%

Gleichzeitige oder schnelle Aufeinanderfolge von Annäherung und Meidung der Mutter, verwirrt benommen; dissoziative Zustände (tranceartig)

(aus Huber, 2003, S. 90f)

Heute weiß man, dass die Auswertung dieser ’Fremden Situation’ einen ziemlich verlässlichen Aussagewert für das zukünftige Bindungsverhalten der Testperson hat.

Wer als Kind sicher gebunden war, hat als Erwachsener wahrscheinlich weniger Angst vor Nähe und Abhängigkeit von anderen, wenn das Verhältnis ausgewogen ist. Es besteht wahrscheinlich eine hohe Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen. Wer eine sichere Bindung als Kind erlebt hat, wird mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch für seine Kinder eine verlässliche Bezugsperson sein. (vgl. Huber, 2003, S.92)

Menschen mit einer unsicher-vermeidenden Bindung neigen als Erwachsene dazu, ihre Bindungen eher entwertend zu beschreiben. Sie legen wahrscheinlich Wert auf ihre Unabhängigkeit und können oft nicht damit umgehen, wenn andere von ihnen abhängig sind.

Dies ist häufig der Fall, wenn Mütter ihren Kindern signalisiert haben, dass sie zu viel Zeit in Anspruch nehmen. (vgl. Huber, 2003, S. 92)

Unsicher-ambivalent gebundene Menschen sind häufig noch verstrickt in ihre frühen Bindungen. Oft sind sie zwar bereit, sich auf neue Bindungen einlassen, aber entwickeln dann gleichzeitig  Wut auf die Bezugsperson, da sie ihre Abhängigkeit spüren und früher die Erfahrung gemacht haben, dass Bindung zwar schön, aber nicht zuverlässig war. (vgl. Huber, 2003, S. 92f)
„Beide Formen von unsicherer Bindungsrepräsentanz - die eher ablehnend/entwertende und die unsicher-verstrickte Form - kommen häufig bei Menschen mit
Persönlichkeitsstörungen vor. Kein Wunder, ist doch das Hauptkennzeichen der Persönlichkeitsstörungen die Störung der Beziehungsfähigkeit. Und: Zwischen 60 und über 90% der Persönlichkeitsstörungen haben Traumata, sehr häufig frühe Traumata, als Hintergrund.“ (Huber,2003, S .93)

Unsicher-desorganisiert gebundene Kinder leiden unter dem Konflikt, dass sie Angst vor den Menschen haben, auf die sie angewiesen sind. Erfahrungsgemäß entwickeln sie kein stimmiges Beziehungsmodell und können häufig im späteren Leben keine verlässlichen Bindungen aufbauen. Als Ursache hierfür vermutet man, dass sie durch die fehlende Bindung keine Empathie entwickeln konnten. Es besteht die Gefahr, dass Menschen mit diesem Bindungsmuster selbiges an ihre Kinder weitergeben.

Dass die Entwicklung eines Kindes durch frühe Traumata derartig gravierend beeinträchtigt wird, liegt unter anderem daran, dass Säuglinge oder Kleinkinder nicht darauf programmiert sind, selbstständig zu sein und sich bei Gefahr in Sicherheit bringen zu können. Der Mensch ist besonders in seinem ersten, sog. extrauterinen Lebensjahr und in geringerem Maße seine gesamte Kindheit hindurch darauf angewiesen, sich mit einer Bezugsperson zu verbinden, die ihn versorgt, vor Gefahren schützt und tröstet, wenn er Angst hat.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Kinder, die traumatisierende Erlebnisse wie Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erleben, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit  Bindungs- und Beziehungsstörungen entwickeln, da sie schlechter mit Stress oder Bedrohungen fertig werden, zu Aggressionen, Übererregtheit und oder zu emotionaler Stumpfheit neigen. Das Risiko einer dauerhaften Persönlichkeitsstörung und zur Suizidalität ist erhöht. Carlson stellte fest, dass 82% der von ihm untersuchten misshandelten Kinder desorganisiert und desorientiert reagierten (vgl. Glaser, 2002, S.54).

Eine sichere Bindung ist also eine wichtige Vorraussetzung für eine gesunde psychosoziale Entwicklung. Die dramatischsten Beeinträchtigungen einer positiven Bindungsentwicklung sind Vernachlässigung, Misshandlung und/oder Missbrauch. Wird ein Kind von den Menschen misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt, die es eigentlich liebevoll versorgen sollten und von denen es abhängig ist, nimmt es Schäden auf allen Ebenen: Von  seiner Beziehungsfähigkeit bis zur Leistungsfähigkeit, von der Entwicklung eines Selbstkonzeptes bis hin zur Hirnentwicklung.

Da sowohl der Ich-psychologische Ansatz von Spitz, wie auch die Bindungstheorie  von Bowlby stark von psychoanalytischen Wurzeln profitieren und in der sozialen Praxis Theo-rien ohnehin keinen dogmatischen Anspruch erheben können, sondern lediglich als Lieferanten fruchtbarer Verstehens- und Handlungshypothesen genutzt werden, erübrigt sich eine Entscheidung, welche dieser beiden Theorien „die bessere“ sei.

Die Bindungstheorie hat auch biologische Komponenten, sie hätte deshalb auch in das folgende Kapitel gesetzt werden können. Jedoch sind die biologischen Komponenten in der neurobiologischen Theorie noch dominanter, die deshalb im  nächsten Abschnitt gesondert betrachtet wird.

3.2  Biologische Erklärungen

In den letzten Jahren konnten durch moderne bildgebende Methoden der Gehirnforschung, Erkenntnisse gewonnen werden, die ein neues Verständnis der gesunden und gestörten Persönlichkeitsentwicklung des Menschen zur Folge haben.
„Bis vor kurzem standen sich Neurobiologie, Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie noch als getrennte und zum teil opponierende Bereiche gegenüber. Sie befanden sich in wissenschaftlicher Konkurrenz um den vermeintlich „richtigen“ Zugang zum Verständnis von Ursachen psychischer Störungen und deren wirksamsten Behandlungsmethoden. Diese Zeit scheint erfreulicherweise zu Ende zu gehen.“ (Besser, in Möller, 2005, S. 123)

Das menschliche Gehirn ist ein komplexes System bestehend aus 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen). Das neurale System dient dazu Signale aller Art aus der Umwelt aufzunehmen, zu erkennen, zu verarbeiten und zu speichern, aber auch um auf Signale die der Körper sendet, wie z. B. Hunger oder Schmerz zu reagieren. Im Hirnstamm werden die lebenswichtigen Vitalfunktionen, wie Atmung, Herzschlag, Wachheit aber auch die Mobilisation von

Überlebensreaktionen gesteuert. Der Neocortex (Hirnrinde) ermöglicht uns das abstrakte Denken, die Komplexität der Sprache zu verstehen und zu nutzen und eine Vorstellung von der Zukunft zu haben. Das Zwischenhirn, insbesondere das limbische System, ist für die Steuerung von Gefühlen, Interaktion, Affektregulation, Sozial- und Bindungsverhalten verantwortlich.

Durch neue bildgebende Verfahren (PET, MRT) gelingt es mehr und mehr, Gehirnaktivität darzustellen und so festzustellen, wann es wo und wie arbeitet.

Ein besonders wichtiges Resultat der Hirnforschung ist, dass sich das Gehirn in Abhängigkeit von der Art und Weise entwickelt, wie es genutzt wird. Das Phänomen, dass unser Gehirn über ständigen Austausch mit seiner Umwelt geformt wird und sich selber strukturiert, heißt Neuroplastizität. Neuroplastizität meint also die Fähigkeit von Neuronen, sich entsprechend ihrer Nutzung anzupassen und zu verändern. Vermehrte Inanspruchnahme führt zu einer Zunahme und Verbesserung synaptischer Kontakte der Neuronen untereinander. Dieses Prinzip ist Grundlage menschlicher Lernvorgänge. Die Entwicklung des Gehirnes und damit der Persönlichkeit eines Menschen, also seiner Denk- und Handlungsmuster, seiner Vorstellungen und seiner Gefühlswelt, sind abhängig von Art und Intensität der gemachten Erfahrungen. Es sind auch Bedingungen möglich, unter denen die Komplexität wieder abgebaut wird, wenn z. B. andauernder Stress oder extreme Reizarmut auftritt.

In der Traumaforschung ist die Entdeckung der Neuroplastizität von immenser Bedeutung. Es konnte nachgewiesen werden, dass die PTBS keine rein psychische Störung, sondern mit gehirnorganischen Veränderungen verbunden ist. Dies gilt insbesondere für Erlebnisse im Kindesalter, da sich in dieser Zeit das Gehirn noch physiologisch im Aufbau befindet. Bei Neugeborenen sind die neuronalen Verschaltungen noch nicht festgelegt. Nur die Fähigkeit zur Vernetzung, also zum Lernen und die basalen Reaktionsmuster sind genetisch angelegt. Die Entstehung und Vernetzung von Synapsen ist erst im zweiten Lebensjahr nahezu abgeschlossen. In diesem Zeitraum ist das Gehirn also besonders vulnerabel. Allerdings sind auch bei Erwachsenen noch strukturelle Gehirnveränderungen festzustellen, je nach Nutzung des Gehirns. Man stellte z.B. bei berufserfahrenen Taxifahrern in London einen vergrößerten Hippocampus fest. Der Hippocampus ist die Region im Gehirn, die u. a. für die räumliche und zeitliche Orientierung beansprucht wird. Es hat also eine nutzungsabhängige Strukturierung des Gehirns stattgefunden.
„Das menschliche Gehirn ist also zeitlebens, besonders aber in der Kindheit, formbar wie eine Wachstafel. Eine positive seelische, geistige und körperliche Entwicklung des Kindes ist besonders in den ersten Lebensjahren- wie wir nun wissen- nur durch angemessene Erfahrungen innerhalb bestehender sicherer Bindungen und im sozialen Kontext möglich.“
(Besser, in Möller, 2005, S. 130)

Die Neuropsychologie kann also auf Grund dieser neuen Verfahren davon ausgehen, dass traumatische Erlebnisse tiefgreifende Auswirkungen auf das Gehirn und die Persönlichkeitsentwicklung haben.

Wenn ein Mensch in eine existenziell bedrohliche Situation gerät, ist es möglich, dass es zu einer Reaktion kommt, die Michaela Huber „die traumatische Zange“ (vgl. Huber, 2003, S. 41) nennt: Es findet eine Überflutung mit aversiven Reizen statt, auf die der Betroffene nicht vorbereitet ist und mit der die Bewältigungsmechanismen überfordert sind. Zuerst kommt es zu einer ’fight-or-flight-Reaktion’. Es gibt aber Situationen in denen der Betroffene weder die Möglichkeit zu kämpfen, noch zu fliehen hat. Er wird überwältigt von einem Gefühl der Ohnmacht, Hilflosigkeit, dem Gefühl des Ausgeliefertseins und Angst (z.B. in Missbrauchssituationen). Befindet sich ein Mensch in einer dieser ausweglosen Situationen, sucht sich das Gehirn einen anderen Weg, der Bedrohung zu entkommen, die ’freeze-and-fragment- Reaction’. Der Mensch macht den aggressiven Reiz unschädlich, indem er sich innerlich von dem Erlebnis distanziert, er entfremdet sich vom Geschehen. Das Opfer „friert“ seine kognitiven, psychologischen und physiologischen Funktionen ein. Außerdem kommt es zu einem fragmentierten Speichern der sensorischen, kognitiven, emotionalen und körperlichen Erlebnisaspekte des traumatischen Ereignisses im Gehirn, so dass das Ereignis nicht mehr zusammenhängend erinnert werden kann. Besser drückt dies so aus:
„Der Vergleich mit einem Spiegel, der im Augenblick des traumatischen Stressgipfels zerspringt, macht deutlich, dass die zurückgebliebenen Spiegelsplitter nicht mehr erkennen lassen, was passiert ist, sondern nur noch, dass etwas passiert ist.“
(Besser in Huber, 2003, S.43f)

Die bildgebenden Verfahren zeigen, dass Menschen, die ein schweres Trauma erlebten Blockaden in der Informationsverarbeitung und Speicherung haben und besonders die Zusammenarbeit von rechter Gehirnhälfte (primär prozesshafte Wahrnehmung; Gefühlsgenerierung) und linker Gehirnhälfte (sekundär prozesshafte Wahrnehmung; rationale Generierung) gestört ist.

Löst man während der PET einen traumatischen Sinnesreiz aus (z.B. ein Geräusch, welches im Zusammenhang mit dem Trauma stand), zeigt sich eine starke Aktivität im Mandelkern (Amygdala) und ein fast vollständiger Aktivitätsausfall im Hippocampus und dem Broca Sprachzentrum.

Amygdala, Hippocampus und Thalamus sind wesentliche Bestandteile des limbischen Systems. Amygdala und Hippocampus sind unter anderem für die Verarbeitung von stressreichen Ereignissen verantwortlich. Sie funktionieren unterschiedlich, ergänzen sich aber.

Der Hippocampus, der eine enge Verbindung zum Broca Sprachzentrum aufweist, ist gewissermaßen das ordnende Archiv, der wesentliche Teil unseres biografischen, zeitlich-räumlichen, expliziten Gedächtnisses. Informationen werden in Sprache verpackt und gut moderiert im frontalen und präfrontalen Regionen des Cortex gespeichert.

Die Amygdala registriert alle Sinneseindrücke und Informationen ungefiltert und fragmentiert ohne jegliche Raum-Zeit-Einordnung, vor allem die, die unter hohem Affekt stattfanden. Die dort abgespeicherten Informationen sind leicht durch Schlüsselreize aktivierbar.

Führt man also einem Betroffenen einen traumarelevanten Schlüsselreiz zu, wird die Amygdala stark aktiviert, es kommt zu einer Überflutung von negativen Emotionen, also zu einer Ausschüttung von Stresshormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, ACTH, CRF und Endorphine). Der Hippocampus ist blockiert, und das Geschehnis wird emotional und kognitiv vom Bewußtsein abgespalten. Dies verhindert eine rationale Integration ins Gedächtnis.

Da dies nicht nur akut während der traumatischen Situation geschieht, sondern auch nachträglich, misslingt den Betroffenen häufig die Integration eines Traumas als abgeschlossenes Erlebnis der Vergangenheit und als Teil der Persönlichkeit in den Hippocampus.

Traumatische Erlebnisse können als nicht konkrete oder sogar fehlende Erinnerungen lange Zeit im Unterbewusstsein schlummern, bis sie plötzlich nach Jahren durch einen bestimmten Auslöser wieder an die Oberfläche gelangen und erneut zu Stressreaktionen oder Symptomen führen können.
„Traumata können also ein Gehirn in seiner Funktion oder gar in der Struktur so verändern, dass es psychische Auffälligkeiten und Störungen erzeugt. Nachweise dieser Tatsache konnten inzwischen durch die bildgebenden Verfahren (PET, SPECT, fMRT) erbracht werden.
Monotraumata im Erwachsenenalter können die Gehirnfunktion im Sinne einer posttraumatischen Stresserkrankung (PTBS, s. ICD-10:F 43.1) verändern, anhaltende Traumatisierungen besonders in der frühen Kindheit - so genannte Entwicklungstraumata - verändern die Hirnstruktur. Unsicheres, fehlendes, reizüberflutendes oder diffuses Bindungsverhalten der wichtigsten Bezugsperson - meist der Mutter - und bedrohliche traumatische Erlebnisse wie Vernachlässigung, emotionale, physische oder gar sexualisierte Gewalt und andere Schockerlebnisse, auch der plötzliche Verlust von Bindungspersonen beeinflussen die Hirnentwicklung des Säuglings, des Kleinkindes, Schulkindes und auch des Jugendlichen erheblich.“
(Besser in Möller, 200, S.144)

Bereits Monotraumatisierungen in der Kindheit können zu Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung führen (z.B. plötzlicher Verlust eines geliebten Menschen).Bei sog. sequenziellen Traumatisierungen (z.B. ständige Misshandlung) wird das Gehirn regelmäßig mit Stress überflutet, und es werden in den basalen Gehirnregionen immer wieder Überlebensreaktionen bzw. Freeze-und-Fragment-Reaktionen ausgelöst. Die Ausmaße einer PTBS hängen dabei von Häufigkeit, Intensität, Dauer und Ausmaß der Gewaltanwendung ab, weiterhin ob familiärer oder fremder Schutzraum vorhanden ist.

Diese traumatisierenden Erlebnisse und deren Auswirkungen auf das Gehirn führen dann zu Symptomen wie Übererregtheit, Unruhe, Schmerz, Angst, Schlafstörungen, Aggression, Resignation, Isolation, mangelnde Impulskontrolle, Kontakt- und Beziehungsstörungen, Leistungsversagen also zu den Symptomen einer PTBS.

Fast alle heilpädagogischen Pflegekinder haben eine Vorgeschichte bestehend aus Vernachlässigungs-, Misshandlungs- oder Missbrauchschicksalen, denn sonst wären sie nicht ihren Familien entzogen worden, und tatsächlich weisen fast alle dieser Kinder weisen mindestens eines der genannten Symptome auf

Der neurobiologische Erklärungsansatz hat den großen Vorteil, dass durch Traumatisierung seelisch behinderte Kinder, ähnlich wie körperlich und geistig behinderte, einen leichteren Zugang zu materiellen und psychosozialen Hilfen erhalten und dass man sie sozialisatorisch nicht überfordert, da sie mehr heilungs- als erziehungsbedürftig sind. Der Nachteil ist die Gefahr voreiliger Stigmatisierungen und einer einseitig biologistischen, statt interdisziplinären Sichtweise. Inzwischen gibt es aber bekannte Autoren, die sich um die Integration des neurobiologischen Ansatzes in die psychoanalytische Sichtweise bemühen. (z.B. Kaplan-Solms/ Solms, Schore, Streeck-Fischer, Egle et al.)

3.3  Soziologische Erklärungen

Die großen soziologischen Theorien zielen nicht auf spezielle klinische Gruppen und müßten für die traumatisierten Kinder erst fruchtbar gemacht werden, z.B. das Entfremdungskonzept von Karl Marx oder das Risiko-Konzept von Ulrich Beck. Diese Arbeit kann hier nicht geleistet werden.

Ein in der öffentlichen Diskussion oft wiederholtes soziologisches Argument nutzt den statistischen Zusammenhang von Armut und Dissozialität für die Annahme, dass Armut Ursache für Vernachlässigung und Misshandlungen in der Familie sei. In einer Rundfunkdiskussion sprach ein Soziologe von der "Vergleichgültigung der Eltern durch Armut". Diese Argumentation ignoriert den Sachverhalt, dass derart extreme Formen der Armut, die Vernachlässigung und Misshandlungen erzwingen, in unserem Sozialstaat mehr als Folge familiärer Dissozialität vorkommen als als deren Ursache. Eine These von der "Verarmung der Eltern durch Gleichgültigkeit" wäre mindestens ebenso plausibel.  Es gibt jedenfalls keine empirische Untersuchung, die nachweist, dass psychisch gesunde Eltern die von Sozialhilfe leben, mehr als andere ihre Kinder vernachlässigen oder misshandeln.

4. Aktionale Fragestellung:

4.1  Präventive Reaktionsmöglichkeiten

Es ist nicht nur so, dass starke Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung traumatisierend wirken und zu posttraumatischen Symptomen führen können, sondern auch so, dass eine emotional sichere Bindung gegen Traumatisierungen bzw. ihre psychischen Folgen schützt. (vergl. Van der Kolk, Mc Farlane, Weisaeth, 2000, S. 325)

Brisch hält es deshalb für sinnvoll, Präventionsarbeit mit werdenden Eltern zu leisten. Er führte Schulungen durch, in denen erstgebärende Paare über Ergebnisse aus der Säuglingsforschung und über die Bedeutung einer zuverlässigen Bindung informierten. Die Eltern bekamen auch Gelegenheit, ihre eigenen Bindungserfahrungen zu reflektieren. Nach der Geburt wurden die Eltern getrennt auf Video aufgenommen, während sie das Kind wickelten und mit ihm spielten. Hinterher wurde die Situation gemeinsam unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet, um ihr Verhalten im Bezug auf den Säugling zu reflektieren und sensibilisieren.
„Allerdings reicht nach unserer Erfahrung ein solches Training bei eigener Bindungsstörung der Eltern nicht aus. Es könnte aber junge Eltern darauf vorbereiten, sich bei entsprechenden Schwierigkeiten auch eine therapeutische Hilfestellung zu holen. Dies wäre ein erster Ansatz, die frühkindliche Entwicklung und die notwendige Erziehungsarbeit der Eltern nicht länger einem Wechselspiel von Versuch und Irrtum zu überlassen.“(Brisch, 2000, S. 268)

Weil Kinder ausgesprochen unfeinfühliger Eltern es schwer haben, sich feinfühlig und empathisch anderen gegenüber zu verhalten, vermutet man, dass sie deshalb auch zu aggressivem Verhalten neigen. Auf Grund dessen wird eine ’Empathieschulung’ in Kindergärten und Grundschulen gefordert.
„(...) sie soll eine korrigierende emotionale Erfahrung darstellen, die es erleichtern würde, einerseits angestaute Aggressionen aus Bindungserfahrungen mit den Eltern und anderen Bezugspersonen zu verstehen und anderseits Einfühlung zu lernen und neue Bindungserfahrungen zu machen, die eventuell korrigierenden Einfluss haben könnten.“
(Brisch, 2000, S. 271)

Auf Grund mehrerer Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung, die schließlich zum Tod geführt haben, gibt es die Forderung von Kinder- und Jugendärzten und Politikern, die freiwilligen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen von der Geburt bis zum Grundschulalter zur Pflicht zu machen, um so eventuelle Zeichen von Vernachlässigung (z.B. Unterernährung) oder Misshandlung (z.B. ungewöhnliche Verletzungen) frühzeitig zu erkennen und entsprechend reagieren zu können.
„Jessicas Tod (...) hätte nach Ansicht des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte möglicherweise verhindert werden können, wenn es in Deutschland verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen gäbe. Dr. med. Wolfram Hartmann: „ Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es Eltern gibt, die mit ihrer Aufgabe überfordert sind. Diese Eltern dürfen wir nicht alleine lassen. Kindesvernachlässigungen und -misshandlungen sind keine Privatsache. Für diese Fälle ist es unerlässlich, den öffentlichen Gesundheitsdienst durch Kinder- und Jugendärzte zu stärken. Diese Ärzte sollten dann die Familien auch zu Hause aufsuchen und dort Missstände erkennen und Hilfe anbieten, notfalls auch durchsetzen. Denn Elternrechte enden da, wo Kinder zu Schaden kommen.“
(Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, 2005)

Eine weitere präventive Maßnahme bietet die Adoptionsfamilie, allerdings nur wenn die werdende Mutter sich mit der Aufgabe, ein Kind angemessen versorgen zu können, überfordert sieht und geeignete Adoptiveltern ausgewählt werden können.

Allgemein ist zu präventiven Maßnahmen festzustellen, dass sie zwar sehr wünschenswert sind, weil sie die generationenüberschreitende Weitergabe der Traumatisierungen unterbrechen würden, andererseits aber sind alle präventiven Maßnahmen auf die Mitwirkungsbereitschaft und -fähigkeit der Eltern angewiesen, die gerade in diesem Klientel häufig nicht anzutreffen sind. Wenn die Mitwirkungsbereitschaft der Eltern nicht vorhanden ist, das Kindeswohl aber trotzdem offensichtlich gefährdet ist, muss der Staat sein Wächteramt wahrnehmen und eingreifen, bevor es zu dauerhaften Traumatisierungen im Kindesalter kommt. Diese Möglichkeit und Pflicht nimmt er häufig nicht angemessen wahr, so daß die Kinder meist erst aus ihren vernachlässigenden und misshandelnden Familien genommen werden, wenn sie bereits psychisch und physisch erhebliche Beeinträchtigungen aufweisen. (vgl. Eberhard/Eberhard/Malter)

4.2 Therapeutische Reaktionsmöglichkeiten

van der Kolk empfiehlt eine von vorneherein individualisierende Vorgehensweise, beginnend mit einer sorgfältigen Anamnese (Art des Traumas, Rolle des Patienten dabei, Wirkung des Traumas auf das Leben, frühere Erlebnisse, soziale Beziehungen, Ressourcenanalyse, etc.)

Empirische Studien (Solomon 1992) ergaben, dass verhaltenstherapeutische Techniken im Vergleich zu pharmakologischen und psychoanalytischen Therapien am ehesten erfolgsversprechend waren, besonders was die Dekonditionierung von Angst betrifft. Dies gilt vor allem für monotraumatische Erlebnisse und nicht so sehr für langanhaltende frühkindliche Traumatisierungen.

Als eine relativ effektive Behandlungsform erwies sich auch die Gruppentherapie, sowohl bei akut, als auch bei chronisch Erkrankten. Durch das gemeinsame Schicksal entsteht ein Gefühl der Verbundenheit, und Sicherheit entwickeln können, dass es ihnen erleichtert zu verbalisieren, was geschehen ist. (vgl. Van der Kolk, Mc Farlane, Weisaeth, 2000, S.326) Voraussetzung dafür ist allerdings ein Mindestmaß an Gruppen- und Empathiefähigkeit, die bei dem angezielten Personenkreis oft nicht vorliegt.

Eine etwas umstrittene Methode ist die Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) nach Shapiro. Dabei wird der Patient angewiesen, sich die ursprüngliche traumatische Erfahrung vor Augen zu halten, dann wird er aufgefordert sich auf die damit verbundenen Gefühle zu konzentrieren. Gleichzeitig führt der Therapeut gleichmäßige Hin-und-Her-Bewegungen mit dem Finger vor ihm aus, denen der Patient mit den Augen folgen soll. Erfolgreiche Fallbeispiele lassen darauf schließen, dass die Methode trotz dieser unbegreiflichen Technik bei manchen PTBS-Patienten tatsächlich therapeutische Wirkung hatte (vgl. Lytle in van der Kolk 2000, S.328). Auch hier gilt, dass die Methode für monotraumatische Fälle eher indiziert ist, als für sequenzielle.

Wie schon kurz erwähnt, ist es auch möglich  pharmakologisch auf die PTBS zu reagieren. Am häufigsten werden die Betroffenen mit Antidepressiva behandelt. Es zeigte sich, dass dadurch die Intrusionssymptome gelindert werden konnten. Auch für die Behandlung der Übererregtheit wurden wirksame Medikamente entdeckt. Besonders bekannt ist das Ritalin. Wegen seines inflationären Gebrauchs mahnt der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Gerald Hüther:
„Die Verordnung vom Stimulantien kann notwendig sein. Die Indikationsfrage und Verordnungspraxis scheint uns in den skandinavischen Ländern vorbildhaft gelöst zu sein. (...) Jeder, der dort eine Behandlung durchführen und begleiten will, muss eine kinderneurologische, kinderpsychiatrische und psychotherapeutische Fachkompetenz erworben haben und nachweisen können. Der Einsatz vom Stimulantien darf erst dann erfolgen, wenn alle psychotherapeutischen Interventionen unter Einschluss der Arbeit mit der Familie erfolglos geblieben sind. Vorraussetzung für eine Behandlung mit Medikamenten ist die Bereitschaft zur Kooperation von Eltern und Schule. Die medikamentöse Behandlung hat zeitlich begrenzt zu erfolgen.(...) Alle Behandlungseffekte werden gewöhnlich nach ein bis zwei Monaten geprüft und dokumentiert. Sämtliche Daten müssen der Lizenz erteilenden Behörde zu Verfügung gestellt werden, wenn nach einjähriger Behandlung mit feinabgestimmten Arzneidosen der Antrag auf Weiterbehandlung notwendig ist.“(Hüther, 2002, S.78f)

Für die Therapie der Vermeidung und der emotionalen Taubheit gibt es keine effektive pharmakologische Behandlung (vgl. Steil und Ehlers, 1998, S.172). Eine pharmakologische Behandlung kann also in bestimmten Fällen nötig werden und die Psychotherapie unterstützen.

Zusätzlich zu jeder Therapie kann heilend wirken, dem Betroffenen dazu zu verhelfen, aktiv erfreuliche Erfahrungen zu sammeln, wie z.B. durch  künstlerische oder körperliche Betätigungen, damit ein Gefühl des Vergnügens und der Impulskontrolle aufgebaut werden kann.

Der behandelnde Therapeut muss bei seiner Arbeit sehr einfühlsam und vorsichtig mit dem Patienten umgehen.
„Nach der intensiven Bemühung der Patienten, ein Wiedererleben des Traumas abzuwehren, können die Therapeuten nicht erwarten, dass der Widerstand ihrer Patienten gegen das Wiedererinnern plötzlich unter ihren empathischen Bemühungen dahinschmilzt.(...) Nur wenn die Fragen der interpersonellen Sicherheit gefahrlos angesprochen werden können, kann die therapeutische Beziehung dazu eingesetzt werden, die Psyche des Patienten zusammenzuhalten, wenn die Bedrohung der körperlichen Desintegration erneut durchlebt wird.“
(van der Kolk, Mc Farlane, Weisaeth, 2000, S.329)

Allerdings ist bei langanhaltender und frühkindlicher Traumatisierung durch Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch die psychische Störung oft so gravierend, dass es sehr schwer ist, in der Psychotherapie oder anderen heilsamen Beziehungen, ein Gefühl der Sicherheit oder der zuverlässigen Bindung zu etablieren. Das Kind musste an Stelle des sog. Urvertrauens ein tiefes Misstrauen gegen Menschen, die ihm nahe stehen entwickeln. Vom Gelingen der Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung, die sich für das Kind als zuverlässig erweist, hängt ab, ob eine angemessene Verarbeitung stattfinden kann oder zumindest eine Linderung der Symptome möglich wird. (vgl. Huber 2003, Gahleitner o.J.)

Therapeuten und Ärzte sind nicht die einzigen Menschen, die helfen können. Die elementarste Hilfe für Kinder mit einer PTBS durch Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch ist, wie wir insbesondere aus den Forschungsergebnissen der Bindungstheoretiker wissen, eine sichere und zuverlässige Bindung zu einer Bezugsperson in einer liebevollen Umgebung.
(siehe Kapitel II.3)

Es gibt die Möglichkeit, durch eine Familientherapie die Eltern in der Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen und damit einen angemessenen, dem Kindeswohl entsprechenden Umgang zu erzielen. Eine derzeit sehr populäre Methode ist die systemische Familientherapie. Es wird davon ausgegangen, dass eine Familie ein System ist, welches aus seinem natürlichen Gleichgewicht geraten kann. Soll ein Kind therapiert werden, könne man dies nicht losgelöst von seiner Familie. Das Familiensystem müsse als Ganzes betrachtet, verstanden und behandelt werden, unter Berücksichtigung der Bindungen und Loyalitäten der Familienmitglieder untereinander. Die Familienmitglieder sollen ihr Problem möglichst selber formulieren und sich so gut es geht aus sich selbst heraus unter Nutzung vorhandener Ressourcen helfen (vgl. Brisch, 2000). Diese Methode verlangt zumindest partielles Problembewusstsein und einen Willen zur Veränderung aller Beteiligten. Solche Voraussetzungen sind in Multiproblemfamilien jedoch oft nicht gegeben. Außerdem braucht jede Veränderung Zeit, erst recht, wenn es sich um eingeschliffene familiäre Probleme handelt. Bei Kindern, die von ihrer Familie vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht werden, kann aber nicht gewartet werden, bis diese Veränderungen eingetreten sind.

Ist das Kindeswohl nach Meinung von Experten erheblich gefährdet, gibt es gesetzliche Möglichkeiten und Pflichten, die Kinder vorübergehend oder auf Dauer von ihren traumatisierenden Familien zu trennen und in Heimen oder Pflegefamilien unterzubringen. Da ein Heim, auch wenn es gut geführt wird, zwar Beziehungsqualität, aber keine stabile familiäre Geborgenheit bieten kann, kann es nicht als eine auf die Ursachen der Traumatisierung zielende Maßnahme gelten. Demgegenüber ist es gerade Aufgabe der Pflegestellen, die familiäre Geborgenheit zu geben, die den Kindern bis dahin versagt geblieben ist. Deshalb bietet die heilpädagogische Pflegefamilie möglicherweise Aussicht auf eine tiefergreifende psychische Genesung. Ihre Möglichkeiten und Grenzen möchte ich im folgenden behandeln.

III. Die heilpädagogische Pflegefamilie

1. Begriff und Aufgabe

Im SGB VIII/ KJHG werden Aufgaben und Ziele einer Pflegefamilie so festgelegt:

"§33 Vollzeitpflege
Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten.
Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen."

Ganz allgemein bedeutet Vollzeitpflege die Unterbringung und Betreuung eines Kindes über Tag und Nacht außerhalb des Elternhauses in einer anderen Familie. Diese Pflegefamilien müssen nicht professionell ausgebildete Erzieher oder Sozialpädagogen sein, sie sind vom Jugendamt auf Eignung geprüfte Privathaushalte. Das Jugendamt hat neben der Vermittlung die Aufgabe, die Pflegefamilien unter Einbeziehung der Herkunftsfamilie begleitend zu unterstützen. Ziel dieser Hilfe ist es, dem Kind oder Jugendlichen in der Pflegefamilie Erziehungshilfe zu geben und gleichzeitig die Bedingungen in der Herkunftsfamilie zu verbessern, so dass eine Rückführung möglich wird. Dieser Möglichkeit räumt der Gesetzgeber Priorität ein. Ist aber klar, dass die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zum Wohl des Kindes geändert werden können, kann die Pflegefamilie eine auf Dauer angelegte Hilfe sein, die dem Kind oder dem Jugendlichen bis zur Volljährigkeit gewährt wird. Hiermit müssen sich die Herkunftseltern allerdings einverstanden erklären, da sie in den meisten Fällen weiter das Sorgerecht für ihre Kinder behalten und somit das Aufenthaltsbestimmungsrecht haben.

Als eine besondere Form der Vollzeitpflege gilt die Sonderpflegestelle bzw. die heilpädagogische Pflegestelle. Es sind besonders qualifizierte Pflegestellen, die für entwicklungsbeeinträchtigte und verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche konzipiert wurden. Diese Form wird in Satz 2 des §33 KJHG besonders hervorgehoben. Dieser spezielle gesetzliche Auftrag wurde erst Ende der 70er Jahre entwickelt und steht im Zusammenhang mit der Berliner Heimkampagne der antiautoritären Bewegung. Die heilpädagogische Pflegestelle galt als bessere Alternative zur stark kritisierten Heimerziehung.

Die Definition und Aufgabenstellung der heilpädagogische Pflegestelle findet sich in den damals verabschiedeten Berliner Verwaltungsvorschriften für Pflegekinder:

"(1) Heilpädagogische Pflegestellen sind für Minderjährige bestimmt,

    a) deren leibliche, geistige oder seelische Entwicklung geschädigt oder erheblich gefährdet ist und die auf Grund eines Gutachtens nach Nummer 14 Abs. 4 einer nicht nur vorübergehenden heilpädagogischen Behandlung bedürfen,
    b) die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig, oder seelisch wesentlich behindert    sind (§ 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG) oder infolge Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie nicht ohne Wartung und Pflege bleiben können,
    c) die von einer Behinderung bedroht sind ( § 39 Abs. 2 BSHG )
    d) die FEH oder FE gewährt werden.

(2) Die Beurteilung einer nicht nur vorübergehenden wesentlichen Behinderung oder des drohenden Eintritts einer solchen richtet sich nach den Kriterien des Abschnitts I der Eingliederungshilfe -Verordnung in Verbindung mit den sinngemäß anzuwendenden Nummern 5 bis 8 und 10 der AV- Eingliederungshilfe. Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Vorraussetzungen für die Zugehörigkeit zu dem Personenkreis nach Abs. 1 Buchstabe b) ist das in Nummer 15 Abs. 4 AV- Eingliederungshilfe geregelte Verfahren sinngemäß anzuwenden.

(3) Die Pflegeperson bzw. eine der Pflegepersonen muß eine Qualifikation nachweisen, die auf die besondere Problematik des aufzunehmenden Minderjährigen bezogen ist. Als Qualifikation gilt eine psychologische, pädagogische, therapeutische oder pflegerische Ausbildung und praktische Erfahrung im Umgang mit den in Abs. 1 genannten Minderjährigen oder die erfolgreiche Teilnahme an der Pflegeelternschule. Erfahrungen können in haupt- oder ehrenamtlicher Tätigkeit sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich erworben worden sein, und zwar im Umgang mit fremden Minderjährigen gemäß Abs. 1 Buchstaben b) und c). In begründeten Ausnahmefällen reicht zum Nachweis der Qualifikation eine Ausbildung nach Satz 2 oder praktische Erfahrung nach Satz 3 allein aus."
(Ausführungsvorschriften über die Unterbringung von  Minderjährigen in Pflegestellen in der vom 1.10.1984 geltenden Fassung, S.15 f)

Nach heftigen sozialpolitischen Kämpfen zwischen den Pflegeeltern einerseits und dem Berliner Senat andererseits, wurde die alte AV am 1.7.2004 durch eine neue ersetzt und die heilpädagogische Pflegefamilie aus dem Katalog der Berliner Jugendhilfen gestrichen. Statt dessen muss nun jede Pflegestelle, die ein besonders schwieriges Pflegekind aufgenommen hat, einen sog. Förderbedarf geltend machen, der dann mittels eines Gutachtens geprüft und gegebenenfalls für einen begrenzten Zeitraum gewährt wird. Dadurch ist die Planungssicherheit verschwunden, die früher den Pflegeeltern ermöglichte, ihre ganze Lebensplanung

(z.B. Wechsel der Wohnung, Aufgabe der sonstigen Berufstätigkeit, besondere Anschaffungen) auf ihre heilpädagogische Tätigkeit einzustellen. Das TPP der AGSP ist wegen seiner Finanzierung durch das Friedrichs-Stift davon nicht betroffen, weshalb ich mich im folgenden darauf konzentriere.

2. Das Therapeutische Programm für Pflegekinder (TPP)

2.1 Geschichte des TPP

Bevor ich auf die Besonderheiten der Konzeption des TPP komme, möchte ich kurz die Geschichte dieses Projektes erläutern.

Das therapeutische Programm für Pflegekinder (TPP) ist ein vom Friedrichs-Stift finanziertes Projekt der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP). Diese Stiftung wurde 1807 durch Königin Luise von Preußen begründet. Sie formulierte den Auftrag der Stiftung in anbetracht der Kriegswaisen nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon folgendermaßen:
„...armen Soldatenkindern und in deren Ermangelung armen Kindern von Zivilpersonen ohne Unterschied der Konfession, Nahrung, Kleidung, Unterrichtung und Erziehung im Anstalts-Gebäude unentgeltlich zu gewähren. ... Das Friedrichs-Stift macht es sich zur Aufgabe, die ihm anvertrauten Kinder zu verständigen, sittlich guten und frommen Christen zu erziehen und die Lebensweise der Zöglinge so anzuordnen, dass die Knaben als Lehrlinge bei Handwerkern und die Mädchen als Dienende bei Herrschaften untergebracht werden können.“
(Königin Luise, Satzung des Friedrichs-Stift, in Eberhard/Eberhard, 2000, S. 5)

Nach dem 2. Weltkrieg wurden aus Stiftungsgeldern bedürftige Kriegswaisen in Heimen unterstützt. Als diese herausgewachsen waren, suchte das Friedrichs-Stift nach einem Alternativauftrag. 1979 entwickelte die AGSP einen Projektvorschlag zur Unterbringung von Sozialwaisen in einem intensivpädagogischen Programm (IPP), ein Projekt, in dem die Stiftungsgelder nicht mehr ausschließlich für wirtschaftlich benachteiligte Kinder verwendet werden sollten, sondern für alle benachteiligten, also auch die psychosozial bedürftigen Kinder. Nach einer durch den Justizsenator genehmigten Satzungsänderung lautete der Auftrag von da an:
„Das Friedrichs-Stift hat den Zweck, bedürftigen Kindern ohne Unterschied der Konfession den Aufenthalt in geeigneten Heimen oder Pflegestellen zu ermöglichen und zwar durch Übernahme von Kosten für Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Unterrichtung, Erziehung und Erholungsreisen, soweit nicht staatliche Leistungen erbracht werden.“
(aus der Satzung des Friedrich-Stifts zu Berlin, in Eberhard/Eberhard, 2000 S.6)

Im Oktober 1980 nahm die Stiftung unter der Vorstandsvorsitzenden RA Sigrid Katsaras das erste Kind auf und schloss den ersten Erziehervertrag mit dessen Pflegemutter.

Mittlerweile heißt es nicht mehr Intensiv Pädagogisches Programm, sondern Therapeutisches Programm für Pflegekinder (TPP), da nach über 20 Jahren Erfahrung in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen deutlich geworden war, dass die vorrangige Aufgabe einer Pflegefamilie eine therapeutische und nicht eine pädagogische ist.

2.2 Konzeptionelle Besonderheiten

Aus der Geschichte des Pflegekinderwesens, den Forderungen des Senates an eine heilpädagogische Pflegestelle, der Geschichte des Friedrichs-Stift und der vorangegangenen Forschung von Gudrun und Kurt Eberhard in einem Beobachtungsheim ergaben sich konzeptionelle Besonderheiten. Hier ein Überblick über die Konzeption:
"- Wir verstehen uns als dezentralisiertes Heim. Die Frauen mit denen wie Honorarverträge abschließen, sind die Erzieherinnen, wir sind die Heimleiter. Ihre Erzieherqualifikation haben jene Frauen in der erzieherischen Arbeit an ihren leiblichen Kindern bzw. an früheren Pflegekindern erworben. Während ihrer Arbeit im TPP erweitern sie diese Qualifikation durch die Praxis, durch unsere Beratung, durch den Erfahrungsaustausch untereinander und durch berufsbegleitende Seminare.
- (...) jede Erzieherin nimmt  in der Regel nur ein oder zwei Kinder auf, um sich auf diese(s) Kind(er) hauptberuflich konzentrieren zu können. Die Arbeit wird kontinuierlich fachlich beraten und unterstützt.
- Da es sich um lebensgeschichtlich schwer geschädigte, meist sehr verhaltensgestörte Kinder handelt, ist unser Projekt mit der Arbeit heilpädagogischer Pflegestellen vergleichbar (...)
- Wir haben wenig Vertrauen in die einschlägigen Ausbildungsgänge und suchen unserer Erzieherinnen und Erzieher deshalb danach aus, ob sie ihre eigenen Kinder zu lebens- und arbeitsfähigen Menschen heranbilden konnten
- Bei der Analyse der mitwirkenden psychischen Probleme der Erzieherinnen helfen psychotherapeutisch orientierte  Reflexionsformen im Arbeitskreis und in der individuellen Beratung
- Da wir Kindern eine Chance geben wollen, die kaum Aussicht haben, von behördlicher Seite in eine Adoptiv- oder Pflegefamilie vermittelt zu werden, wählen wir vorzugsweise Kinder aus, die älter als 6 Jahre sind und bereits erhebliche Verhaltensschwierigkeiten aufweisen, also Kinder, bei denen in der herkömmlichen Pflegefamilie –und ebenso in der heilpädagogischen Pflegestelle, falls diese nicht unter kontinuierlicher fachlicher Betreuung und gegenseitiger kollegialer Supervision steht – mit hohem Abbruchsrisiko gerechnet werden müsste.
- Seit 1984 bewohnt eine der Pflegefamilien ein Haus des Friedrich- Stift, in dem zwei Zimmer für Kurzunterbringungen anderer Pflegekinder des Projektes vorgesehen sind, falls solche wegen Krankheit der Pflegemutter oder anderer Krisensituationen notwendig werden. (...)
- Wir leisten auch außerhalb der Dienstzeiten Beratungsarbeit und sind notfalls nachts und an Feiertagen zu sofortigen Krisenterminen bereit.
- Das TPP steht nicht in Konkurrenz zu den staatlichen Erziehungsprogrammen, sondern will im Sinne der Subsidiarität mit ihnen kooperieren, kann aber in Konfliktfällen gegenüber den Behörden den als Interessenvertreter der Erzieherinnen auftreten.
- Wir veranstalten in größeren Abständen Familientreffen, so dass  die Erzieherinnen und die  Kinder sich gegenseitig kennen.
- Das TPP versucht, die Vorteile des Heims ( Teamarbeit, Erfahrungsaustausch, fachliche Anleitung, konzeptionelle Kontinuität etc.) mit den Vorteilen der Pflegefamilie (familiäre Erziehung, tiefere emotionale Bindung, kein Schichtdienst, Vermeidung von Stigmatisierungen und gegenseitigen dissozialen Infektionen etc.) zu verbinden.
- In problematischen Fällen übernehmen die Heimleiter die Kontakte zu den leiblichen Eltern und können so die Arbeit der Erzieherinnen abschirmen.
- Durch praxisbegleitende Aktionsforschung legen wir nach außen und innen Rechenschaft ab über die Entwicklungsverläufe der Pflegekinder, über unsere Erfolge und Misserfolge.“
(Eberhard/Eberhard, 2000, S. 19 ff)

Zusammenfassend läßt sich sagen, dass ein entscheidender Unterschied zu einer normalen heilpädagogischen Pflegestelle die kontinuierliche professionelle Beratung durch einen behördlich unabhängigen Psychotherapeuten und eine Sozialpädagogin und Juristin darstellt. Die Pflegeeltern, die am TPP teilnehmen wollen, verpflichten sich vertraglich zu dieser kontinuierlichen fachlichen Gruppen- und Einzelsupervision. So können Krisen gemeinsam abgefangen und Schwierigkeiten in der komplizierten heilerzieherischen Tätigkeit mit traumatisierten Kindern gelöst werden. Dies soll das Abbruchsrisiko verringern, welches bei Pflegestellen ohne eine solch intensive Betreuung relativ hoch ist.

2.3 Erkenntnistheoretische Grundlage

Die wichtigste erkenntnistheoretische Grundlage und Methode in der gemeinsamen Arbeit ist die Aktionsforschung.(Nach Kurt Lewin ’action-research’)
„Kurz definiert, ist die Aktionsforschung derjenige Erkenntnisweg, der die im Wissenschaftsbetrieb übliche Trennung von Forschung und Praxis aufhebt und auf dem die Beteiligten das gemeinsam erlebte, empirisch dokumentierte und handelnd beeinflusste Geschehen im Rahmen kollektiver Reflexionen (sog. Diskurse) analysieren und zu problembezogenen phänomenalen, kausalen und aktionalen Hypothesen gelangen, die ihre Glaubwürdigkeit aus bestimmten kommunikations-optimierenden und erkenntnisförderlichen Gesprächsformen (z.B. Herrschaftsfreiheit, Begründungspflicht, intellektuelle Offenheit, emotionale Akzeptierung) sowie aus der kritisch beobachteten Praxis beziehen.“(Eberhard/Eberhard, 2000, S. 22)

Die Aktionsforschung hat sich in den 25 Jahren Projektgeschichte sehr bewährt, weil sie eine solidarische Kommunikationskultur fördert, auf die ein therapeutisches Programm mit so schwierigen Patienten in einem oft verständnislosen Umfeld dringend angewiesen ist.

2.4 Psychologische Grundkonzepte

Als psychologische Grundkonzepte dienen vor allem die Bindungstheorie von Bowlby und die psychoanalytische Ich-Psychologie nach Spitz. Durch die jüngsten wissenschaftlichen Möglichkeiten und Erkenntnisse im Bereich der neuropsychologischen Traumaforschung kam auch der psycho-biologische Aspekt hinzu, der noch einmal untermauert, wie drastisch Kinder durch Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung geschädigt werden. Auf diesen Grundlagen versuchen die Pflegeeltern in Zusammenarbeit mit den Projektleitern den Kindern die zuverlässige Bindung zu geben, die ihnen vorher versagt blieb und mit professionellem Verständnis auf ihre Symptomatik zu reagieren.

2.5 Effizienz

Der Vergleich mit der Bundesstatistik (1998) zeigt, dass die durchschnittliche Dauer der Pflegeverhältnisse beim TPP mehr als doppelt so hoch wie bei der bundesdeutschen Grundgesamtheit liegt und das obwohl die Kinder des TPP ein deutlich höheres Einstiegsalter haben und somit ihre Störungen schon manifestierter sind. Aus dem Vergleich der beiden Statistiken geht hervor, dass es gelungen ist, dem häufigst reklamierten Mangel - der hohen Abbruchrate von Pflegeverhältnissen - erfolgreich entgegen zu wirken. (vgl. Eberhard/Eberhard, 2000, S44f)

Außerdem wurde eine kasuistische Trendanalyse mit einem sorgfältig entwickelten Fragebogen vorgenommen, die die soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen untersuchte und zeigte, daß sich bestimmte Symptome erfolgreicher behandeln lassen als andere:

„MERKMALE MIT SIGNIFIKANT POSITIVEM ENTWICKLUNGSTREND:

I. Soziale Anpassung nach außen
-
Tendenz zum Stehlen
- Probleme mit Institutionen und formellen Gruppe
- Schwierigkeiten, akzeptiert zu werden
- Destruktives Verhalten
- Dissoziale Kontakte
- Probleme mit Gleichaltrigen
- Verhaltensstörungen
- Probleme im Verein

II. Zugang zu eigenen Gefühlen
-
Motorische Unruhe
- Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen
- Unsorgfältig mit sich selbst
- Schwierigkeiten im Austausch von Zärtlichkeit
- Probleme mit der Geschlechtsrolle
- Mangelhaftes Einfühlungsvermögen
- Distanzlosigkeit

III. Familiäre Identität in der Pflegefamilie
-
Probleme mit der Rolle als Pflegekind
- Probleme mit der Bezahlung der Erziehungsarbeit
- Problematisches Verhältnis zu Verwandten der Pflegefamilie
- Problematisches Verhältnis zu der Ursprungsfamilie

Demgegenüber zeigte sich bei keinem Merkmal ein signifikanter Abwärtstrend. Geringe (nicht-signifikante) negative bzw. nicht positive Entwicklungen fanden sich bei folgenden Merkmalen, die sich zwei Merkmalssyndromen zuordnen lassen:

MERKMALE MIT NEGATIVEM BZW. NICHT POSITIVEM ENTWICKLUNGSTREND:

IV. Bindungsprobleme
-
Tendenz zu Misstrauen
- Probleme mit dauerhaften Beziehungen
- Probleme mit Partnerschaftsbeziehungen
- Probleme mit den Pflegeeltern
- Taktisches Lügen
- Mangelhafte Konfliktfähigkeit

V. Impulsivität und Labilität
-
Gefühlsschwankungen
- Mangelhafte Frustrationstoleranz
- Unordnung
- Unwirtschaftlicher Umgang mit Geld
- Suchttendenzen
- Tendenz zu Ängsten
- Tendenz zu psychosomatischen Reaktionen“
(Eberhard/Eberhard, 2000, S. 46)

Dass die Bindungsprobleme der Kinder in der Regel nicht geheilt werden konnten, entspricht den Prognosen von Bindungs- und Deprivationsforschern wie Bowlby, Ainsworth und Spitz, die auf die starke Persistenz von Deprivationsfolgen hinwiesen. Die Impulsivität und Labilität betrachten die Autoren als direkte Folge der Bindungsschwäche.

IV. Entwicklungsgeschichte eines traumatisierten Pflegekindes

1. Vorstellung des Pflegekindes

Auf Grund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit ist die Entwicklungsgeschichte des vorgestellten Pflegekindes stark zusammengefaßt.

Ich habe den Namen des Klienten aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert. Zunächst eine tabellarische Skizze seines Lebenslaufs:

Chronik von Patrick S.

Juli 1992

geboren in Berlin-Treptow
Mutter: Frau S. geb. 1962, arbeitslose Erzieherin
Vater: Herr S. geb. 1961, arbeitsloser Maurer
Halbschwester: Gaby S. geb.1981

1997- 1999

Heimaufenthalt

1999

Einschulung in eine Berliner Regelgrundschule

14.10.1999

Unterbringung als heilpädagogisches Pflegekind gem. § 33 KJHG zu Frau und Herrn B. im Rahmen des TPP

25.10.1999

Umschulung in die  Heinrich-Zille Grundschule in Stahnsdorf

1999-2000

Einzelfallhilfe als Schulbegleitung

Jan. 2000

Verstärkung seiner Aggressivität vor allem in Schule und Hort

März 2000

Aufnahme in einen Fußballverein

23.11.2000

Vorstellung im Virchow-Klinikum, Abt. Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Beschluss einer ambulanten Psychotherapie im Sinne des §35 KJHG

Feb. 2001

Schulwechsel an eine Sonderschule für verhaltensauffällige Kinder in Potsdam wegen erheblichen Störungen des Soziaverhaltens

Mai 2001

Beginn einer Psychotherapie

Aug. 2005

Besuch einer Gesamtoberschule in Klein-Machnow als Integrationskind

2. Vorgeschichte

Patricks Pflegeeltern Frau und Herr B. erzählten mir in einem Interview seine Lebensgeschichte, bevor er als Pflegekind zu ihnen kam und berichteten mir über seine Entwicklung während der Zeit in der Pflegefamilie. Frau B. ist Psychologin und Kinder- und Jugendtherapeutin und Herr B. ehemals Ingenieur und nun hauptberuflich Pflegevater. Sie haben einen leiblichen erwachsenen Sohn und vier Pflegekinder betreut. Im TPP sind sie bereits seit 1983 tätig. Das Interview fand im Oktober 2004 im Rahmen meines Praktikums im Friedrichs-Stift im Haus von Frau und Herrn B. statt.

Sie berichteten mir, Patrick sei im Juli 1992 in Berlin-Treptow als Sohn einer arbeitslosen Erzieherin und eines arbeitlosen, alkoholabhängigen Bauarbeiters aus dem Schlägermilieu geboren worden. Er habe eine Halbschwester aus erster Ehe der Mutter. Nach der Scheidung habe sie Herrn S., Patricks Vater, geheiratet. Berichten der Mutter zufolge sei Patrick ein extremes Schreikind gewesen, außerdem habe er an Neurodermitis gelitten.

Als Patrick zwei Jahre alt war, habe die Mutter ihren Ehemann und die beiden Kinder verlassen und sei zu ihrem ersten Mann zurückgekehrt. Es gilt als sicher, daß Herr S. seine Stieftochter Gaby sexuell missbraucht habe, bei Patrick sei dies nicht eindeutig gesichert. Es sei ihm nichts erlaubt gewesen, und bei kleinsten Anlässen habe ihn der Vater, teilweise mit einem Knüppel, verprügelt.

Viel Zeit habe Patrick auch bei seinen Großeltern väterlicherseits in Köpenick verbracht. Seine Großmutter sei unfähig gewesen, ihm Grenzen zu setzen und habe ihn sehr verwöhnt. Dies habe im krassen Gegensatz zu dem gestanden, was Patrick bei seinem Vater erlebte.

Eine Schlüsselsituation, an die Patrick sich noch erinnern kann, sei, als sein Vater stark alkoholisiert das Mobiliar seiner Großmutter kurz und klein geschlagen habe. Patrick habe solange zu einer kalten Jahreszeit nur im Unterhemd auf der Straße warten müssen, bis Nachbarn ihm eine Decke gebracht hätten. Er habe seinen Vater blutig die Wohnung verlassen sehen.

Seine Halbschwester Gaby, die in dieser Zeit zwischen 12 und 14 Jahre alt war, habe die Rolle einer Ersatzmutter gespielt. Patrick sei oft unruhig gewesen und habe dann beispielsweise Tapeten von den Wänden gerissen. Um ihn zu beruhigen, habe Gaby ihm eine Videokassette mit Werbung aufgenommen.

Patricks Leben habe sich häufig nur nachts abgespielt, da sein Vater ihn auf seine Kneipentouren mitnahm. Dadurch wäre Patrick extrem blass gewesen. Haut und Augen hätten sehr empfindlich auf Tageslicht reagiert.

Als Patrick vier Jahre alt war, sei er den Mädchen aus der Nachbarschaft der Oma aufgefallen, da er begann, diese mit sexualisiertem Verhalten zu bedrängen. Die Eltern der Mädchen hätten daraufhin das Jugendamt verständigt. Man habe versucht, der Mutter nahe zu legen, die Kinder wieder zu sich zu nehmen, doch diese wollte weder mit ihrer Tochter Gaby aus erster Ehe noch mit Patrick etwas zu tun haben. Sie begründete dies in Patricks Fall damit, dass er seinem Vater so ähnlich sähe, dass sie seinen Anblick nicht ertragen könne.

Schließlich habe die Polizei die Kinder aus dem väterlichen Haushalt geholt, als dieser stark alkoholisiert herumbrüllte und randalierte. Gaby sei in eine betreute WG gekommen und der damals 5-jährige Patrick in ein Treptower Heim.

Mutter und Vater hätten damals begonnen, sich um das Sorgerrecht zu streiten, seien dann aber nicht zu den entscheidenden Gerichtsterminen erschienen, so daß sich der Prozeß lange hinzog, bis das Familiengericht schließlich eine Amtsvormundschaft beschloß.

Seine Mutter habe ihn während seines 10-monatigen Heimaufenthalts zweimal dort besucht. Er kann sich daran erinnern, dass sie ihm ein gegrilltes Hühnchen mitgebracht habe. Die einzige, die ihn regelmäßig besuchte, sei seine Halbschwester Gaby gewesen.

Schon im Heim sei er durch gewalttätiges Verhalten aufgefallen. Aus diesem Grund sei er auch der Vorschule verwiesen worden. Auch nach seiner Einschulung im August 1999 habe sich an seinem aggressiven Verhalten seinen Mitschülern gegenüber nichts geändert.

Kurz nach seiner Einschulung, im Oktober 1999 wurde er als heilpädagogisches Pflegekind gem. §33 KJHG in Familie B. vermittelt.

3. Betreuungsgeschichte

Als er im Oktober 1999 nach zwei Kennenlernbesuchen als Pflegekind zu Familie B. zog, habe er anfänglich einen sehr dressierten, fast roboterähnlichen Eindruck gemacht. Dies führte Frau B. auf den disziplinierenden Erziehungsstil des Heimes zurück, der noch sehr an alte DDR-Pädagogik erinnerte. Er habe einen guten Orientierungssinn gehabt und sei sehr liebenswürdig gewesen. Er habe eingenäßt, nachts geschrieen und an Alpträumen gelitten und mit der Decke über dem Kopf im Sitzen geschlafen. Auch habe er nachts häufig starke Hustenanfälle gehabt. Tagsüber sei er ständig in einer ängstlichen „Hab-Acht-Haltung“ gewesen, wobei auch sein ganzer Körper stark angespannt gewesen sei. Er wollte Autorennen im Fernsehen gucken, dazu hätte er dann gegessen und an seinem Geschlechtsteil gespielt. Oft, wenn er stark konzentriert sei, pinkle er sich in die Hosen.

Anfänglich habe er gute soziale Kontakte in Schule und Nachbarschaft gehabt, doch nach etwa drei Monaten sei seine alte Aggressivität wieder durchgebrochen, vor allem in der Schule habe er sich bei kleinsten Anlässen angegriffen gefühlt und dann gnadenlos zugeschlagen, oder seine Mitschüler mit Steinen beworfen. Er habe unter ständiger psychischer und körperlicher Anspannung gestanden, habe begonnen zu zittern und mit den Zähnen aufeinander zu schlagen und bei geringstem Anlaß die Beherrschung verloren.

Die zuständige Sozialarbeiterin habe den Verdacht auf sexuellen Missbrauch bzw. Anwesenheit bei sexuellem Missbrauch geäußert, da er ein deutlich sexualisiertes Verhalten zeige (unkindliches Küssen, Brust fassen, Koitus Bewegungen, sexuell distanzloses Verhalten Mädchen gegenüber)

Auffällig sei sein Machtanspruch, den er zur Not mit Gewalt geltend mache. Im Fußballverein sei er das erste Mal bereit gewesen, Regeln anzuerkennen.

Im zweiten Halbjahr der zweiten Klasse habe er die Regelschule verlassen müssen, da sein gewalttätiges, störendes Verhalten im Klassenverband nicht mehr tragbar gewesen sei und die Einzelfallhilfe, die ihm bei der Eingliederung in den Klassenverband helfen sollte, gescheitert war. Seine Mitschüler hätten ein ambivalentes Verhältnis zu ihm gehabt, da er ein witziger und ideenreicher Kamerad gewesen sei, aber andererseits hätten sie große Angst vor seinen Gewaltausbrüchen gehabt.

Kontakte zu den leiblichen Eltern seien von Anfang an durch das Jugendamt untersagt gewesen. Patricks Vater habe versucht herauszufinden wo er lebe, das Jugendamt habe ihm aber die Auskunft verweigert. Seine Mutter habe sich nicht für ihn interessiert. Patricks Halbschwester Gaby habe noch lange zur Mutter Kontakt gehabt, diesen aber auch abgebrochen, da ihre Mutter sie bestohlen hatte. Gaby hat noch seltenen, aber regelmäßigen Kontakt zu Patrick, auch wenn ihn dies jedesmal sehr beunruhige.

Patrick äußerte bei Nachfragen, dass er eine wahnsinnige Wut auf seinen Vater habe und Rachegedanken verspüre. Wenn er an seine Mutter denke, weine er. Als seine Pflegeeltern ihm schonend erklärten, dass seine Mutter sich gegen ihn entschieden hätte, hörten die Fragen nach ihr auf.

Familie B. äußerte mehrmals wie sehr sie ihren Pflegesohn trotz seiner Schwierigkeiten lieben würden und betonten oft seine positiven Eigenschaften, wie z.B. seinen Einfallsreichtum, seine Schlagfertigkeit, seine Auffassungsgabe und seine partielle Liebenswürdigkeit.

In einem Gespräch mit Frau B. am 16.9.2005 erfuhr ich, dass Patrick seit August diesen Jahres eine Gesamtschule in Klein-Machnow besuche. Zuerst sei er in seiner Klasse - vor allem bei den Mädchen - sehr beliebt gewesen und sogar zum Klassensprecher gewählt worden. Innerhalb weniger Wochen habe er die Klasse gegen sich aufgebracht und es kämen häufig Beschwerden durch seine Lehrer. Er mache überhaupt keine Hausaufgaben mehr und habe bereits sechs 6er in verschiedenen Fächern. Laut Frau B. beginne bei ihm die Pubertät mit voller Wucht, er zeige ähnlich respektloses Verhalten, wie ihr leiblicher Sohn damals, nur sei bei Patrick eine wirkliche Gleichgültigkeit ihren Sorgen gegenüber zu spüren. Großzügigkeit oder Zeichen von Schwäche ihrerseits nutze er sofort aus. Er leide an völliger Selbstüberschätzung und drehe sich die Realität, wie sie ihm passe. So habe er neulich seinem Schuldirektor großzügig das 'Du' angeboten. Seine starke Anspannung habe wieder zugenommen, was dazu führe, daß ständig etwas kaputt gehe. Beispielsweise sei ihm nach vier Wochen die Pedale seines neuen Fahrrades abgebrochen. Auch seine Tendenz zum Lügen und Austricksen habe wieder zugenommen. Jeden Sonntag führen Frau und Herr B. ein reflektierendes Gespräche mit Patrick, in welchen er teilweise Einsicht für sein Verhalten gezeigt habe. Diese Bereitschaft sei seit des Schulwechsels auch deutlich gesunken. Sein Verhalten sei wieder ausschließlich triebbestimmt. Frau B. sagte: " Seit der Oberschule läuft die Uhr rückwärts, ich weiß nicht, wie lange es noch gut geht, aber wir versuchen durchzuhalten und uns gegen seine Verletzungen immun zu machen." Das Jugendamt befürcht ebenfalls einen Abbruch des Pflegeverhältnisses, denn aus ihrer Sicht habe Patrick sonst kaum Chancen auf eine andere funktionierende Jugendhilfe.

4. Bilanz

Rückblickend läßt sich feststellen, daß Patricks Entwicklung einen für viele traumatisierte Pflegekinder typischen Verlauf nahm.

In den ersten Wochen nach Aufnahme in die Pflegefamilie zeigte er eine starke Anpassung. Dies ist insofern typisch, als dass fast jedes Kind, wenn es aus dem Heim kommt, eine starke Sehnsucht nach Familiarität hat und die Chance auf ein Leben in einer Pflegefamilie nicht verspielen will. Dieser Anpassungswille zeigte sich ebenfalls in Schule und Nachbarschaft.

Gleichzeitig zeigte er starke Anspannungssymptome, was darauf schließen läßt, daß ihn diese Anpassung große Mühe gekostet haben muß. Anderseits quälten ihn, vor allem nachts, Ängste, die er im sicheren Rahmen der Familie zulassen konnte. Die Fähigkeit zur Anpassung ging schnell verloren, besonders in der Schule, seine mangelnde Impulskontrolle führte schließlich dazu, dass er die Schule wechseln mußte. Aber auch in der Familie nahm sein aggressives Verhalten zu. Es war ihm nicht möglich seine Sozialität durchzuhalten. Dieser Prozeß von anfänglicher Überanpassung bis hin zum vollen Aufblühen der Verhaltensstörungen zuerst in der Schule, dann in Familie ist ebenfalls typisch für traumatisierte Pflegekinder.

Trotzdem gab es einem positiven Entwicklungstrend, vor allem was seine verbalen Fähigkeiten, seine Sauberkeit und seine Tendenz zum Lügen angeht, auch seine Gewaltbereitschaft ist deutlich geringer geworden. Er war teilweise in der Lage Einsicht in eigene Verhaltensweisen zu zeigen.

Die Pubertät ist bei traumatisierten Kindern häufig die Phase, in denen sich die Symptome wieder verstärken und das mühsam erarbeitete Familienleben wieder in Gefahr gerät. Einerseits ist Bindungsverhalten spürbar, andererseits wird dieses ständig aufs Spiel gesetzt, da die Bedürfnisbefriedigung wichtiger ist. Bindungen werden dann häufig benutzt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, wenn sie diese nicht erfüllen, werden sie fallen gelassen.

Patrick neigt, ebenfalls typischerweise, zu Realitätsverleugnungen, um eigene Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Dazu gehört die maßlose Selbstüberschätzung. Patrick befindet sich zur Zeit, wie jeder Pubertierende in der Phase der Ich-Identitätsfindung, die für ihn besonders schwer ist: Einerseits brennt die Frage "Wer bin ich" und andererseits vermeidet er aus verständlichen Gründen die Klärung dieser Frage, da ihn viele Antworten sicher schmerzen würden, bzw. er wahrscheinlich viele Anteile seiner Vergangenheit aus Selbstschutz verdrängt hat. In seinem Fall ist noch offen, ob ihm eine Integration seiner Vergangenheit als Teil seiner Persönlichkeit im geschützten Rahmen der Pflegefamilie glücken wird.

V. Möglichkeiten und Grenzen der heilpädagogischen Pflegestelle

1. Ergebnisse aus der Fachliteratur

In diesem Abschnitt beziehe ich mich vor allem auf das 1. Jahrbuchs des Pflegekinderwesens, herausgegeben von der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes und außerdem auf den Forschungsbericht „ 15 Jahre Vermittlung von Pflegekindern durch den Pflegekinderdienst der Stadt Herten“.

Im Sinne der Bindungstheorie sieht die Stiftung zum Wohl des Pflegekindes es als ein Naturbedürfnis des Kindes, eine Bindung zu einer Versorgungsperson aufzubauen. Gleichzeitig sei diese Vorraussetzung einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung. Jedes Kind habe auf Grund dieser zwei Grundannahmen das Recht, in Verhältnissen aufzuwachsen, in denen diese Vorraussetzungen gegeben sind. Wenn nicht sichergestellt ist, dass ein Kind in seiner Familie diese unabdingbaren Erfahrungen machen kann, müsse ihm die Möglichkeit gewährleistet werden, anderweitig Bindungserfahrungen zu machen, nämlich in einer Ersatzfamilie.

Gleichzeitig sollte es sich dabei um eine auf Dauer angelegte Lebensform handeln, da vernachlässigten, misshandelten oder missbrauchten Kinder die Chance auf einen Neuanfang geboten werde müsse, der ihnen die Möglichkeit auf eine zuverlässige Bindung gebe.

Ein Heim könne dabei lediglich die Rolle einer Zwischenstation spielen, entweder wenn die Perspektive, ob das Kind zur Familie zurückkehren soll, unklar ist, oder aber zur genauen

Überprüfung der Störungen des Kindes. Denn es müsse eine geeignete Familie für jedes Kind ausgewählt werden, um es nicht dem Zufall zu überlassen, ob die Integration des Kindes in eine neue Familie gelingt.

Das Heim könne in dieser Übergangszeit dem Kind helfen, die Trennung von der Ursprungsfamilie ein Stück weit realistisch zu verarbeiten und so eine Bereitschaft zu schaffen, sich auf eine neue Familie einzustellen.

Aufgrund der quasi-therapeutischen Aufgaben der Pflegeeltern, die ein traumatisiertes Kind aufnehmen, müsse die Auswahl, Vorbereitung und Aufklärung dieser und die Kontaktanbahnung zwischen Kind und Pflegeeltern sehr sorgfältig stattfinden. Während des Integrationsprozesses sei eine intensive sozialarbeiterische Begleitung und Beratung unabdingbar.

Außerdem habe sich als wichtig erwiesen, dass ein Elternteil sich dem Kind voll und ganz für die Integration in die Familie zur Verfügung stelle.

Wenn die Eltern leibliche Kinder hätten, sei darauf zu achten, dass das Pflegekind das Jüngste ist und der Altersabstand zum nächsten Kind mindestens drei bis vier Jahre betrage. Erfahrungsgemäß gelänge die Integration in eine kinderlose Familie besser.

Eine Vermittlung von Geschwisterkindern mit PTBS in die selbe Pflegestelle scheitere fast immer, da die Kinder extremer Zuwendung bedürfen und die Pflegeeltern häufig überfordert sind, für mehre Kinder diese quasi-therapeutische Aufgabe zu erfüllen. Häufig misslingt die Integration des älteren Geschwisterkindes.

Wichtig für die Identitätsentwicklung sei, das Kind von Anfang an darüber aufzuklären, warum es nicht mehr bei seinen leibliche Eltern lebt, um ihm die Möglichkeit zu geben, ein realistisches Bild seiner Geschichte zu entwickeln. Die gewachsene Bindung bilde die Basis, von der aus die Vergangenheit gefahrloser betrachtet werden könne.

Der Vermittler sollte den leiblichen Eltern helfen die Trennung von ihren Kindern zu verstehen und akzeptieren, damit sie den Bindungsaufbau ihrer Kinder zur Ersatzfamilie nicht stören.

Wichtig sei, dass auch die zuständigen Behörden ein Verständnis für die Situation der traumatisierten Kinder entwickeln, da sie häufig zu spät aus den traumatisierenden Verhältnissen befreit werden.
„In Bezug auf die Existenz und das Ausmaß schwer vernachlässigter und polytraumatisierter Kinder und Jugendlicher ist teilweise ein Klima der Verharmlosung, Beschwichtigung und Verleugnung unübersehbar. Es ist dann teils kaum vorstellbar, wie z.B. ein zweijähriges Kleinkind psychisch schwer erkrankter Eltern ständig zurückgewiesen und stundenlang eingesperrt wird, kaum mit ihnen gesprochen oder gespielt wird, von den Eltern in Stresssituationen quer durch die Wohnung geprügelt wird. Dabei stellt sich jedoch die Frage, aus welchen Herkunftsfamilien und welchen Erlebnissen die unübersehbare Anzahl schwerst psychisch kranker und massiv fehlentwickelter und lebensuntüchtiger beziehungsunfähiger Erwachsener denn kommt und wodurch sie sich so entwickelt haben.“
(Hardenberg in Stiftung zum Wohl des Pflegekindes, 2001, S. 123)

„Sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Zukunft wurde/wird in zahlreichen Fällen zu spät über eine Trennung traumatisierter Kinder von leiblichen Eltern entschieden. Die von Experten vermuteten Ressourcen der Ursprungsfamilien stehen lange im Vordergrund, bis das Scheitern dieser Familien derart offensichtlich ist, dass eine andere Wahl, als die Herausnahme der Kinder aus der Herkunftsfamilie, nicht mehr besteht. Eine sorgfältige Prüfung der Effizienz ambulanter und stationärer Hilfen im Vorfeld ist angezeigt, um Kindern nicht unnötig die Chance eines Neubeginns in einer Ersatzfamilie zu rauben und somit die Möglichkeit zu verhindern, dass aus diesen Kindern einmal lebenstüchtige Erwachsene werden.“
(Stiftung zum Wohl des Pflegekindes, 2001, S. 123)

2. Ergebnisse aus Gesprächen mit Experten

Hierzu habe ich die Projektleiter des TPP befragt, die seit über 20 Jahren im Pflegekinderwesen praktisch und wissenschaftlich tätig sind.

Besonders wichtig seien die Vorraussetzungen unter denen die Pflegeeltern arbeiten, um dem Pflegekind eine möglichst optimale Ersatzfamilie bieten zu können.

Von besonderer Bedeutung sei der Erfahrungsaustausch zwischen den Pflegeeltern, sowie eine kontinuierliche, von der Tageszeit unabhängige fachliche Beratung und emotionale Unterstützung.

Ein weiterer elementarer Gesichtspunkt sei, den Pflegeeltern zu ermöglichen, sich voll und ganz auf den Beziehungs- und Vertrauensaufbau zu ihren Kindern zu konzentrieren. Dieser empfindliche Prozess sei sehr leicht störbar. Deshalb sei es wichtig, Störfaktoren von außen (Herkunftsfamilien, Jugendämter, Schulen..) so gering wie möglich zu halten. Besonders hoch sei der Druck auf die Pflegeeltern durch die verständlichen Kontakt- und Rückkehransprüche der Eltern, bzw. den Anspruch auf baldige Rückkehr der Kinder in die Herkunftsfamilie durch die Jugendämter. Diese beiden Faktoren würden es den ohnehin schon bindungsgestörten Kindern sehr erschweren, sich auf ihre Pflegeeltern einzulassen. Dieses Sich-einlassen stelle die Grundvoraussetzung für eine produktive Entwicklungsarbeit dar. Es müsste erst eine Ablösung von der Herkunftsfamilie und eine emotionale Stabilisierung stattfinden, um dann heilsame Bindungen zu den leiblichen Eltern herzustellen und damit eine Aufarbeitung der frühen Traumatisierungen zu gewährleisten. Im Umgang mit den Kindern hätten sich folgende zwei Grundsätze bewährt: Liebe, Ruhe, Stetigkeit und Erst Beziehung, dann Erziehung, denn vor allem bräuchten Kinder eine verlässliche, liebevolle Bindung. Anfänglich würden sie oft auf liebevolle Zuwendung mit provokanten Symptomsteigerungen reagieren.

Bilanzierend müsse eingeräumt werden, dass bei keinem Kind, das erreicht wurde, was es erreicht hätte, wenn es von Anfang an in einer liebevollen und halbwegs geordneten Familie aufgewachsen wäre. Die frühkindlichen emotionalen Beschädigungen der Kinder des TPP wären auch bei Entlassung nach dem Programm noch sichtbar gewesen. Andererseits wäre auch bei jedem der Heranwachsenden erkennbar gewesen, dass sie auf die eine oder andere Art von der Arbeit der Pflegeeltern und des TPP profitiert hätten. Ein Vergleich mit Geschwisterkindern, die im Heim oder in Herkunftsfamilien blieben, bestätige dies.

3. Ergebnisse aus einer Umfrage mit Pflegeeltern

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des TPP im Oktober 2000 führten die Projektleiter eine Umfrage bei den Pflegeeltern durch. Es werden nur die Erfahrungen zitiert, die von mehreren Pflegeeltern geteilt wurden. Hier einige Ergebnisse:

Erfahrungen der Pflegeeltern mit den Kindern

  • Die Arbeit mit den Kindern sei wesentlich schwieriger als erwartet gewesen, trotz ausführlicher Einführung
  • Es sei eine Illusion, dass man die Kinder einfach nur lieben müsse, und dann werde man zurück geliebt. Die Liebesfähigkeit fehle den Kindern. Sie misstrauen der Sicherheit und Geborgenheit, die man ihnen geben wolle
  • Jede eigene Schwäche und jede Nachgiebigkeit werde ausgenutzt, was eine sehr konsequente Haltung erfordere
  • Wichtig sei, sich immer wieder ihre Vorgeschichte vor Augen zu halten, um ihr Verhalten nicht als Böswilligkeit zu werten.
  • Alle Kinder hätten die tiefe Verzweiflung und Unsicherheit gemeinsam.
  • Sie könnten nur sehr langsam aus positiven Erfahrungen lernen und nur schwer ein Vertrauen zu ihrer neuen Familie entwickeln. Es sei sehr schwer, ihre Wahrnehmung und ihre Empfindungen zu verstehen, und sie blieben einem immer etwas fremd. Je älter ein Kind bei der Aufnahme, um so stärker sei das Fremdheitsgefühl.
  • Die seelischen Schäden seien nicht reparabel, man könne ihnen beibringen, mit ihren Störungen und Defekten umzugehen, aber sie blieben im Grunde bestehen. Zielvorstellungen, die man für die Kinder erreichen wolle, müssen sehr weit heruntergeschraubt werden.
  • Die Pflegekinder würden ein Mama-Papa-Kind-Illusion aufbauen und immer darunter leiden, dass sie nicht die leiblichen Kinder seien. Andererseits würden sie ihre Wut und ihre Verzweiflung über ihre leiblichen Eltern an den Pflegeeltern auslassen und die leiblichen Eltern idealisieren.

Erfahrungen der Pflegeeltern mit sich selbst

  • Man könne sich nicht mehr, wie bei der Erziehung eigener Kinder ganz unbefangen von Gefühlen und Instinkten leiten lassen, sondern müsse viel bewusster mit dem Kind umgehen, Konzepte entwickeln und neues ausprobieren.
  • Die Pflegekinder würden die Pflegeeltern an ihre existenziellen Grenzen bringen. Trotz der vielen Enttäuschungen dürfe man nicht in Distanz verharren, sondern müsse immer wieder auf die Kinder zugehen und neue Angebote machen.
  • Die Kinder seien eine Bereicherung für das eigene Leben und man spüre, dass es eine wertvolle Arbeit sei. Es entwickle sich eine tiefe Bindung zu den Kindern, die - wenn auch nicht verläßlich - bis ins Erwachsenenalter erwidert werde.

Erfahrungen der Pflegeeltern mit der Herkunftsfamilie

  • Erfahrungen mit Herkunftsfamilien seien sehr unterschiedlich. In vielen Fällen bestehe gar kein Kontakt
  • In anderen Fällen hätten die leiblichen Mütter unbewusst den Wunsch, von den Pflegeeltern „bemuttert“ zu werden. Ihre Kontaktwünsche würden sich genauso auf die Pflegeeltern richten, wie auf ihr Kind.
  • Besuchsabsprachen seien sehr unzuverlässig eingehalten worden. Die leiblichen Eltern würden nicht verstehen, welche Enttäuschung sie damit ihren Kindern zumuten. Oft entstehe der Besuchswunsch weniger aus elterlicher Liebe als aus Schuldgefühlen oder Besitzansprüchen.
  • Gelegentliche, nicht zu frühe Besuche könnten den Kindern helfen ein realistisches Bild ihrer Eltern zu entwickeln und die Angebote der Pflegefamilie zu schätzen. In vielen Fällen führe der Kontakt zu intensiven Beunruhigungen und Ängsten.

Erfahrungen der Pflegeeltern mit der Schule

  • Das Schulsystem sei unzureichend auf die Bedürfnisse psychisch geschädigter Kinder eingestellt.
  • Der schulische Anspruch, Bildung zu vermitteln, rangiere immer vor der eigentlich viel wichtigeren Unterstützung der emotionalen und sozialen Entwicklung. Die dortigen Ansprüche an Anpassung, Sozialität und Konzentration würden eine Überforderung für die Pflegekinder darstellen.

Erfahrungen der Pflegeeltern mit dem Jugendamt

  • Die Unterstützung von den Jugendämtern sei unzureichend. Sie hätten Theorien und Erwartungen im Kopf, wüssten aber wenig vom Alltag mit den Pflegekindern. Die Informationsvermittlung über die Vorgeschichte der Kinder werde ihnen nur bruchstückhaft mitgeteilt. Die Besuchsrechte der leiblichen Eltern würden unterstützt, ohne zu überprüfen, ob die Kinder die Konfrontation mit den Eltern verkraften und der Beziehungsaufbau zu den Pflegeeltern dadurch gestört werden könnte.
  • Die Einschätzungen bezüglich der Zusammenarbeit reiche von sehr positiv bis zu dem Gefühl das Jugendamt sei der Gegner der Pflegeeltern und Kinder.

Erfahrungen der Pflegeeltern mit dem TPP

  • Ohne die Einbindung in das Projekt mit der Gruppenunterstützung und der Beratungspräsenz hätte man längst aufgegeben.
  • Die sich in den verschiedenen Pflegefamilien wiederholenden Schwierigkeiten verdeutlichen immer wieder, dass weniger das eigene Versagen, als die schlimme Vergangenheit der Kinder ursächlich sei.
  • Die gegenseitige Akzeptanz der Pflegeeltern untereinander trotz größter Verschiedenheit in den Lebensstilen und Auffassungen seien eine große Bereicherung im eigenen Leben.
  • Durch Gespräche in der Gruppe sei es zu Infragestellungen der eigenen Persönlichkeit gekommen. Die Selbstreflexion habe zu wichtigen Entwicklungsprozessen beigetragen, von denen auch die Kinder profitiert hätten.

(vgl. Eberhard/Eberhard, 2000, S. 48ff)

4. Ergebnisse aus einer Befragung ehemaliger Pflegekinder

Anlässlich des 20. Jubiläums des TPP fand zum Abschluss der Feierlichkeit eine Befragung ehemaliger Pflegekinder vor Publikum statt. Fast alle der mittlerweile erwachsenen Pflegekinder haben den Kontakt zu ihren leiblichen Eltern freiwillig abgebrochen, da sie sich ihrer Pflegefamilie zugehörig fühlen und sie die Konfrontation mit der Herkunftsfamilie immer noch als schmerzhaft empfinden. Einige sprechen von Hass gegenüber ihren Eltern, vor allem aber besteht kein Interesse an Kontakten. Nur eines der Mädchen spricht davon, dass sie zwei Mütter habe. Viele erwähnten, dass sie anfänglich noch Kontakt hatten und erst sehr viel später gemerkt hätten, dass ihnen der Umgang nicht gut tue. Alle der befragten Pflegekinder betonten ihre Dankbarkeit ihren Pflegeeltern und dem Projekt gegenüber und sahen ihren Aufenthalt in einer Ersatzfamilie als große Chance.

Aus dem Protokoll der Befragung der herangewachsenen Pflegekinder möchte ich hier einige der eindrucksvollsten Antworten wiedergeben (Die Altersangaben beziehen sich auf das Alter zum Zeitpunkt der Befragung):

Detlef (30 J.): “Mit meiner eigenen Familie habe ich nicht so gute Erfahrungen gemacht. Mit 16 hatte ich Kontakt zu meinen richtigen Eltern, war Feuer und Flamme für meine Mutter. Es gab für mich nichts anderes und habe erst mit 25/26 festgestellt dass es nichts positives in meinem Leben ist, sondern, dass meine Pflegeeltern mich viel mehr geprägt haben, als meine richtige Mutter.“

Michaela (27 J.): “Ich hatte auch Kontakt zu meiner richtigen Mutter mit 12/13/14. Ich hab aber keinen Bezug zu meiner Mutter. Ich hab einen richtigen Hass auf meine Mutter. Von daher sehe ich meinen Pflegevater als richtigen Vater an, das wird auch immer so bleiben.”

Martin (24 J.): “Bei mir ist es so, dass ich aus einer Familie gekommen bin, die sehr viel Probleme mit sich selbst hatte, die mir überhaupt keine Beachtung geschenkt hat, weder in der Liebe, noch in den Grundbedürfnissen. Mein Vater wollte mich kontaktieren, das ist jetzt ein paar Jahr her, ich habe den Kontakt freiwillig untersagt, ich habe gesagt, dass ich zu meinen Eltern keinen Kontakt haben möchte und dass es mich immer noch schmerzt, wenn ich an diese Eltern erinnert werde. Ich gehöre zu meiner Pflegefamilie und bin dort sehr glücklich.“

Michael (24 J.): “Ich bin damals aus meiner Familie rausgeflogen, weil meine Eltern alkoholkrank waren. Dann kam ich leider zwei Jahre in ein Heim und dann wurde ich von einer Familie entgegengenommen und bin dort 13 Jahre lang aufgewachsen und vor zwei Jahren ausgezogen. Es ist wichtig, dass die Kinder nach vorne und nicht nach hinten gucken, weil es bringt einen in Wallung und macht einen traurig.“

Tatjana (17J.): “Von meinen Erfahrungen her, ist es ziemlich wichtig, das hört sich jetzt ziemlich strikt an, dass man den Kontakt zu den leiblichen Eltern abbricht, komplett abschließt. Es gibt natürlich immer Ausnahmen und Einzelfälle. Dass es für mich leichter wäre, wenn ich zu meiner Mutter - auch wenn ich sie sehr liebe- aber es wäre besser gewesen, wenn ich von Anfang an keinen Kontakt zu ihr gehabt hätte. Dann hätte ich mich bei meiner jetzigen Pflegemutter noch mehr zu Hause gefühlt.“

Martin (24 J.): “Ich für meinen Teil sage, dass ich zu spät hierher (Pflegeeltern) gekommen bin und ich jetzt immer noch sehr viele Fehler und Macken oder Störungen nicht richtig verarbeiten konnte, obwohl ich jetzt schon seit 12 Jahren in diesem Projekt bin. Es wäre vielleicht für die richtigen Eltern nicht schlecht, sich selber mal einem psychologischen Gutachten zu unterziehen, um zu sehen, welche Probleme es dort gibt und was man daraufhin vielleicht ändern oder verbessern könnte. Damit wäre einenteils die Frage geklärt, ob das Kind vielleicht zu seiner Mutter zurückkommen könnte und anderenteils hätte die Stiftung weniger Probleme mit den Pflegekindern und Eltern.”

Tanja (27 J.): “Zum Schluss möchte ich noch sagen, für Außenstehende klingt es vielleicht nur wie Lob, dass alles nur ganz toll gewesen ist. Wir mussten alle harte Zeiten durchstehen. Aber wenn man sich überlegt, was wäre, wenn man in der eigenen Familie oder im Heim geblieben wäre und was sich daraus entwickelt hat, dass man zu Pflegeeltern kam, dann ist man heute einmal stolz auf sich selber und unendlich dankbar, dass man diese Möglichkeit hatte, das zu werden, was man heute ist.“
(Kohlmetz in
www.agsp.de, am 6.9.2005)

5. Ergebnisse aus eigenen Erfahrungen

Aus meiner eigenen Arbeit als Einzelfallhelferin für traumatisierte Kinder und als Zeugin der Arbeit meiner Eltern habe ich folgende Erfahrungen gemacht:

  • Vernachlässigte, misshandelte und missbrauchte Kinder sind extrem liebeshungrig, ihre   Liebesbedürftigkeit erinnert häufig an die von Kleinkindern, auch wenn sie schon in die   Schule gehen. Einige reagieren sehr distanzlos, gerade in der ersten Zeit des Pflegeverhältnisses, andere zeigen ablehnendes, oder aggressives Verhalten, wenn sie die ersehnten Liebesangebote bekommen.
  • Weil Pflegekinder häufig die oben genannten Verhaltensweisen zeigen, müssen Pflegeeltern viele Enttäuschungen erleiden. Sie werden dadurch selber „pflegebedürftig“ und brauchen eine sorgfältige, ständig ansprechbare Betreuung, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Einige Jugendämter in Berlin nehmen diese Pflegebedürftigkeit sehr ernst, andere verfehlen diese völlig, entweder aus Zeitmangel oder aus Unkenntnis.
  • Kontakte zu den leiblichen Eltern sind häufig schädlich, sogar dann, wenn die Kinder sie sich wünschen. Sie reagieren meist mit starker Unruhe und Symptomsteigerungen. Diese können tage- bis wochenlang anhalten.
  • Einerseits entwickeln sich die traumatisierten Kinder erstaunlich positiv in der heilpädagogischen Pflegestelle und bewerkstelligen bestimmte Entwicklungsaufgaben, andererseits zeigen sie auch nach Jahren als Pflegekind noch Störungen, besonders was die Beziehungs- und Arbeitsfähigkeit angeht, außerdem verfügen sie häufig über eine mangelnde Impulskontrolle.
  • Die Pubertät stellt bei traumatisierten Kindern eine noch gefährlichere Zeit dar, als bei  Kindern ohne diesen Hintergrund. Häufig beginnt sich dann zu zeigen, dass sie keine wirklich zuverlässige Bindung zu ihren Pflegeeltern aufgebaut haben. Sie behandeln sie dann extrem unsozial und sind sehr anfällig für ungesunde Beeinflussung von außen (Drogen, kriminelle Gruppen, Gewalttätigkeit, Lügen, Schule schwänzen)

6. Resumée

Aus den Ergebnissen dieses Abschnittes lassen sich nun die Möglichkeiten und Grenzen der heilpädagogischen Pflegestelle in der Arbeit mit traumatisierten Kindern zusammenfassen, wobei ich mich besonders auf deren spezielle Ausformung im TPP beziehe.

6.1 Möglichkeiten der heilpädagogischen Pflegestelle

  • Gegenüber ambulanten Maßnahmen der Jugendhilfe, wie z.B. Familien- und Einzelfallhilfe bietet die heilpädagogische Pflegefamilie dem Jugendamt die Möglichkeit, Kinder aus traumatisierenden Familien herauszunehmen, die nicht fähig oder bereit sind, ambulante Hilfen anzunehmen.
  • Gegenüber der Heimerziehung bietet die heilpädagogische Pflegefamilie die Möglichkeit, das anzubieten, was diese Kinder kausaltherapeutisch brauchen: dauerhafte duale Liebesbindungen im familiären Rahmen.
  • Gegenüber den Erziehungsstellen gem. § 34 KJHG gelten wegen deren nur oberflächlicher Familienähnlichkeit und ihres rechtlichen Heimcharakters die eben genannten Vorteile, insbesondere auch der Verbleibensschutz gem. § 1632 Abs. 4 BGB.
  • Gegenüber der normalen Pflegefamilie, bietet die heilpädagogische durch höheres Honorar höhere professionelle Qualifikation, durch intensive fachliche Betreuung und gegenseitige Unterstützung und durch langfristige Verträge Planungssicherheit besseren Schutz gegen die bei den normalen Pflegefamilien notorischen Abbruchrisiken.
  • Gegenüber der grundsätzlich vorzuziehenden Adoptionsfamilie bietet sie den Vorteil, dass sie die Rechte und Interessen der leiblichen Eltern besser berücksichtigt und - falls es im Interesse des Kindeswohls erforderlich ist - auch leichter gegen diese durchgesetzt werden kann.

6.2 Grenzen der heilpädagogischen Pflegefamilie

  • Die Defizite traumatisierter Kinder reduzieren gerade auch ihre Familienfähigkeit.
  • Die Traumafolgen sind wegen ihrer sowohl physischen als auch psychischen Verankerung besonders resistent.
  • Vernachlässigte und misshandelte Kinder neigen wegen ihres Ur-Misstrauens immer wieder zum strapaziösen Austesten der Liebes- und Bindungsangebote.
  • Die Schulpflicht zwingt die traumatisierten Kinder in ein Sozialisationssystem, das schon für viele gesunde Kinder bedenklich, für jene aber ganz überwiegend kontraproduktiv ist.
  • Wegen der Bindungsstörungen traumatisierter Kinder sind die Attraktionen der Umwelt in der Pubertät besonders gefährlich.
  • Auch erfahrene und professionell qualifizierte Pflegeeltern geraten immer wieder an die Grenzen ihrer psychophysischen Belastbarkeit.
  • Die pathologischen Fixierungen der Pflegekinder an ihre leiblichen Eltern führen zu schwierigen Konflikten mit ihren Pflegeeltern, zumal sie häufig auch vom Personal des Jugendamtes mit unterstützungswürdigen gesunden Bindungen verwechselt werden.
  • Die zum Teil natürlichen und zum Teil nur machtorientierten Kontaktwünsche der leiblichen Eltern stören den Aufbau der für die heilpädagogische Arbeit notwendigen Bindungen zu den Pflegeeltern.
  • Die sehr betonte Elternorientierung des KJHG und die noch darüber hinausgehende Neigung vieler Sozialarbeiter in den Jugendämtern, mehr den Interessen der Eltern zu dienen, als dem Kindeswohl, führt häufig zu anstrengenden Konflikten mit den Pflegeeltern.
  • Auch die Familiengerichte tendieren zunehmend zur Überbetonung der Elternrechte.

Um die oben aufgeführten Möglichkeiten auszuschöpfen, muss den erheblichen Gefahren der eben genannten Grenzen durch sorgfältige Unterstützung und Betreuung der Pflegeeltern begegnet werden.

VI. Rückblick und Ausblick

a) Rückblick

Zu den wichtigsten Erkenntnissen der vorliegenden Diplomarbeit gehört meines Erachtens:

  • dass die Bedeutung einer sicheren Bindung zu einer Versorgungsperson für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung immens ist und ein Fehlen oder Störungen in dieser Bindung weitreichende Folgen hat (vgl. Kap. II.3);
  • dass es zum Aufbau einer gesunden Bindung empathischer Feinfühligkeit bedarf (vgl. Kap. II.3);
  • dass fehlende zuverlässige Bindung im Kindesalter mit hoher Wahrscheinlichkeit zu späteren Beziehungs- und Bindungsstörungen führt und damit die Gefahr, dieses Verhalten an die nächste Generation weiter zu geben, deutlich erhöht ist (vgl. Kap. II.3);
  • dass das Gehirn sich auch physiologisch und anatomisch in Abhängigkeit seiner Nutzung entwickelt, vor allem in den ersten beiden Lebensjahren (vgl. Kap. II.3);
  • dass andererseits das menschliche Gehirn bis in das Erwachsenenalter partiell formbar ist (vgl. Kap. II.3);
  • dass gesellschaftsadäquates Lernen durch angemessene Erfahrungen innerhalb einer sicheren Bindungen im sozialökologischen Kontext möglich ist (vgl. Kap. II.3);
  • dass mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen wurde, dass Menschen die schwere traumatische Erlebnisse hatten, gehirnorganische Veränderungen aufweisen, die PTBS also keine rein psychische Störung ist, was die Behandlung mit einer Psychotherapie nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich macht (vgl. Kap. II.3/II.4);
  • dass im Sinne der Prävention wünschenswert wäre, durch Schulungen junge Eltern über die Erkenntnisse der Persönlichkeitsentwicklung und die Bedeutung sicherer Bindung aufzuklären, jedenfalls bei solchen Eltern, die durch solche Aufklärung erreichbar und beeinflussbar sind (vgl. Kap. II.4);
  • dass eine heilpädagogische Pflegestelle erhebliche Vorteile gegenüber anderen ambulanten und stationären Maßnahmen bei vernachlässigten und misshandelten Kindern aufweist, ihre Möglichkeiten jedoch stark von den äußeren Gegebenheiten abhängen und durch die gravierenden psychischen und physischen Beeinträchtigungen der Kinder begrenzt sind (vgl. Kap. V.6);

b) Ausblick

Aus der vorliegenden Arbeit ergeben sich folgende Anregungen für mich und andere:

  • Weil mir klar geworden ist, dass viele verhaltensgestörte Kinder durch Traumatisierung seelischbehinderte bzw. beeinträchtigte Menschen sind, die man nicht durch sozialisatorische Normansprüche überfordern darf, die aber gleichwohl förderungswürdig und förderungsfähig sind, habe ich mich dazu entschlossen, meine Erzieher -und Sozialarbeiterausbildung durch eine kindertherapeutische Ausbildung zu ergänzen.
  • Familiäre Traumatisierung und deren psychosoziale Auswirkungen sind ein Thema, das einem in den unterschiedlichsten Bereichen der sozialen Praxis begegnet, und es ist deshalb wichtig, sich diesem in der Ausbildung verstärkt zu widmen, wie z.B. die Lehrbeauftragte Frau Gahleitner in ihrem Seminar Psychosoziale Beratung.
  • Da die Ergebnisse aus der Traumaforschung teilweise noch relativ jung sind, wäre es sinnvoll, Fortbildungen zu diesem Thema für Mitarbeiter der sozialen Berufe, die mit diesem Klientenfeld in Berührung kommen, anzubieten, insbesondere den Pflegekinderdiensten oder den damit betrauten freien Trägern. Auch die Ergebnisse der Ich-Psychologie von Spitz und der Bindungsforschung von Bowlby wären Fortbildungsthemen, die zum Verständnis und Umgang mit traumatisierten Kinder beitragen könnten.  
  • Auf dem Gebiet der Auswirkungen von Elternkontakten und Rückführungen bedarf es noch empirischer Untersuchungen, die aber zur Zeit von KiAP (Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien) von der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes und der AGSP vorbereitet werden

Die Ergebnisse dieser Diplomarbeit unterstützen die Forderung der Berliner Pflegeeltern auf Wiedereinführung der heilpädagogischen Pflegestellen, weil sie erheblich kostengünstiger und effizienter sind als die heilpädagogischen Heime, die, auch wenn sie gut geführt werden, nicht die familiäre Geborgenheit bieten können, die unsere traumatisierten Kinder so dringend benötigen.

 

Literaturverzeichnis

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