FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2004

 

Babyklappe und anonyme Geburt –
Fluchtwege aus ungewollter Mutterschaft?

von Ursula Künning
 

Vorbemerkumg: Ursula Künning ist diplomierte Sozialarbeiterin und promoviert an der FU Berlin über anonyme Geburt und die Babyklappenproblematik. In ihrem Beitrag ergreift sie Partei für die betroffenen Frauen, vermeidet aber eine endgültige Bewertung und fordert stattdessen sorgfältige Forschung zu diesem emotional und ideologisch sehr belasteten Thema. Über Reaktionen zu ihren Gedanken  - hier oder unter email u.kuenning@freenet.de - würde sie sich freuen.

K.E. (August, 2004)


Anonyme Kindesabgabe: Babyklappen und anonyme Geburt

Am 8. April 2000 eröffnete das Projekt Findelbaby des Freien Trägers “Sternipark” in Hamburg die erste Babyklappe in Deutschland. Die Bevölkerung und die Presse reagierten überwiegend positiv. Bald nach der Eröffnung meldeten einige VertreterInnen sozialwissenschaftlicher Fachkreise Bedenken gegen die Möglichkeit der anonymen Kindesabgabe an und setzten eine Debatte für und wider die Babyklappe in Gang.

Ende des Jahres 2003 existierten in Deutschland 60 Babyklappen. In Berlin wurden fünf Babyklappen eingerichtet. Seit der Eröffnung der ersten Berliner Babyklappe im Herbst 2000 bis Ende 2002 wurden in Berlin insgesamt 14 Kinder in den Babyklappen abgegeben.

Alle Institutionen, die Babyklappen betreiben, verfolgen das gleiche Ziel: die Vermeidung der lebensgefährlichen Aussetzung von Säuglingen auf der Straße oder an anderen Orten, sowie die Prävention von Kindstötung. Das Angebot der Babyklappe richtet sich an Frauen mit neugeborenen Kindern, die für sich und das Kind keine gemeinsame Zukunftsperspektive sehen und die sich nicht in der Lage sehen, sich an Beratungsstellen zu wenden.

Um Müttern, die sich von ihren Kindern nach der Geburt trennen möchten und anonym bleiben wollen, eine adäquate medizinische Betreuung zu ermöglichen, initiierten PolitikerInnen quer durch alle Parteien einen Gesetzesentwurf, der anonyme Geburten in Kliniken legalisieren sollte. Am 30. Mai 2001 fand eine Anhörung zum Thema im Bundestag statt. Die Mehrzahl der eingeladenen Fachleute äußerte sich negativ zur geplanten Legalisierung. Kurz vor der Schlussabstimmung im Juni 2001 wurde der Gesetzentwurf zurückgezogen und die Abstimmung bis zu einem unbestimmten Termin vertagt.

Findelkinder und Babyklappen in Europa vom 17. – 19. Jahrhundert .Findelkinder waren vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in Europa ein Massenphänomen (vgl. Pawlowsky, 2001: 9). In vielen europäischen Städten wurden Findelhäuser eingerichtet. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden 365 Häuser in Europa gezählt, die ausschließlich zur Abgabe ungewollter Säuglinge bestimmt waren (vgl. ebd.:197). Besonders hoch lag die anonyme Abgaberate von Kindern, wenn es die Möglichkeit gab, diese in eine Drehlade an der Pforte der Institution zu legen und nach dem Ziehen eines Glockenstranges unerkannt fortzugehen. Von 1659 bis 1900 wurden im Mailänder Findelhaus 343 406 Aussetzungen registriert. Davon ein Großteil in den Jahren, als diese Anstalt mit einer Drehlade ausgestattet war (Hunecke, 1987: 34 ff.).  Eines der größten Findelhäuser Europas, das Gebär- und Findelhaus in Wien, nahm während seiner Bestehungszeit von 1784 – 1910 eine Dreiviertelmillion Kinder auf (vgl. ebd.:28).

Am 19. September 1709 wurde am Hamburger Waisenhaus ein Drehladen, nach italienischem Vorbild “Torno” genannt, installiert (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg, 1991:30 – 32.). Die Zahl der im Torno aufgefundenen Kinder war von Anfang an hoch und stieg schnell dramatisch an. Das Waisenhaus sah sich finanziell und pflegerisch nicht mehr in der Lage, die Kinder zu versorgen und schloss die Einrichtung im Jahre 1714. Während der Jahre des Hamburger Tornos ging die Anzahl der Kindsmorde spürbar zurück. (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg,1991: 30 – 32). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden erstmalig die Rechte der Kinder zum Thema. (vgl. Pawlowsky, 2002: 200). Das Prinzip der Geheimhaltung der Mutterschaft, wie es Praxis in den Gebärhäusern und bei der anonymen Kindesabgabe war, wurde zum Gegenstand von Kritik auf Kinderschutzkongressen (vgl. ebd.). Eine bessere soziale Versorgung ermöglichte es mehr Frauen ihre Kinder selbst groß zu ziehen (vgl. ebd.). Ab 1860 wurden die Drehläden nach und nach geschlossen (vgl. ebd.).

Findelkinder und ihre Mütter

Die Geschichte der Findelkinder ist die Geschichte ihrer Mütter. Pawlowsky (2001) beschreibt die Zuschreibungen und Vermutungen, derer sich zeitgenössische, meist männliche Autoren medizinischer Abhandlungen, je nach Untermauerung ihrer These bedienten (vgl. Pawlowsky, 2001: 47). Die Begriffe “Armut” und “Ausschweifung” wurden ausdauernd bemüht. Auch Frauen höherer Kreise fanden Hilfe. Man nahm an, dass diese Frauen verführt und Opfer ihrer Schwäche wurden. Indem man ihnen die Kinder abnahm, schienen sie fast wieder im Zustand der Unschuld (vgl. ebd: 48).

“Der Blick auf die unehelichen Mütter der Findlinge kannte (...) zwei Extreme: hier die verführte Unschuld und dort die gefallene Dirne. Die beiden Gegensätze korrelierten gleichzeitig mit Klassenzuweisungen an die Frauen.” (ebd. S. 47).

Illegitime Schwangerschaften - gemeint sind hier Schwangerschaften von Frauen, die keine Option auf spätere Heirat hatten - waren zu Zeiten des Wiener Findelhauses ein Phänomen der lohnabhängigen Unterschichten (vgl. ebd. S. 51); “und ein scheinbar ausschließlich weibliches Problem” (ebd.), das Frauen in schwere existentielle Not brachte und sie moralischen Verurteilungen aussetzte. (vgl. ebd.).

“Armut” und “Ausschweifung” und “Verführung” sind auch heute wieder die Schlagworte in der Diskussion um die Babyklappen. Das Angebot der Babyklappen richtet sich ausdrücklich an die Frau in “extremer Notsituation” die von dem Kindesvater verlassen wurde. Zielgruppe ist auch die Frau, die nach der Meinung der AnbieterInnen der Babyklappe,  einen ausschweifenden Lebensstil hat, Drogen nimmt, ihre Geschlechtspartner häufig wechselt und dem Partyleben zugeneigt ist. Die Babyklappe soll die Frau vor einer Kurzschlusshandlung wie Kindestötung oder -aussetzung bewahren.

Die Gegenstimmen zur Babyklappe benutzen ebenfalls die Argumente der Verführung und des lockeren Lebensstils. Das Angebot der Babyklappe scheint den AblehnerInnen eine verführerisch leichte Variante der Kindesabgabe zu sein, denn:

“(…) die kann eine sehr einfache Form sein, sich einer Problem- Lösung zu entziehen und sich zum Beispiel dem (alternativen!) Adoptionsverfahren nicht zu stellen! Es brauchen keine Gespräche geführt, keine Entscheidungen gefällt, keine Absprachen für die Zukunft des Kindes (und der Mutter) getroffen werden. Das Angebot sagt: Du darfst... es hat keine Folgen für dich... wir sorgen für alles! Verführerisch!” (Swientek, 2001: 65).

Doch die Strafe für diese scheinbar leichtsinnige Tat wird nach Überzeugung  der GegnerInnen folgen. Hat eine Frau ein Kind in der Babyklappe abgegeben oder einer Mitarbeiterin der Institution anonym übergeben, vielleicht ein Foto oder einen Fußabdruck des Kindes gemacht, wie es bei der anonymen Kindesabgabe mancherorts üblich ist, dann scheint die Basis für ein lebenslanges Trauma geschaffen:

„…und dann ist der Moment für das Foto da... Das Foto, das die Mutter, falls sie es ist, ihr Leben lang begleiten wird: Verblassend, verweint, verknittert – und daneben der Zettel mit dem Füßchenabdruck” (ebd. S. 50).

Auf beiden Seiten wird ein Bild der handlungsunfähigen, fremdbestimmten Frau gezeichnet, die vor ihren eigenen Entscheidungen geschützt werden muss. Die BetreiberInnen von Babyklappen hoffen, dass sie die Frau davor schützen können, ein Kind zu töten oder auszusetzen. Eine Tat, die sie ihr Leben lang bereuen werden. Die GegnerInnen der Babyklappe sehen die Abgabe des Kindes in die Babyklappe als Kurzschlusshandlung an und ebenfalls als Tat, die die Mütter ihr Leben lang bereuen werden.

„Ungewollte Mutterschaft“ – gibt es das heute noch?

Ein relativ einfacher Zugang zu Verhütungsmitteln scheint eine ungeplante Schwangerschaft überflüssig zu machen. Doch die vorhandenen Verhütungsmittel erweisen sich manchmal als unzulänglich, gesundheitsschädlich oder können schlicht vergessen werden. Kommt es dadurch zu einer ungewollten Schwangerschaft, könnte die Möglichkeit eines straffreien Schwangerschaftsabbruches in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen eine ungewollte Mutterschaft unnötig machen. Dabei wird häufig übersehen, dass das Thema Abtreibung auch heute noch tabuisiert wird. In einer Studie des Familienplanungszentrums Hamburg wird berichtet:

„(…) dass Frauen große Angst vor den physischen und ganz besonders den psychischen Folgen der Abtreibung haben. Seit Jahren beobachten wir, dass zunehmend mehr Frauen  ihrer eigenen Wahrnehmung, ihren Gefühlen nicht mehr trauen. Sie können nicht glauben, dass es ihnen mit ihrer Entscheidung und der Abtreibung tatsächlich gut gehen kann und dass es dabei bleibt. Sie befürchten eher, dass sie gefühlskalt sind oder dass sie etwas verdrängen, wenn sie nach einem Schwangerschaftsabbruch nicht trauern oder leiden. Die öffentliche Meinungsmache hat ihre Wirkung also nicht verfehlt.“ (Knopf 2000: 4).

Der Schwangerschaftsabbruch ist nach wie vor staatlich reglementiert; eine Beratung und eine Offenlegung aller Daten, einschließlich vorausgehender Schwangerschaftsabbrüche ist Pflicht für Frauen, die einen Abbruch möchten. In der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch haben konservative Kräfte an Einfluss gewonnen (vgl.ebd). In der Sprachregelung wird nicht mehr vom Embryo gesprochen, sondern vom ungeborenen Leben (vgl. ebd.). Öffentlich kursierende Schreckensszenarien der Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen schüchtern die Frauen ein und tragen zum Tabu um den Schwangerschaftsabbruch bei (vgl. ebd.).

„Der Schwangerschaftsabbruch ist kein beliebiger medizinischer Eingriff. Vielmehr ist er Gegenstand von intensiv politischen und moralischen Auseinandersetzungen. (…)“ (ebd.: 27).

Anonyme Kindesabgabe und Adoption

Die Kinder, die anonym geboren oder in der Babyklappe abgegeben wurden, werden, falls die Mütter sich nicht mehr zurückmelden, zur Adoption gegeben. Auf die Sozialwissenschaft, wie auch auf die Öffentlichkeit übt das Thema Adoption eine gewisse Faszination aus. Die Adoption eines Kindes ist mit einer Vielfalt von adoptionsrechtlichen Regelungen verbunden (vgl. Textor, 1996:505). Diese Vielfalt der gesetzlichen Vorschriften steht in „keinerlei Verhältnis zur Bedeutung der Adoption“ (ebd.). Weder die 0,5 Prozent aller  Kinder, die 1993 durch Adoption Mitglieder einer Familie wurden, noch deren Adoptiveltern sind ein typisches Klientel der Sozialarbeit (vgl. ebd.).

„Und doch gibt es zur Adoption sehr viel mehr Vorschriften als zu viel wichtigeren sozialpädagogischen Maßnahmen wie Heimerziehung, Familienpflege, Erziehungsberatung, Familienbildung usw. Interessant ist die korrespondierende Faszination der Öffentlichkeit. Alle paar Wochen gibt es Reportagen oder Zeitungsberichte zur Adoption; in vielen Fernsehfilmen tauchen Adoptierte auf. Die Zahl der Diplomarbeiten an Fachhochschulen scheint sehr hoch zu sein. Adoptionsvermittlungsstellen der Jugendämter und freien Träger sind eher überdurchschnittlich ausgestattet. Selbst die Zahl der Forschungsarbeiten über Adoption ist höher als z.B. diejenige über den Allgemeinen Sozialdienst, obwohl hier mehr Sozialpädagogen, Klienten, Probleme und Maßnahmen zu untersuchen wären“ (ebd.).

Die Analyse der Veröffentlichungen zur anonymen Kindesabgabe zeigt auf, dass viele der an der Debatte Beteiligten in Positionen eingebunden sind, die von fachlichen oder persönlichen Zusammenhängen von Adoption geprägt sind. Bei den VertreterInnen der von Adoption Betroffenen, ist eine tiefe Verstrickung in den Diskurs zu erkennen. Die eigene schmerzhaft empfundene Lebensgeschichte wird zum Maßstab der Beurteilung der anonymen Kindesabgabe. Der/die Betroffene wird zum Fachmenschen, spricht mit dem Gewicht der  Authentizität und entwirft Zukunftsvisionen für eine Gruppe von Menschen, die gerade geboren wurde, oder evtl. noch anonym geboren wird:

„Die Euphorie, Kinder zu retten, macht blind für das elementare Bedürfnis aller Kinder - nämlich bei Mama und Papa zu bleiben zu dürfen. Wir sind die Menschen um die es hier geht. Wir wurden adoptiert und nur wir können sagen, wie es sich damit lebt! (...) Für jedem Mitbürger ist es eine Selbstverständlichkeit seine Familie kennen zu dürfen – uns bleibt es versagt. (…). Von der eigenen Mutter / den eigenen Eltern weggegeben worden zu sein, ohne jede Erklärung, weshalb es dazu kam, führt bei diesen Kindern zu einem unlösbaren Dilemma. Dieses Trauma ist lebenslang!“ (Liese, 2003:118).

Ein solches Statement  gilt als  authentisch, denn es verkörpert das Innerste eines Subjekts und enthält darin eine unhinterfragte Erfahrung (vgl. Villa, 2003: 38). Als „Wahrheit“ entfaltet es alltagsweltlich und politisch seine Wirkung (vgl. ebd.:39).

Adoption kann für Mütter und Kinder eine Lösung sein, die beiden gerecht wird. Der Mutter, die keinen gemeinsamen Weg für sich und das Kind sieht, und für das Kind, für das auf diese Weise mit hoher Sicherheit gut gesorgt ist. Doch auch das Thema Adoption ist tabuisiert und wird in der Öffentlichkeit widersprüchlich verhandelt. Einerseits wird vorausgesetzt, dass eine Mutter ihr Kind nicht weggibt. Andererseits wird Adoption befürwortet, da diese für das Kind eine gute Lösung sein kann. Die Adoptionsliteratur wiederum besteht zu einem hohen Teil aus leidvollen Berichten von Betroffenen. Ein offener Umgang mit der Adoption soll den schlimmen Erfahrungen vorbeugen und ist für viele abgebende Mütter eine emotionale Hilfe. Ihre Rechte werden jedoch damit nicht gestärkt:

„Eine Mutter, die ihr Kind zur Adoption freigibt, ist gezwungen, alle Rechte der Mutterschaft bezüglich dieses Kindes abzutreten. Selbst dann, wenn alle Beteiligten sich gemeinsame Beziehungen und geteilte Verantwortung wünschen, ist dies rechtlich nicht umsetzbar“ (Engel, 2003:37).

Im Zusammenhang mit Babyklappe und anonymer Geburt besteht ein schwer zu ertragender Interessenkonflikt zwischen Mutter und Kind, der nach Ansicht der AblehnerInnen der anonymen Kindesabgabe zu Gunsten des Kindes gelöst werden soll. Dies bedeutet, eine Mutter, die ihr Kind nicht selbst aufziehen möchte, hat die Möglichkeit einer legalen Adoption. Sie hinterlegt ihre Daten und das Kind hat im Erwachsenenalter das Recht und die Möglichkeit, über die Adoptionsvermittlungsstelle einen Kontakt zur Mutter zu suchen. Für die abgebende Mutter bedeutet dies, dass sie ihr Leben lang damit rechnen muss, mit der Kindesabgabe, dem (erwachsenen) Kind und der damaligen Lage konfrontiert zu werden. Viele Frauen sind voller Freude, wenn sie auf diese Weise erfahren, was aus ihren Kindern geworden ist. Für andere kann die Identitätsfindung des Kindes die Erinnerung an eine traumatisch erlebte Lebenssituation wecken und somit eine Retraumatisierung bedeuten. Anonymität kann dementsprechend als Notlösung und als Flucht eine Möglichkeit darstellen.

Ein ständiges Aufrufen traumatisierter Mütter und Kinder, die lebenslänglich unter der anonymen Abgabe leiden, verankert ein Wissen in den Köpfen, dass ein Nachdenken über andere Ursachen der Traumatisierung ausschließt. Die Veröffentlichungen von Adoptierten, die unter einem  Nichtwissen um ihre biologische Herkunft leiden, sind ebenso wichtig für ein Verständnis von Problemen, die im Zusammenhang mit Adoption auftreten können, wie wissenschaftliche Studien, die Störungen der Identitätsentwicklung bei Adoptierten abbilden. Sie sollten aber weder als allgemeingültig gelten, noch eine Analyse der Ursachen und Wirkungen des Redens von Wurzelsuche, biologischer Herkunft und gestörter Identitätsentwicklung ersetzen.

„(…) In keiner der verschiedenen Sozialisations- und Identitätstheorien wird die Kenntnis der biologischen Herkunft zur Voraussetzung von Identität gemacht. – Und empirisch sind gleichfalls Zweifel angebracht, denn Therapeuten und Beratungsstellen sehen immer nur die problematischen Fälle, aber nicht diejenigen, die auch ohne Kenntnis ihrer biologischen Herkunft sowohl eine personale wie eine soziale Identität entwickelt haben, d. h. die sowohl eine Vorstellung von der Einzigartigkeit ihrer Person haben als auch die Fähigkeit sich den sozialen Erwartungen ihrer Umwelt anzupassen“ (Schütze 2003: 56).

Gibt es eine Freiheit bei ungewollter Mutterschaft?

Nicht nur die Adoptiveltern, die sich die Erziehung des Kindes zur Aufgabe machen, werden für die Entwicklung der kindlichen Identität in die Verantwortung genommen, sondern besonders auch die biologische Mutter, ohne die das Kind Schäden in seiner Identitätsentwicklung nehmen könnte.

„Weibliche Hingabe und Fürsorge und auch die Mutterliebe sind im Zusammenhang mit einer Entmachtung der Frau bis zur Selbstaufgabe zu sehen und haben eine zunehmende Funktionalisierung des anderen für die eigene Selbsterhaltung zur Folge“ (Herwartz-Emden, 1995: 34).

Die Mutter soll dingfest gemacht werden, um dem Kind eine bessere Entwicklung zu ermöglichen. Die Frage, ob Frauen heute über ihren Körper, über sich selbst als Mutter und das durch sie gegebene Leben verfügen können, muss verneint werden (vgl. Treusch-Dieter: Vorwort zu Maurer, 2002:.10).

„Die geschichtlich geltende Antwort ist ebenso wie heute ein Nein, dass sich mit Blick auf die Abtreibung auch als Indikations- oder Fristenlösung darstellen kann.“ (ebd: 10/11).

Die Fristenlösung bezieht sich auf den gesunden Fötus, der nach 12 Wochen Schwangerschaft nicht mehr dem Ermessen der Frau unterstellt ist. Ganz anders stellt sich die Sache beim behinderten Fötus dar. Die Fristenlösung ist hier aufgehoben und im Allgemeinen wird der Frau hier ein Schwangerschaftsabbruch auch bei weit fortgeschrittener Schwangerschaft nahe gelegt. (vgl. Vinken: 232)

„Über weibliche Körperlichkeit werden Gebote vorgeschrieben und verhandelt, die ein eigenständiges Selbstverständnis und selbstbestimmte Lebensformen von Frauen insbesondere als Mütter in Frage stellen.“ (Maurer, 2002: 21).

In der Debatte herrscht Einigkeit, dass Mütter sich nur unter äußerem Druck zur anonymen Kindesabgabe entschließen. Damit ist das Unvorstellbare in seine Schranken gewiesen. Diese Unvorstellbare ist die autonom handelnde Frau, die ein Kind geboren hat, sich nicht in der Lage sieht, seine soziale Mutter zu sein, und das Kind anonym, aber in Sicherheit zurücklassen möchte. Ein solches Verhalten widerspricht allem, was die meisten Menschen über Mutterschaft denken, und was sie sich von Müttern wünschen.

„Die Liebe zum Kind als angeblich natürliches Wesensmerkmal jeder Mutter, die Selbstaufopferung, die mit dem Akt der Geburt beginnen und von da ab nun kein Ende mehr nehmen soll, sind Zuschreibungen, die das `gesunde Volksempfinden`  prägen und als allgemeingültige Norm auch ins aufgeklärte Bewusstsein übernommen werden. Jedes Zuwiderhandeln wird als Affront gegen eine Gemeinschaft empfunden, die ohne mütterliche Aufmerksamkeit und sorgliche Pflege große Einbußen hinzunehmen hätte. Diese kostengünstig geleistete Reproduktionsarbeit unter dem Banner der ’Mutterliebe’ aufzugeben, ginge zu Lasten vieler NutznießerInnen. Die weitere Aufrechterhaltung eines hohen Mutterideals ist somit nicht bloße Gefühlsduselei einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern hat auch rationales Kalkül “(Maurer, 2002: 17).

Das Angebot der Babyklappe ist als Symptom einer Gesellschaft zu werten, in der die Ungleichheit der Geschlechter tief verwurzelt ist. Nicht jede Frau ist von dieser Geschlechterungerechtigkeit spürbar betroffen. Rechtliche Gleichstellung, Zugang zu Bildung und eigenem Einkommen haben die Lebenssituationen vieler Frauen in den westlichen Ländern tiefgreifend verbessert. (Koppert, 2003:15).

Doch es „bestehen allerdings nach wie vor frauenspezifisch nachteilige Lagen. ’Merkmale’ wie Herkunft, Hautfarbe, Alter, körperliche Einschränkungen, Bildungsstand, sexuelle Orientierung, ob jemand kleine Kinder zu versorgen oder eine Aufenthaltsberechtigung hat, wirken in Verbindung mit dem Geschlecht heute regelmäßig ’schicksalerzeugend’. Die Lage von Frauen ist dabei, sich im selben Maße auszudifferenzieren wie die Lage von Männern. Die Ungleichheit nimmt zu (…).“ (ebd:16).

Das Angebot der anonymen Kindesabgabe wirft Fragen und Probleme auf, die gesellschaftlich gelöst werden müssen. Geschlechtergerechtigkeit ist nicht nur eine Frage von Erziehungsurlaub für Mütter und Väter, oder eine Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen für Eltern. Es geht auch um eine Überprüfung der Zumutungen und Zuschreibungen, die mit Mutterschaft verbunden sein können. Mütter werden in einer maßlosen Weise für das Wohl ihrer Kinder verantwortlich gemacht. Maaz (2003) vertritt das Idealbild der Mutter, die dem Kind in seinen ersten drei Lebensjahren rund um die Uhr zur Verfügung steht:

„So entscheidet die Mutter auf das nachhaltigste über die Zukunft ihres Kindes. Sie sollte also in dieser Prägungsphase am besten immer präsent sein und nur das Kind entscheiden lassen, wenn dieses sich mal von seiner Mutter zurückziehen und entfernen möchte.“(Maaz, 2003: 81).

Auch die Frau, die sich in sorgsamster Weise um ihr Kind bemüht, ist vor Verdächtigungen nicht gefeit. Dornes (2003) stellt die altbekannte These der überbesorgten, dem Kind Schaden zufügenden Mutter, im neuen Gewand vor. Ihre Sorge um das Kind könne ihre innere Ablehnung gegen das Kind verdecken und ihre psychische Befindlichkeit kann einem dafür disponierten Kind den plötzlichen Kindstod bringen:

„Nichts spricht derzeit gegen die Annahme, dass ein chronisches und tiefgreifendes Einanderverfehlen von Mutter und Kind über eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens und eine vorübergehende funktionelle Störung bis hin zu einer allgemeinen Reifungsblockade, lebensbedrohlichen neurophysiologischen Fehlregulationen und letztlich zum ’Aufgeben’ des Säuglings führen kann“ (Dornes, 2003: 205).

Schuldgefühle und Angst davor, als Mutter zu versagen, werden durch solche Anmaßungen genährt und begleiten Frauen durch den Mütteralltag.

Mütterliche und väterliche Verantwortlichkeiten

Die Frau, die ihr Kind abweist, wird zur Klientin oder Patientin erklärt und ist somit je nach Disziplin beratungs- oder behandlungsbedürftig. Das Idealbild der liebenden Mutter, die ihr Kind nie weggeben würde, ist auch bei den ungewollt schwangeren Frauen tief verankert. Schon aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, dass die meisten anonymen Kindesabgaben tatsächlich unter Druck stattfinden. Dieser Druck kann durch vielfältige Ursachen entstehen: durch ein gesellschaftlich gefördertes unrealistisches Mutterbild, durch Armut, Unwissenheit oder durch Gewalt. Letztendlich geht es um Angst vor einem nicht Standhalten können in einer real feindlichen oder feindlich empfundenen  Umwelt.

In den schriftlichen Beiträgen zur anonymen Kindesabgabe kommen Männer, insbesondere in ihrer Rolle als Väter nur nebenbei und meistens als Gewalttäter vor. Vor der anonymen Geburt stehen eine Verbindung einer Frau mit einem Mann, die Zeugung des Kindes und eine Schwangerschaft. Zu irgendeinem Zeitpunkt dieser Schwangerschaft entscheiden der Mann oder die Frau, oder beide gemeinsam auch über die Anonymität des Mannes. Seine Väterlichkeit wird gesellschaftlich nicht eingefordert. Seine Identität als Mann bleibt ungebrochen. Der Mann, der nicht zu seinem Kind steht, wird nicht zum Klienten oder Patienten erklärt. Es wird auch nicht von ihm erwartet, dass er den Rest seines Lebens die ungelebte Vaterschaft betrauert. Als Vater versagen, bedeutet nicht als Mann zu versagen. Er hat die Möglichkeit weiterhin ein erfülltes Leben zu leben.

Babyklappe und anonyme Geburt –Fluchtwege aus ungewollter Mutterschaft?

Inzwischen haben sich bereits Frauen wieder zurückgemeldet, die ein Kind in der Babyklappe abgegeben haben. Ein Teil der Frauen, denen es ermöglicht wurde, in einem Krankenhaus anonym zu entbinden, haben ihre Anonymität aufgeben. Einige leben mit Ihrem Kind zusammen. Es gibt keine typische Gruppe von Frauen, die ihr Kind abgeben. Die Problemlagen sind vielfältig; Armut, Partnerschaftsprobleme und persönliche Überforderung spielen eine Rolle, erklären aber nicht, warum diese Frauen ihre Kinder abgeben und andere Frauen ihre Kinder in ähnlich wirkenden Situationen behalten. In Gesprächen mit den betroffenen Frauen wird immer wieder die Angst erwähnt „keine gute Mutter zu sein“ und somit für das Kind nicht zumutbar. Den Frauen, die sich melden, kann mit dem vorhandenen psychosozialen Angebot geholfen werden. Für andere Frauen wiederum kann Anonymität eine Möglichkeit sein, eine unerträgliche Situation zu beenden und ein neues Leben aufzubauen. Eliacheff (2001) beschreibt den Fall einer Bosnierin, die im Krieg als Opfer einer kollektiven Vergewaltigung schwanger wurde und an einer Abtreibung gehindert wurde. Es gelang ihr in einem späten Stadium der Schwangerschaft nach Frankreich zu kommen, um dort das Kind legal anonym zu entbinden und zur Adoption zu geben. Nicht jede ungewollte Mutterschaft hat einen gewalttätigen Hintergrund, doch Eliacheff, die auch Kinder; die anonym geboren wurden, psychoanalytisch behandelt, befürwortet die anonyme Geburt:

„Es erscheint mir absolut möglich, ja wünschenswert, den Frauen Anonymität zuzusichern, wenn sie dies wünschen – und die Frauen, die ich kennengelernt habe, hatten triftige Gründe dafür -, und zugleich die Bedürfnisse des Kindes zu respektieren. Das heißt, das Kind muß  (eines Tages) erfahren, dass seine Mutter sich für eine anonyme Geburt entschieden hat, vor allem aber was sie bewogen hat und was Sie ihrem Kind mitgeben wollte.“ (Eliacheff 2001:30).

Sehr wenige Kinder werden von der Mutter ausgesetzt oder nach der Geburt getötet. Für die immer wieder auftauchenden Angaben von ca. 40 bis 80 in Deutschland ausgesetzt aufgefundenen Kindern, von denen die Hälfte verstorben sei, gibt es keinen Beleg

Weder die Bedingungen, die zu einer solchen Katastrophe führen können, noch die Möglichkeiten effektiver Hilfeleistungen sind hinreichend erforscht. Ob hier langfristig mit Babyklappe und anonymer Geburt geholfen werden kann, muss sorgfältig untersucht werden Beide Angebote sind nicht legalisiert, bestehen erst kurze Zeit und sind vielerorts nicht erreichbar. Daher ist zum heutigen Zeitpunkt die Frage nach der Effektivität nicht zu beantworten. Verweise auf die Kinder, die trotz des Angebotes von Babyklappe und anonymer Geburt ausgesetzt oder getötet werden, sind in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, zeigen aber wieder auf die katastrophalen Bedingungen, denen Frauen im Zusammenhang mit Mutterschaft ausgesetzt sein können.

Literaturliste

Dornes, Martin (2003): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre. Frankfurt am Main.

Eliacheff, Caroline (2001): Das Kind, das seine Mutter zu sehr liebte. München.

Engel. Antke (2003): Queer / feministische Gedanken zu Verwandtschaft und Familie. In femina politica, Zeitschrift für feministische Politik –Wissenschaft, Heft 1 / 2003, S. 36 – 44.

Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Amt für Schule (1991): Geschichte – Schauplatz Hamburg; Bettelkinder, Findelkinder, Waisenkinder 1600 – 1800. Hamburg.

Herwartz-Emden, Leonie (1995): Mutterschaft und weibliches Selbstkonzept. Eine interkulturell vergleichende Untersuchung. Weinheim; München.

Hunecke, Volker (1987): Die Findelkinder von Mailand: Kindesaussetzung und aussetzende Eltern vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart.

Knopf, Marina; Mayer, Elfie (2000): Meyer, Elisabeth: Traurig und befreit zugleich. Familienplanungszentrum Hamburg.

Koppert, Claudia, (Mitarbeit: Lindberg, Birgit) (2003): Post Feminismus: Komplexe Verhältnisse, widerspruchsvolle Lagen, tragische Heldinnen. In: Koppert, Claudia; Selders, Beate (Hg) Hand aufs dekonstruierte Herz. Verständigungsversuche in Zeiten der politisch–theoretischen Selbstabschaffung von Frauen. Königstein/Taunus, S.10 - 26.

Liese, Gitte.: (2003) Gegen Babyklappen und anonyme Geburt. Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Adoptierte – BARGEA. In: terre des hommes (Hg.) (2003): Babyklappe und anonyme Geburt – ohne Alternative? Dokumentation einer Tagung vom 27./28.05.2003. Osnabrück, S.117 – 119.

Maaz, Hans-Joachim (2003): Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit. München.

Maurer, Gerlinde (2002): Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal. Wien.

Pawlowsky, Verena (2002): Mutter ledig – Vater Staat Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784 – 1910. Innsbruck, Wien, München 2001.

Schütze, Yvonne (2003): Ideologisierung der leiblichen Elternschaft. In: Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg e.V.; Caritas-Verband für das Erzbistum Berlin e.V. (Hg.): Auf den Prüfstand gestellt. Babyklappe und anonyme Geburt. Dokumentation der Fachtagung am 18. März 2003,  Berlin. S.53 – 57.

Swientek, Christine (2001): Die Wiederentdeckung der Schande. Babyklappen und anonyme Geburt. Freiburg im Breisgau.

Textor, Martin R.: 20 Jahre Adoptionsreform– Konsequenzen aus veränderten Sichtweisen. In: Neue Praxis, 26, 1996, S. 504- 519

Textor,Martin (Stand:17.04.2004): Adoptivfamilien: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Elternschaft/s_689.html

Treusch – Dieter, Gerburg (2002) Vorwort. In: Maurer, G.: Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal. Wien, S. 9 – 11.

Villa, Paula-Irene (2003): Judith Butler. Frankfurt am Main.

Vinken, Barbara (2001): Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos. München.

s.a. weitere Beiträge zum Thema Babyklappe

 

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