FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2001

 

Biografiearbeit mit Pflegekindern

Diplomarbeit zur Erlangung des Grades
eines Diplomsozialarbeiters/Sozialpädagogen
an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik
“Alice Salomon”

von Ivo Stephan (Okt. 00)
(zurück zu Teil 1)

 

.....
B. Darstellung und Analyse der Biografiearbeit

I. Kurzdefinition
II. Historischer Hintergrund
III. Typische Merkmale der Biografiearbeit anhand von Beispielen aus der Fachliteratur
IV. Psychologisches Grundkonzept
V. Spezielles Konzept zu den Wirkmechanismen der Biografiearbeit
VI. Indikation und Effizienz
VII. Erkenntnistheoretische Einordnung und Bewertung

C. Erfahrungen in der Biografiearbeit mit Pflegekindern

David
I. Zur Person
II. Informationsquellen
1. Bericht über die Recherchen
2. Auflistung der Quellen
3. Diskussion der Quellen

III. Befunde und Berichte
1. Befunde und Berichte aus eigenen Erhebungen
1.1. Die Tante
1.2. Die Schwester
1.3. Die Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes
1.4. Der Heimleiter
1.5. Die Bezugserzieherin
1.6. Eine Gruppenerzieherin
2. Befunde und Berichte aus eigenen Erfahrungen

IV. Lebensgeschichte und wichtigste Bezugspersonen
1. Chronik und Geschichte der Mutter
1.1. Chronik
1.2. Geschichte
2. Chronik und Geschichte des Vaters
2.1. Chronik
2.2. Geschichte
3. Chronik und Geschichte des Kindes
3.1. Chronik
3.2. Geschichte
3.3. Psychosoziale Diagnose

V. Biografiearbeit mit David
1. Dokumentation
1.1. Beispiel A
1.2. Beispiel B
1.3. Beispiel C

D. Generalisierende Auswertung

E. Zusammenfassung

F. Literaturverzeichnis

Anhang

 

B. Darstellung und Analyse der Biografiearbeit
I. Kurzdefinition

Biografiearbeit ist eine psychohistorische Methode, die auf entwicklungspsychologischer Basis die Lebensgeschichte eines Menschen erarbeitet und ihm so rückvermittelt, daß er sich besser verstehen und besser verstanden werden kann sowie zu einem realistischen Identitätskonzept gelangt.

II. Historischer Hintergrund

Die historischen Wurzeln der Biografiearbeit sind vielfältig und je nach Erkenntnisinteresse unterschiedlich determiniert.

„Aus der Völkerkunde stammt das Interesse an der Beschreibung herausragender Persönlichkeiten bei den ‚primitiven‘ Völkern. Aus Psychologie und Psychiatrie stammt die intensive Beschäftigung mit dem Lebensgang eines einzelnen Menschen, und zwar nicht, weil er sich um Volk und Staat verdient gemacht hat und also eine Biographie verdient, sondern weil die Störungen eines ‚normalen‘ Menschen Arbeitsbereich der Wissenschaft geworden sind. In den Sozialwissenschaften entsteht ein Interesse für die Lebensbedingungen der unteren Sozialschichten und führt zu monographischen Zugängen.“ (Fuchs-Heinritz, 2000 S.83)

Lange Zeit wurde die Individualität in der biographischen Forschung von den Sozialwissenschaften ausgeklammert, da die Hauptaufgabe darin gesehen wurde,

„...die Gesellschaftlichkeit des Lebens und die gesellschaftliche Produziertheit des Individuums nachzuweisen“ (ebd., S.83).

In der Psychologie waren die Entdeckungen und Verfahren von S. Freud bahnbrechend für die biographische Forschung, die jedem Individuum eine bedeutsame Lebensgeschichte zugestanden.

„Haben doch ausführliche Erzählungen aus der Lebensgeschichte bei der Begründung und Ausarbeitung der Psychoanalyse durch Freud und seine Schüler eine entscheidende Rolle gespielt – als Erfahrungsmaterial, dann auch als Verfahren der Heilung. ... In diesem Sinne kann die psychoanalytische Technik als ‚ein biographisches Verfahren‘ gelten (Schraml 1965, 258), in diesem Sinne hat Freud ‚in der großen psychoanalytischen Krankengeschichte eine Kategorie wissenschaftlicher Literatur geschaffen, die ohne Vorbild war‘ (Bittner 1978, 337).“ (ebd.,  S.84)

In den Verfahren der Psychoanalyse war gleichzeitig die „methodische Skepsis ... gegenüber Erinnerungen“ (vgl. S.84) von Bedeutung, die davor bewahren sollte, die Erinnerungen nicht hinterfragt als Tatsachen anzunehmen. Denn möglicherweise verbargen sich hinter scheinbar belanglosen sehr bedeutsame, verschlüsselt dargestellte Ereignisse, die seit Freud „Deckerinnerungen“ heißen.  

Abgrenzungen zur Psychoanalyse finden sich in der Literatur zur biographischen Forschung nach Fuchs-Heinritz bei Allport, der sich gegen eine

„...Überschätzung der Bedeutung der Kindheit für die weiteren Lebensmöglichkeiten“ wehrt und anmerkt, „...daß die Menschen keineswegs allein oder dominant durch unbewußte Konstellationen getrieben werden, ...“ (ebd., S.85).

Neben der Psychoanalyse gehen andere Wurzeln der biographischen Forschung auf den wissenschaftlichen Anspruch der Psychologie zurück, die sich in der Erfassung kriminologischer Fallstudien und in der Beschäftigung der Psychiatrie mit einzelnen Lebensläufen widerspiegeln.

Aus dem Bereich der Völkerkunde und der Kulturanthropologie sind Beispiele von Langness und Paul aus den USA angeführt, die zahlreiche Porträts, Biographien und Autobiographien über und von Häuptlingen der Indianer sowie hervorragenden Persönlichkeiten erfaßten (vgl. Fuchs-Heinritz, S.86 ). Sie verdeutlichen das gesellschaftliche und individuelle Interesse an Lebensverläufen historisch bedeutender Persönlichkeiten.

In der Soziologie werden nach Fuchs-Heinritz meistens die Untersuchungen von Thomas und Znaniecki über polnische Bauern in Polen und in den Vereinigten Staaten von Amerika, als Beginn der biographischen Forschung betrachtet.

„Band I der Neuausgabe von 1958 enthält neben einer theoretischen und wissenschaftstheoretischen Begründung des Vorgehens eine Untersuchung der Geschichte der Sozialorganisation in Polen, insbesondere der bäuerlichen community mit ihrer beherrschenden Familienordnung, die Individualisierung kaum verlangt und kaum zugelassen hat, sowie der Formen der Auflösung dieser Gemeinschaft in der Gegenwart. ... Die Untersuchung menschlicher Persönlichkeit diene ebenso wie das Studium anderer Daten der Bestimmung sozialer Gesetzmäßigkeiten. Auch wenn jedes Individuum Besonderheiten in seiner Sichtweise und seinen Erfahrungen aufweise, ‚können wir diese Besonderheiten zum Zwecke der wissenschaftlichen Verallgemeinerung vernachlässigen, ganz ebenso, wie der Naturwissenschaftler die Besonderheiten ignoriert, die ein jedes Ding oder einen jeden Vorgang in gewisser Weise einzigartig machen. ...‘(Thomas/Znaniecki 1958, II, 1831 f.)“ (ebd., S.86 f.)   

Die zitierte Verallgemeinerung bedeutet für Thomas und Znaniecki aber nicht, daß individuellen Lebensgeschichten keine Bedeutung mehr beigemessen wird. Vielmehr geht es ihnen darum, aus der Vielzahl von Lebensgeschichten im sozialen Geschehen einzelne, repräsentative Fälle so gründlich zu untersuchen, daß eine Verallgemeinerung für alle bei der Untersuchung relevanten Fälle möglich wird.   

Biografien gibt es also in den unterschiedlichsten Formen bereits seit Jahrhunderten. Die biographische Forschung hingegen und somit die Nutzung biographischer Daten und Erlebnisse für wissenschaftliche Zwecke ist ein Produkt gewachsenen Geschichts- und Individualbewußtseins, welches im beginnenden 20. Jahrhundert entstand.

III. Typische Merkmale der Biografiearbeit anhand von Beispielen aus der       Fachliteratur

Bei der Verschiedenartigkeit biografischer Arbeit, ob Biografie, Autobiografie, Psychoanalyse oder soziologische Forschung, gibt es doch einige typische Merkmale, die wohl auf sämtliche Formen anzuwenden sind. Diese Merkmale bestimmen wesentlich Inhalt und Ergebnis der biographischen Arbeit. Letztlich sind  Zweck und Ziel des Biografen und der/des Befragten entscheidend dafür, welche Merkmale vorrangig zum Tragen kommen.

Da in der Fachliteratur kein allgemeingültiger „Katalog“ solcher Merkmale zu finden ist, werden diese im folgenden anhand zweier literarischer Werke herausgearbeitet.

Das erste Werk ist die von John Colapinto, einem amerikanischen Journalisten,  recherchierte Biografie eines von eineiigen Zwillingen, dessen Genitalien aufgrund eines Operationsunfalles im Säuglingsalter verstümmelt worden waren. Deshalb wurde er als Kleinkind einer Geschlechtsumwandlung unterzogen und die nächsten Jahre als Mädchen erzogen.

Das zweite Werk nähert sich dem psychologischen Aspekt der Biografiearbeit noch mehr an und behandelt psychoanalytische Sozialpädagogik in Kinderheimen als eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte einzelner. Es handelt sich um das Buch „Verwahrloste Jugend“ von August Aichhorn.

Colapinto setzte mit seinen Recherchen zu Davids Biografie bei der Geschichte und Herkunft seiner Großeltern an. Zur Rekonstruktion von Davids Vergangenheit schrieb Colapinto:

„...verschloß mir David keine Tür und versperrte mir keinen Weg. Im Laufe von zwölf Monaten stand er mir über 100 Stunden lang für Interviews zur Verfügung, er unterschrieb Vollmachten, mit denen er mir Zugang zu einer Vielzahl von Dokumenten, Therapieaufzeichnungen, Berichten der Erziehungsberatungsstelle, IQ-Tests, Krankenakten und psychologischen Gutachten gewährte, die sich im Laufe seiner Kindheit angehäuft hatten.

Er war mir behilflich, die Lehrer und Mitschüler ausfindig zu machen, die ihn als Kind gekannt hatten – eine aufwendige detektivische Spürarbeit, weil er nichts aus seiner Schulzeit aufbewahrt hatte, sich nur noch an wenige Familiennamen seiner Mitschüler erinnern und in den vergangenen 15 Jahren jedem aus dem Weg gegangen war, der ihn in seiner vorherigen Existenz als Mädchen gekannt hatte. ...Nur dem Mut der Familie Reimer ist es zu verdanken, daß jetzt endlich die ganze Geschichte von John/Joan erzählt werden kann.

‚Meine Eltern fühlen sich schuldig, als sei das Ganze ihr Fehler gewesen‘, erklärte mir David bei meinem ersten Besuch in Winnipeg. ‚Aber das stimmt ja nicht. Was sie taten, geschah aus guter Absicht, aus Liebe und Verzweiflung. Und wenn man verzweifelt ist, macht man nicht unbedingt alles richtig.‘“ (Colapinto, 2000 S.14)

Colapinto hatte Gelegenheit, mit Davids Großmutter persönlich zu sprechen und so Schilderungen aus „erster Hand“ über Davids Vater zu erhalten.

„Hier fand Peter [Davids Großvater] Arbeit in einem Schlachthaus, während Helen [Davids Großmutter] die vier Kinder aufzog.

Ron [Davids Vater], der älteste Sohn, war ein pflichtbewußter, hart arbeitender Junge. Die für ihn typische Mischung aus Zurückhaltung und verbissenem Fleiß verblüffte selbst seine Mutter immer wieder. ‚Er war so ein schüchternes und ruhiges Kind‘, erinnert sich Helen Reimer, ‚aber er war auch sehr umtriebig. Ich mußte mir immer etwas einfallen lassen, um ihn vor Schwierigkeiten zu bewahren. Ich brachte ihm das Kochen bei. Er wollte immer etwas mit Essen und Kochen machen.‘ Diese Vorliebe bewahrte er sich sein Leben lang.“ (ebd., S.17 f.)  

In diesen Zitaten sind bereits eine Reihe von Merkmalen für die Biografiearbeit enthalten, die  im folgenden stichpunktartig aufgezählt werden:
- Persönliche Daten wie Namen oder Orte dürfen nur mit Einverständnis der Befragten authentisch wiedergegeben werden,
- alle denkbaren Quellen zur Rekonstruktion der Biografie nutzen,
- wenn möglich, persönliche Interviews mit an der Geschichte Beteiligten führen,
- Mitschnitte oder wörtliche Aufzeichnungen der Schilderungen von Zeitzeugen anfertigen.

Colapinto hat diese Merkmale konsequent berücksichtigt und folgendermaßen begründet:

„Sämtliche Dialoge basieren wortwörtlich auf Tonbandmitschnitten psychodiagnostischer Gespräche, auf zeitgenössischen Aufzeichnungen von Therapiesitzungen und auf Berichten von Zeugen und Betroffenen. Kein Dialog und keine Szene wurde um des ‚Erzählflusses‘ willen hinzuerfunden oder ergänzt, um eine vermeintlich romanhafte ‚Atmosphäre‘ zu schaffen." (ebd., S.7)

Fortgesetzt wird die Darstellung der Geschichte von Davids Eltern mit seiner Mutter.

„Wie Ron war auch Janet in Winnipeg aufgewachsen. Sie war das älteste Kind mennonitischer Eltern, die wie viele andere nach dem Krieg aus der Prärie in die Stadt abgewandert waren. Janet wurde in dem Viertel St. Vital groß und war lebhaft und wißbegierig. Ihre Leidenschaft für Bücher (...) eröffnete ihr eine Lebensperspektive jenseits der traditionellen Wertvorstellungen ihrer Eltern, insbesondere ihrer Mutter, mit der sie ständig Streit hatte. ‚Ich wollte etwas lernen, aber meine Mutter bestand darauf, daß ich arbeitete und Geld nach Hause brachte‘, sagt Janet. Schließlich mußte sie nach der neunten Klasse die Schule abbrechen und als Näherin in einer Fabrik arbeiten. ... Die Kluft zwischen Mutter und Tochter vertiefte sich, als Janet sich weigerte, den Gottesdienst in der Mennonitenkirche zu besuchen.

‚Ich fand es so bedrückend‘, sagt sie. ‚Ich konnte mir nicht vorstellen, daß das den Grundsätzen der Bibel entsprach. Sie sagten, Lächeln sei eine Sünde. Das konnte ich nicht akzeptieren.‘ ... Da die Eltern das Gefühl hatten, daß ihr ältestes Kind, ihre einzige Tochter, sich ihrer Aufsicht auf gefährliche Weise entzog, schlossen sie sich ebenso wie die Eltern von Ron Reimer dem Strom der mennonitischen Rückwanderer von der Stadt aufs Land an.“ (ebd., S.19 f.)

Es folgt die Schilderung des Kennenlernens von Davids Eltern, ihr gemeinsamer Weg mit eigener Wohnung, Hochzeit und schließlich Janets Schwangerschaft. Die Geburt der Zwillinge Bruce (später David) und Brian wird folgendermaßen beschrieben:

„Am 22. August 1965, vier Wochen vor dem eigentlichen Entbindungstermin, wurde Janet ins St.-Boniface-Krankenhaus eingeliefert. ... Nach mehreren Stunden kam eine Krankenschwester herein und verkündete, alles sei gut verlaufen und er sei Vater von eineiigen Zwillingen. ... Als er jetzt den Gang entlang in den Säuglingssaal eilte, um seine Kinder zu sehen, kam ihm eine Krankenschwester entgegen, die ihm lächelnd zurief: ‚Junge oder Mädchen?‘

‚Ich weiß nicht!‘ rief Ron zurück. ‚Ich weiß nur, daß es zwei sind.‘“ (ebd., S.22)

Ein weiteres für die Biografiearbeit wichtiges Merkmal wird an diesen Zitaten deutlich. Es ist die Einhaltung der Chronologie bei der Darstellung der Biografie.  

Mit der Schilderung der Geburt beginnt Davids Biografie.

Fast unmittelbar schließt Colapinto das dramatische Operationsunglück an, dessen Verlauf er wie folgt beschreibt:

„Kurz nach dem siebten Lebensmonat bemerkte sie [die Mutter], daß die Zwillinge beim Wasserlassen Schmerzen hatten. ... Sie untersuchte den Penis und sah, daß die Öffnung der Vorhaut verklebt war und so das Wasserlassen erschwert war. Daraufhin brachte sie die Zwillinge zum Kinderarzt, der ihr erklärte, es handle sich um eine sogenannte Phimose, durchaus keine seltene Erkrankung, die durch eine Zirkumzision, eine Vorhautbeschneidung, ohne weiteres behoben werden könne. Janet besprach die Sache mit Ron und beschloß dann, im St.-Boniface-Krankenhaus an dem Jungen eine Vorhautbeschneidung vornehmen zu lassen.

Die Operation war auf den Morgen des 24. April angesetzt, ...Abgesehen von der normalen elterlichen Sorge vor einem solchen Eingriff hatten Ron und Janet keine besonderen Bedenken. ... Mitte der sechziger Jahre kamen dort [im St.-Boniface-Krankenhaus] jährlich rund 2600 Babys zur Welt, und es wurden rund 1000 Vorhautbeschneidungen durchgeführt, ohne daß es je zu Unfällen gekommen war.

‚Wir machten uns keine Sorgen‘, sagt Janet. ‚Wir wußten gar nicht, daß wir Anlaß zur Sorge hatten.‘

Am Morgen des 27. April jedoch, ...,war aus heute nicht mehr zu ermittelnden Gründen der diensthabende Arzt nicht im Haus. Der Eingriff sollte daher von Dr. Jean-Marie Huot vorgenommen werden, einem 46-jährigen praktischen Arzt. ...

Über das, was dann passierte, sind in den Quellen leicht differierende Angaben zu finden. In den Gerichtsakten zur Ermittlung gegen den Operateur, das Krankenhaus und drei diensthabende Krankenschwestern ist von einer ‚Arterienklemme‘ die Rede, die jenes Stück Vorhaut fixieren sollte, das entfernt werden sollte. Eine Arterienklemme aber war bei einem solchen Eingriff ein eher unübliches Instrument. Dr. Cham zufolge, mit dem ich im Winter 1997 sprach, benutzte Dr. Huot die übliche Gomco-Klemme. ... Unabhängig von der Frage, welche Klemme benutzt wurde, besteht kein Zweifel, daß Dr. Huot zur Resektion von Bruce‘ Vorhaut kein Skalpell, sondern einen Elektrokauter verwendete, ... – was relativ überflüssig war, falls Huot tatsächlich eine Gomco-Klemme verwendete. Und es war überdies gefährlich, weil auf diese Weise elektrischer Strom dem Penis bedrohlich nahe kam und von der Metallglocke weitergeleitet werden konnte, die das Geschlechtsorgan umschloß.

Späteren Zeugenaussagen des im Operationssaal anwesenden Personals zufolge wurde der Elektrokauter eingeschaltet und die Anzeige, die die Temperatur der Nadel reguliert, auf das Minimum gestellt. Dr. Huot berührte mit der Nadel Bruce‘ Vorhaut. ... Ob aufgrund einer mechanischen Fehlfunktion oder aufgrund falscher Handhabung trennte die Nadel die Haut nicht durch. Die Stromstärke wurde erhöht. Erneut wurde das Gerät der Vorhaut angenähert, und erneut versagte der Mechanismus. Daraufhin wurde die Stromstärke des Elektrokauters weiter erhöht.

‚Ich hörte ein zischendes Geräusch‘, erinnert sich Dr. Cham, ‚wie wenn ein Steak angebraten wird.‘

Ein Rauchkringel stieg aus der Leistengegend des Babys auf. Geruch von gegrilltem Fleisch erfüllte die Luft.“ (ebd., S.23 ff.)

Die Beschreibung dieses Vorfalles offenbart ein weiteres Merkmal der Biografiearbeit. Es ist die sachliche Darstellung von Informationen ohne Wertungen und Interpretationen durch den Biografen.

Die folgenden Zitate sollen das Merkmal des „Privilegs des ‚Zeugen‘“ (vgl. Fuchs-Heinritz, 2000 S.46) veranschaulichen. Es geht darum, der/dem Befragten zuzugestehen, ihre/seine Geschichte so darstellen und bewerten zu dürfen, wie sie/er es erlebt und empfunden hat.

„Janet sah durchaus die Vorteile, die die Verwandlung ihres Sohnes in eine Tochter hatte. ‚Ich hatte damals nicht viel Ahnung‘, sagt sie, ‚und ich dachte, Frauen seien das sanftere Geschlecht. Zu unrecht. Seither habe ich gelernt, daß Frauen unverwüstlich und zäh sind. Meiner Erfahrung nach sind Männer das bei weitem sanftere Geschlecht. Aber ich dachte, bei seiner Verletzung wäre es für Bruce einfacher, als Mädchen aufzuwachsen, eben sanft aufzuwachsen. Er würde nichts beweisen müssen wie ein Mann.‘

Auch Ron sah die Vorteile einer Geschlechtsumwandlung. ‚Man weiß ja, wie kleine Jungs sind‘, sagt Ron. ‚Wer kann am weitesten pinkeln? Den Pimmel herausholen und gegen den Zaun pinkeln. Da würde Bruce nicht mitmachen können, und dann würden sich die anderen Jungs fragen, wieso nicht.‘ Und dann natürlich Bruce‘ Sexualleben. Ron mochte sich die Demütigung und die Zurückweisungen gar nicht vorstellen, die sein Sohn würde erdulden müssen. ...Kurz nach der Rückkehr der Reimers aus Baltimore und nicht lange vor dem zweiten Geburtstag der Zwillinge zog Janet Brenda [vorher Bruce] zum ersten Mal ein Kleidchen an, das sie aus dem weißem Satin ihres Hochzeitskleides genäht hatte. ‚Es war besonders hübsch und mit Spitzen versehen‘, erinnert sich Janet. ‚Sie zerrte daran herum und versuchte, es sich vom Leib zu reißen. Ich weiß noch, daß ich dachte: O mein Gott, sie weiß, daß sie ein Junge ist, und will keine Mädchenkleider tragen. Sie möchte kein Mädchen sein. Aber dann dachte ich: Vielleicht kann ich ihr beibringen, ein Mädchen sein zu wollen. Vielleicht kann ich sie dazu erziehen, daß sie ein Mädchen sein will.‘“ (ebd., S.63 ff.)

Weitere Merkmale lassen sich aus Aichhorns Buch “Verwahrloste Jugend“ herausfiltern. Er analysiert anhand verschiedener Beispiele aus seiner Arbeit in der Fürsorgeerziehung die Möglichkeiten der Psychoanalyse für die professionelle erzieherische Praxis.

Durch Interviews mit den an einzelnen Situationen Beteiligten verschafft Aichhorn sich einen Überblick über die Hintergründe der Ereignisse. Hat er für sein Dafürhalten genügend Informationen gesammelt, beginnt die Deutung und in Ansätzen die Analyse des Gehörten. Dieses Merkmal der Biografiearbeit erfordert ein hohes Verantwortungsbewußtsein des Biografen, da er seine persönliche Subjektivität fortlaufend mit berücksichtigen muß.

An dem nun folgenden Beispiel soll die Herangehensweise Aichhorns veranschaulicht werden, an der sich biografische Arbeit auch in anderen Zusammenhängen orientieren kann.

„In der Erziehungsberatung erscheint der leitende Beamte eines Fabrikbetriebes mit seinem siebzehnjährigen Sohne, einem Schuhmachergehilfen, und ersucht, diesen in einer Anstalt unterzubringen, weil er ihn infolge seiner Aufführung nicht mehr in Freiheit belassen könne. Aus dem Gespräche mit dem Vater ergeben sich folgende wesentliche Einzelheiten.

Sein Sohn Hans war bis zum Sommer des Vorjahres ein sehr braver Junge gewesen, der weder zu Hause noch auf dem Arbeitsplatze Anlaß zu Klagen gegeben hatte. Eines Tages bat er den Vater um 70.000 Kronen, da er bei seinem Meister ein Stück Leder auf Schuhe und das nötige Zubehör billiger bekommen könne, um davon in der Werkstätte für sich ein Paar Schuhe anzufertigen. (Der Junge war um diese Zeit noch Lehrling.) Er erhielt den Betrag, kam abends nicht nach Hause und eine Anfrage am nächsten Tage beim Meister ergab, dass er der Arbeitsstätte ferne geblieben war. Da er sich noch nie so aufgeführt hatte, wurde die Familie ausserordentlich besorgt, befürchtete einen Unfall und hielt auch ein Verbrechen an ihm nicht für ausgeschlossen. Die Abgängigkeitsanzeige wurde erstattet und täglich bei der Polizei Erkundigung eingezogen.

Am sechsten Tage erhielt die Mutter Auskunft, dass er mittellos in Graz aufgegriffen worden und schon auf dem Wege nach Wien sei. Die Wiedersehensfreude war groß, aber infolge seines sehr geänderten Benehmens rasch vorüber. Der Junge blieb wortkarg und als der Vater wissen wollte, warum er nicht in der Arbeit gewesen war, und wo er die Woche über sich aufgehalten habe, nahmen Verstocktheit und Trotz zu, mehr als dass er in Graz gewesen sei, war aus ihm überhaupt nicht herauszubekommen.“ (Aichhorn, 1965 S.84 f.)

Der Vater wurde dann handgreiflich und die Situation spitzte sich im Laufe des Jahres zu. Ein Wechsel von Gütigkeit und Strenge brachte keine Besserung und der Familienfrieden war gestört.

Aichhorn bat den Jugendlichen zu einem persönlichen Gespräch, welches er mit einer vertrauensbildenden Maßnahme einleitete. Er schlug dem Jugendlichen vor, ihm auf jede Frage, die ihm unangenehm sei, die Antwort zu verweigern. Nachdem dieser, anfangs etwas mißtrauisch, auf den Vorschlag einging, begann das eigentliche Gespräch, welches er im Anschluß wörtlich aufzeichnete und das auch hier so wiedergegeben wird.

„ ‚Aus welcher Schulklasse bist du ausgetreten?‘ – ‚Aus der dritten der Realschule.‘
‚Warum bist du nicht weiter in die Schule gegangen?‘ – ‚Ich bin in drei Gegenständen durchgefallen und da wollte ich nicht mehr weiter lernen.‘
‚War denn der Vater so ohne weiteres damit einverstanden?‘ – ‚Ihm wäre es lieber gewesen, wenn ich die Klasse repetiert hätte.‘
‚Wieso bist du gerade auf die Schuhmacherei gekommen?‘ – ‚Mein Großvater ist Schuhmachermeister und ich wollte auch einer werden.‘
‚Da du Realschüler gewesen bist, kennst du die Geschichte von der schiefen Ebene; wenn man auf der sitzt, rutscht man herunter. Mich interessiert daher gar nicht, was alles war, sondern nur der Anfang. Warum bist du nach Graz gefahren?‘ – ‚Das weiss ich nicht!‘
‚Es muss doch einen Grund gehabt haben, warum du gerade nach Graz gefahren bist. Du hättest ja geradeso gut nach Linz oder Salzburg fahren können, warum also nach Graz?‘ – ‚Ich weiss es wirklich nicht!‘
‚Es ist doch noch nicht gar so lange her, nicht einmal ein Jahr. Denke einmal nach, vielleicht fällt es dir doch ein?‘ – ‚Vielleicht, weil mein Bruder im Vorjahr mit einer Ferienkolonne in Graz gewesen ist...‘ (Hier zögert er merklich, bleibt aber schweigsam.)
‚Willst du mir nicht noch etwas sagen?‘ (Diese Frage stelle ich erst nach einigem Zuwarten, als ich merke, dass ein innerer Kampf nicht zum Abschluss kommen will.) - ‚Wenn Sie mir versprechen, dass Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, nicht dem Vater sagen, dann sage ich Ihnen etwas!‘ (Das spricht er, unterbrochen von heftigem Schluchzen, nachdem er mir auf die vorhergehende Frage einen Augenblick voll ins Gesicht gesehen hat, mit zur Erde geneigtem Kopf.)
‚Da hast du meine Hand darauf, dass darüber nicht gesprochen wird.‘ (Er nimmt sie und drückt sie heftig.) – ‚Ich habe mich umbringen wollen.‘
‚Wann?‘ – ‚Voriges Jahr im Sommer.‘
‚Bevor du dem Vater die 70.000 Kronen herausgelockt hast oder nachher?‘ – ‚Vorher.‘
‚Warum?‘ – ‚Mein Bruder ist mit der Mutter zu einer Tante in die Tschechoslowakei gefahren und ich bin doch nur der Schuhmacherlehrling und habe daheimbleiben müssen. Ich bin noch acht Tage in die Arbeit gegangen, dann drei Tage nicht mehr und habe Angst bekommen, dass es mein Vater erfahren wird. Da habe ich mich umbringen wollen.‘
‚Hast du einen Selbstmordversuch gemacht?‘ – ‚Nein! Ich habe mir gedacht, ich fahre fort und komme nicht mehr zurück, habe mir vom Vater das Geld geholt und bin nach Graz gefahren. Wie das Geld weg war, habe ich nicht gewußt, was ich machen soll und bin wieder nach Hause gefahren. Zu Hause hat es dann einen fürchterlichen Krach gegeben und seit dieser Zeit freut mich nichts mehr.‘ ...“ (ebd., S.87 f.)

Die Ausführlichkeit des Gespräches macht deutlich, wie tief man zeitweilig in die Biografie eines Menschen „einsteigen“ muß, um aktuelle Handlungen nachvollziehen, deuten und/oder interpretieren zu können. Da der Vater sich nach weiteren Gesprächen als zu ungeduldig mit Hans herausstellte und  nach anfänglicher Besserung neue Konflikte aufflammten, bot sich Aichhorn selbst weiter als Kontaktperson für den Jungen an. Er nutzte das Element der Übertragung aus der Psychoanalyse, um Hans zu ermöglichen, seinen Konflikt mit dem Vater zu bewältigen. Aichhorns Überlegungen zum vorliegenden Fall stellte er folgendermaßen dar:

„Leicht begreiflich ist, dass ein Junge, der als Folge seiner Verwahrlosungsäusserungen immer strenge Behandlung von seiner Umgebung erfuhr, misstrauisch werden muss, wenn dieselben Personen – in unserem Falle der Vater – plötzlich ein vollständig geändertes Verhalten zeigen. Die Gesinnungsänderung wird nicht geglaubt und daher durch neue Streiche erprobt. Erst wenn die Strafe dauernd ausbleibt, ist sie wirklich eingetreten. Der Dissoziale gibt sich daher nicht zufrieden, wenn die in Frage Kommenden anfänglich milde und verzeihend sind, er reizt sie durch ärgere Verwahrlosungserscheinungen. Statt das zu verstehen, nehmen es die Eltern als Beweis, dass durch Güte nichts zu erreichen ist. Mit der nun wieder einsetzenden strengen Behandlung ist der alte Zustand hergestellt, und niemals Besserung zu erwarten.

... Erst wenn alle Provokation vergeblich bleibt, bricht der Aufbau, der die Verwahrlosung hält, zusammen und nach und nach kommt es zu einem wellenförmigen Ablaufen der Verwahrlosungserscheinungen. ... Ich sehe, dass der Vater infolge seiner eigenen Gefühlskonstellation nicht in der Lage ist, erzieherisch erfolgreiche Arbeit zu leisten, muss ihn daher als Heilfaktor ausschalten und versuchen, ohne ihn auszukommen.“ (ebd., S.91 f.)

Die Deutung der Geschehnisse geht bei Aichhorn bis in Hans‘ frühe Kindheitsgeschichte, die hier ausgespart bleibt, da sie zur Erhellung dieses Merkmals der Biografiearbeit nicht vonnöten ist.

Zusammenfassend seien die der Fachliteratur herausgearbeiteten Merkmale der Biografiearbeit noch einmal aufgezählt:
- persönliche Daten nur mit Einverständnis der Befragten authentisch wiedergeben,
- alle Quellen nutzen,
- persönliche Interviews führen,
- Mitschnitte oder wörtliche Aufzeichnungen anfertigen,
- Chronologie der Biografie,
- Sachliche Darstellung,
- Privileg des Zeugen,
- Deutung und Analyse.

Diese Aufzählung von Merkmalen hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, da sie aufgrund meiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema entstanden sind.

IV. Psychologisches Grundkonzept

Das wichtigste psychologische Grundkonzept der Biografiearbeit ist die Identitätstheorie. Das bedeutet, daß Biografiearbeit als eine Methode genutzt werden kann, Ereignisse und Situationen im Leben eines Menschen aufzuspüren, die die Entwicklung seines positiven Selbstgefühls behinderten und ihm so zu ermöglichen, seine Selbstwahrnehmung zu korrigieren und eine tragfähige Identität zu entwickeln.

Erikson schreibt zum Begriff der Identität:

„Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsache des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität dieser Existenz.“ (Erikson, 1981 S.18)

Diese beschriebene Ich-Qualität kann gestört sein, indem die eigene Gleichheit und Kotinuität nicht wahrgenommen wird oder werden kann. Dazu können Ereignisse in der Biografie, z.B. körperliche Gewalt oder andauernd fehlende Zuwendung führen. Die Störung kann ebenso durch die fehlende Wahrnehmung der Gleichheit und Kontinuität durch andere entstehen, indem diese (anderen) z.B. die Bedürfnisse des Kindes permanent mißachten oder ihm vorgeben, wie es zu sein hat. Im schlimmsten Fall treffen Faktoren aus beiden Bereichen zusammen, was letztlich zu einer gestörten Identität führt.

„Jedes Kind hat eine ganze Anzahl von Möglichkeiten, sich mehr oder weniger versuchsweise mit realen oder phantasierten Menschen beiderlei Geschlechts und auch mit Gewohnheiten, einzelnen Zügen, Berufen und Ideen zu identifizieren. Aber die geschichtliche Periode, in welcher es lebt, liefert ihm nur eine beschränkte Anzahl sozial bedeutungsvoller Modelle, in welchen es seine Identitätsfragmente zu einem leistungsfähigen Ganzen zusammenfügen kann. Ihre Brauchbarkeit hängt davon ab, ob sie zugleich die Erfordernisse der Reifungsphase erfüllen, in der sich der Organismus befindet, und der Art und Weise entsprechen, wie das Ich seine Synthese zu finden pflegt.

Die schier verzweiflungsvolle Intensität der Symptome vieler Kinder drückt die Notwendigkeit aus, eine eben sich bildende Ich-Identität zu verteidigen, von der das Kind hofft, daß sie die raschen Wandlungen auf allen Gebieten seines Lebens in sich aufnehmen könne. Was dem Beobachter wie ein besonders heftiger Ausdruck nackter Triebhaftigkeit erscheint, ist oft nur der Hilferuf, man möge ihn, den jungen Menschen, auf dem einzig möglichen Wege Synthese und Sublimierung finden lassen.“ (ebd., S.22)

Weiter schreibt Erikson, daß Kindern die Annahme von unterstützenden Angeboten nur gelingen wird,

„...wenn wir ihnen helfen, die fehlenden Bestandteile zur erfolgreichen Bildung ihrer eigenen Ich-Identität zu finden.“ (ebd., S.22)

Um diese fehlenden Bestandteile aufspüren zu können, ist es notwendig, alle eine Biografie beeinflussenden Faktoren zu berücksichtigen und möglichst umfassende Informationen darüber zu erhalten.

„Man muß daher die Kindheitsgeschichte des Patienten in Zusammenhang sehen mit der Sozialgeschichte des Familienwohnsitzes, ...; dazu die Wanderungen der Familie [bezogen auf „Leitbilder erzeugende Gebiete“] ...; ferner die religiösen Bindungen der Familie, Konversionen und Diversionen mit ihrer Klassenbedeutung; mißglückte Versuche, einen bestimmten sozialen Status zu erringen, den Verlust oder die Aufgabe dieses Standards; und vor allem jene individuellen oder familiären Bereiche, die unabhängig davon, was man tat oder wo man es tat, das letzte starke Gefühl kultureller Identität erzeugten.“ (ebd., S.31)

Welche Faktoren sind nun aber notwendig für die Entwicklung einer gesunden Identität? Erikson  zieht hierzu Freud heran, der als Quellen des Selbstgefühls folgende nennt:
„1. Reste des kindlichen Narzißmus;
2. durch Erfahrung bestätigte Allmacht (die Erfüllung des Ich-Ideals);
3. Befriedigung der Objektlibido.“ (ebd., S.40)

Wie diese Faktoren zu Quellen einer gesunden Identität werden können erläutert Erikson daran anschließend.

„...wenn ein Rest des kindlichen Narzißmus überleben soll, muß die Umgebung, vor allem aber die Mutter, diesen Narzißmus mit ihrer Liebe aufgebaut und gespeist haben, so daß dem Kinde die Gewißheit erwächst, es sei etwas Gutes, in den sozialen Koordinaten zu leben, in die es zufällig hineingeboren wurde. ...

Wenn Teile des kindlichen Allmachtsgefühls durch Erfahrung bestätigt werden sollen, muß die Erziehung nicht nur zur Gesundheit aller Sinne und zur fortschreitenden Meisterung der Fähigkeiten des Kindes hinleiten, sondern sie muß auch eine erreichbare soziale Prämie für Gesundheit und Meisterung auswerfen. ... Das mit der Ich-Identität verbundene Selbstgefühl enthält die Vorstellung einer erreichbaren Zukunft.

Damit Befriedigung aus der ‚Objektlibido‘ erfahren werden kann, muß zur genitalen Liebe und zur orgastischen Potenz die wirtschaftliche und gefühlsmäßige Sicherheit hinzutreten, denn nur in einer solchen Synthese hat der volle Funktionskreis, der Genitalität, welcher Empfängnis, Schwangerschaft und Aufzucht der Kinder umfaßt, einen Sinn. ... ; aber die gegenseitige genitale Liebe blickt in die Zukunft. Sie wirkt auf eine Arbeitsteilung in der Lebensaufgabe hin, ...“ (ebd., S.40 f.)

Ausgehend von diesen Faktoren als Quellen einer gesunden Identität, dient Biografiearbeit dazu, durch Sammlung und Sichtung von Daten, Fakten und Lebensereignissen herauszufinden, in welchen Bereichen der (kindlichen) Entwicklung die Identitätsbildung nicht reibungslos verlief.

Entsprechend den somit vorhandenen Informationen, kann die Hilfe auf die eingangs erwähnte Korrektur der Selbstwahrnehmung ausgerichtet werden. In Folge verstärkt sich auch die gefühlsmäßige und wirtschaftliche Sicherheit und die Vorstellung von einer erreichbaren Zukunft. 

V. Spezielles Konzept zu den Wirkmechanismen der Biografiearbeit

Die Wirkmechanismen von Biografiearbeit im Sinne der unter 1. gegebenen Definition darzustellen und zu analysieren, ist die Aufgabe des folgenden Kapitels und erfolgt anhand verschiedener Fragestellungen.

Eine grundlegende Frage der Biografiearbeit ist die Frage: Woher komme ich?, deren Bedeutung im folgenden erläutert werden soll.

In der Mehrzahl der Fälle haben Kinder die Möglichkeit, sich bei Bedarf in ihren Herkunftsfamilien über ihre Vergangenheit zu informieren. Diese Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftsgeschichte ist eine wichtige Grundlage für Kinder, sich emotional und sozial entfalten und so eine gesunde Identität entwickeln zu können.

In jenen Fällen, in denen Kinder jedoch aus unterschiedlichsten Gründen von ihrer originären Familie getrennt leben (müssen), sind Rückfragen zu ihrer Vergangenheit unterbrochen oder unmöglich geworden.

Dann wird es notwendig, daß andere Personen wie HeimerzieherInnen, SozialarbeiterInnen, Pflegeeltern möglichst umfassende Informationen über die Geschichte des Kindes und seiner Familie zusammentragen, um sie ihm bei Bedarf  vermitteln zu können.

Wie können nun Informationen über die Familiengeschichte die Entwicklung des Kindes beeinflussen? Ryan und Walker schreiben dazu in ihrem Buch „Wo gehöre ich hin“:

„Wenn Erwachsene diese Vergangenheit nicht mit ihnen besprechen (können), ist es für Kinder naheliegend anzunehmen, sie könnte sehr schlimm sein. ... Das gemeinsame Zusammentragen der Tatsachen dieses Lebens und der wichtigsten Personen darin hilft ihnen zu beginnen, ihre Vergangenheit anzunehmen und mit diesem Wissen in die Zukunft zu gehen. ... Von ihren leiblichen Eltern getrennte Kinder, ..., müssen die Frage klären, warum sich die Trennung ereignete und warum verschiedene Erwachsene nicht in der Lage waren, für sie zu sorgen. ... Für die Kinder, ..., ist das Recht auf dieses Wissen ... wichtig, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch für ihre zukünftigen Kinder.“ (Ryan/Walker, 1997 S.13 f.)

Biografiearbeit ist also hier als eine Form der Zusammenarbeit zwischen Kindern und Erwachsenen zu verstehen, die zur Identitätsbildung und –korrektur der Kinder beitragen soll, um ihnen, wie Kindern, die in Ursprungsfamilien aufwachsen, eine emotionale und soziale Entfaltung zu ermöglichen.

Weshalb häufig eine Korrektur des Selbstbildes der Kinder wichtig ist, beschreiben Ryan und Walker wie folgt:

„... denn traurigerweise ist im Hinterkopf  von fast allen von ihren leiblichen Familien getrennten Kindern der Gedanke, sie seien wertlos und nicht liebenswert. Sie beschuldigen sich selbst für Handlungsweisen von Erwachsenen. Wurden sie von ihren Eltern oder Angehörigen verlassen, vernachlässigt oder verletzt, sind sie überzeugt, dass sie es selbst verschuldet haben. ... Schlimmstenfalls kann ein schwaches Identitätsgefühl Kinder ‚lähmen‘, sodass sie übermäßig an der Vergangenheit hängen und sich nicht dazu bewegen können, an die Zukunft zu denken. Es kann Apathie und eine depressive, fatalistische Einstellung verursachen.“ (ebd., S.15 f.)

Eine nächste, für die Verarbeitung der Familiengeschichte bedeutsame Frage lautet: Kann ich meine Geschichte so annehmen?

Um dem Kind zu ermöglichen, diese Frage positiv zu beantworten, ist es von  Bedeutung, wie ihm seine Geschichte nahegebracht wird. Dazu gehört eine einfühlsame, auf  den Entwicklungsstand des Kindes abgestimmte und seinem Informationsbedürfnis zuträgliche Herangehensweise.

Ryan und Walker geben Hinweise, die zum Gelingen einer annehmenden Verarbeitung der Familiengeschichte beitragen können.

„Beim Gespräch über ihre leibliche Familie zum Beispiel ist es wichtig, die positive Seite zu betonen, obwohl man ihnen in geeigneten Worten die Wahrheit über ihre Familie sagt und warum sie nicht dort leben (wie schmerzlich das auch sein mag). Man sollte über ihre leiblichen Eltern in einer nicht-wertenden Weise sprechen. ... Es liegt in der Verantwortung des Erwachsenen, Wege zu finden, die es dem Kind ermöglichen, über sein Leben zu sprechen; man sollte es vermeiden, die eigene Betrachtungsweise aufzudrängen. Genauso, wie man es nicht zulassen sollte, offensichtlich falsche Informationen aufzuzeichnen, gilt es ebenso zu vermeiden, das Ruder zu übernehmen und somit die ‚beeinflusste Version‘ vom Leben eines Kindes zu produzieren. ... Es ist auch wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass die Aufzeichnung verändert werden kann.“ (ebd., S.15 ff.)

Um den Erfolg des Kindes, seine Geschichte annehmen zu können, nicht zu gefährden, scheint es nach meiner Erfahrung von großer Bedeutung zu sein, daß ihm das Gefühl vermittelt wird, sich seiner Herkunft und Vergangenheit nicht schämen zu müssen. Offenheit ohne Brutalität und Anpassung an das Tempo des Kindes sind dabei hilfreich und schaffen Vertrauen für weitere Schritte.

Für Kinder, die getrennt von ihrer originären Familie leben, wird sich die Frage stellen: Wie vermittle ich mich meiner Umwelt? Denn die schmerzliche Erfahrung der Trennung und das Leben in anderen Zusammenhängen unterscheiden sie von der Mehrzahl der Kinder.

Auch in dieser Frage wird Biografiearbeit Kindern eine wertvolle Hilfe sein, um mit ihrem Status des „Andersseins“ entspannt umgehen zu können. Neue Bezugspersonen werden häufig erst einmal ausgetestet, ob sie sich als vertrauenswürdig erweisen. Zahlreiche Fragen, die alle einen Teil der Frage nach der Vermittlung an die Umwelt beinhalten, werden im Kind bewußt oder unbewußt auftauchen – selten aber so gestellt werden: Werde ich mit meiner Scham und Verunsicherung in der neuen Lebenssituation ernst genommen und mitfühlend behandelt? Merken Klassen- oder Kitakameraden, daß ich nicht mehr bei meinen leiblichen Eltern lebe? Sollte ich es ihnen erzählen und wenn, wie werden sie reagieren? Was soll ich anderen über meine Eltern erzählen? Muß ich mich jetzt anders benehmen als vorher?

All diese Fragen werden an Bedeutung verlieren, je sicherer sich das Kind in seinem neuen Umfeld bewegt. Gelingt die einfühlsame Vermittlung  der Geschichte gegenüber dem Kind und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihm, dann wird es Antworten auf die Frage, wie es sich seiner Umwelt vermitteln soll, finden.

Dennoch ist die stetige behutsame Begleitung des Kindes in seiner neuen Umgebung angebracht, um ihm bei der Bewältigung der „ungestellten Fragen“ unterstützend zur Seite zu stehen. Dazu gehört unter Umständen die Information von LehrerInnen und ErzieherInnen über seine Situation, ohne das Kind zu kompromittieren oder auch ein gemeinsames Gespräch mit dessen Kameraden über seine Situation.

Auch die Frage: Wie werde ich von anderen wahrgenommen? ist von Bedeutung in der Biografiearbeit mit Kindern.

Ein Satz von Erikson soll veranschaulichen, was unter Umständen passieren kann, wenn die Fremdwahrnehmung nicht mit der eigenen, stark verunsicherten Wahrnehmung harmoniert:

„So mancher Jugendliche [und auch manches Kind] der von seiner Umgebung zu hören bekommt, er sei ein geborener Strolch, ein komischer Vogel oder Außenseiter, wird erst aus Trotz dazu.“ (Erikson, 1981 S.110)

Insbesondere Kinder, die nicht in ihrer originären Familie leben und deshalb in ihrer Identität verunsichert sind, greifen möglicherweise zu Mitteln, um auf sich aufmerksam zu machen, die im herkömmlichen Sinne nicht legal oder zumindest nicht gesellschaftsfähig sind. Die Anwendung dieser Mittel führt dazu, daß sie von anderen abgelehnt werden. Häufig geben sie sich die Schuld für die Trennung von ihrer Familie und halten sich deshalb für nicht liebenswert. Dies wollen sie nun von anderen immer wieder bestätigt haben.

Biografiearbeit kann einen wertvollen Beitrag dazu leisten, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Indem das Kind seine Geschichte besser kennenlernt, kann es begreifen, daß es nicht Schuld an der Trennung von seiner Familie ist. Es wird infolgedessen nicht mehr ständig ein Verhalten produzieren, das Ablehnung in seinem neuen Umfeld hervorruft. Und es wird erkennen, daß sein Umfeld es nicht um seiner selbst willen ablehnt, sondern wegen seines Verhaltens.

Andererseits kann Biografiearbeit auch nach außen wirken, wie bei der vorangegangenen Frage schon erörtert, um die Wahrnehmung anderer auf das Kind zu relativieren bzw. korrigieren..

Abschließend steht eine letzte Frage und deren Wirkung in der Biografiearbeit an: Wie wirkt der Biograf als biografisches Ereignis?

Gemäß der Definition von Biografiearbeit ist der Biograf bei dieser Methode kein Mensch, der über die Biografie eines anderen arbeitet. Der Biograf arbeitet mit einem Menschen an seiner Biografie. Demzufolge wird er in dieser Arbeit ein Bestandteil der Biografie selbst.

In einen solchen Zusammenhang gebracht, hat der Biograf eine große Verantwortung für das ihm vom Kind entgegengebrachte Vertrauen. Er muß eine Mittlerfunktion zwischen der Geschichte und der Gegenwart des Kindes erfüllen. Seine Aufgabe ist es, dem Kind Informationen aus seiner Familiengeschichte zu übermitteln, die ihm (dem Kind) nicht zugänglich waren. Dieser Prozeß muß so behutsam erfolgen, daß das Kind nicht überfordert, ihm aber dennoch nichts vorenthalten wird.

Eine weitere Aufgabe des Biografen ist die vertrauensvolle Annahme von Informationen des Kindes aus seiner Vergangenheit. Dabei ist es wichtig, seine Sichtweise anzunehmen und sie nicht in Zweifel zu ziehen. Durch das Teilen der Sichtweise des Kindes und durch die ständige Auseinandersetzung mit allen Informationen wird letztlich die Entwicklung eines realistischen Identitätskonzeptes möglich werden.

VI. Indikation und Effizienz

Zur Indikation von Biografiearbeit sind in der Fachliteratur keine Untersuchungen zu finden.

Sie scheint aber bei Kindern indiziert, denen dauerhaft die Möglichkeit verwehrt bleibt, sich Informationen über ihre Vergangenheit in ihrer originären Familie einzuholen. Sie ist insbesondere dort angezeigt, wo zu vermuten ist, daß Kinder durch traumatische Erlebnisse nachhaltig in ihrer Entwicklung beeinträchtigt wurden und ohne biografische Recherchen keine weitergehenden Behandlungsmaßnahmen ergriffen werden können.

Ferner ist Biografiearbeit geeignet als begleitende und unterstützende Methode im Heilungsprozeß verwahrloster Kinder. Da der Kern der Verwahrlosung das Urmißtrauen  statt des Urvertrauens ist (vgl. Kap. 2.1. Signifikante Merkmale) und  Biografiearbeit einen hohen Grad an Vertrauen voraussetzt, kommen fremde Lebenshistoriker für diese Arbeit mit verwahrlosten Kindern  also kaum in Betracht.

Nicht indiziert ist die Nutzung von Biografiearbeit beispielsweise bei paranoiden Psychotikern, da sich deren Psychose durch die ständige Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit noch verstärken würde. Auch bei stark geistig behinderten Menschen ist ein positiver Einfluß von Biografiearbeit auf die Identitätsentwicklung ausgeschlossen.

Über die Effizienz der Biografiearbeit gibt es derzeit keine Forschungsergebnisse in der Fachliteratur. Auch das Standardwerk „Psychotherapie im Wandel“ von Grawe und Mitautoren enthält keine Aussagen dazu.

Die Erfahrungen aus der Praxis des Intensivpädagogischen Programms sowie meiner eigenen Arbeit als Pflegevater lassen jedoch den Schluß zu, daß Biografiearbeit eine auf lange Sicht wirksame Methode ist, um Kindern bei der Entwicklung eines realistischen Identitätskonzeptes zu helfen. Sie darf wohl als eine geeignete unterstützende Maßnahme zur Vergangenheitsbewältigung und zur Entwicklung von Zukunftsperspektiven angesehen werden.

VII. Erkenntnistheoretische Einordnung und Bewertung

Für die erkenntnistheoretische Einordnung und Bewertung der Biografiearbeit stütze ich mich auf Eberhards „Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie“ unter besonderer Berücksichtigung der Hermeneutik in der psychohistorischen Arbeit.

„Die Hermeneutik ist die Kunst und Lehre der Auslegung, der Deutung und des Verstehens von Texten und Situationen.“ (Eberhard, 1999 S.81)

Biografiearbeit als psychohistorische Methode bietet die Möglichkeit, sich der Vergangenheit des Menschen über Geschichten bzw. Erzählungen zu nähern, um anhand von Daten, Fakten und Erlebnissen zunächst eine Chronik zu erstellen. Diese wird dann so aufbereitet, daß eine für den Leser nachvollziehbare Entwicklungsgeschichte entsteht. Für die Aufbereitung empfiehlt Eberhard

„... die Unterscheidung von Chroniken und Entwicklungsgeschichten. Die Chroniken bestehen aus der unverbundenen zeitlichen Aneinanderreihung ‚historischer Tatsachen‘. Historische Tatsachen sind nicht die Inhalte der ursprünglichen  Informationsquellen, sondern daraus abduzierte Protokollsätze, ... Wichtig ist der hohe Objektivitätsanspruch der Chronik, d.h. sie sollte nur Feststellungen enthalten, die von anderen Kennern der Protagonisten als zutreffend bestätigt werden können.

Demgegenüber verknüpft die Entwicklungsgeschichte die historischen Tatsachen so, daß sie einander zu Ursachen und Wirkungen werden mit dem Ziel, daß der Leser den gesamten Entwicklungsgang verstehend nachvollziehen kann.“ (ebd., S.138 f.)

Die bei der Erstellung der Chronik erwähnte Abduktion ist nach Eberhard

„... das durch eine Beobachtung angeregte Auffinden oder Erfinden eines allgemeinen Begriffes bzw. Satzes, durch den jene Beobachtung  eingeordnet bzw. erklärt werden kann.“ (ebd., S.123)

Biografiearbeit umfaßt also alle relevanten Daten des Menschen, die ihm zu einem besseren Verstehen seiner Geschichte und seiner selbst dienlich sein können und deren Erfassung in Chronik und Entwicklungsgeschichte.

Für die Erforschung und Darstellung dieser Daten wird folgende Schrittfolge empfohlen:

„1.Sammlung und kritische Bewertung der vorhandenen Quellen.
2.Erschließung und kritische Bewertung möglichst vielfältiger zusätzlicher Quellen.
3.Archivierung aller Dokumente.
4.Abduktion ‚historischer Tatsachen‘ und Selektion zwecks Erstellung einer Chronik.
5.Konstruktion bzw. Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte.
6.Falls möglich, diagnostische Einordnung in wissenschaftlich anerkannte und sonstige tradierte Verlaufstypen.
7.Prognostische Einschätzung.“ (ebd., S.139 f.)

Um eine möglichst hohe Glaubwürdigkeit der so gesammelten und archivierten Daten und Geschichten zu erreichen,

„... spielt das Prinzip der Kritik und Gegenkritik in der Hermeneutik eine fundamentale Rolle, weil es auf die dialektische Annäherung an die Wahrheit bzw. auf die Entfernung vom Irrtum hoffen läßt.“ (ebd., S.140)

Die Berücksichtigung dieses Prinzips ist deshalb so bedeutungsvoll, weil eine interdisziplinänre hermeneutische Methodologie, an deren Maßstäben konkurrierende Interpretationen gemessen werden können, noch nicht vorliegt und daher der Wahrheitsanspruch hermeneutischer Ergebnisse einem hohen Objektivitäts- und Gültigkeitsrisiko unterworfen ist. (vgl. Eberhard, 1999 S.97)

Um die preisgegebene Objektivität, die durch den Verzicht auf standardisierte Erhebungsmethoden zugunsten des Sammelns von Lebensereignissen entsteht und die daraus resultierenden Validitätsprobleme bei der Interpretation der gewonnenen Daten minimieren zu können, bietet sich das Verfahren der Aktionsforschung in der Gruppe an.

Die Kurzdefinition lautet:

„Die Aktionsforschung ist derjenige Erkenntnisweg, der die im Wissenschaftsbetrieb übliche Trennung von Forschung und Praxis aufhebt und auf  dem die Beteiligten das gemeinsam erlebte, empirisch dokumentierte und handelnde beeinflußte Geschehen im Rahmen kollektiver Reflexionen (sog. Diskurse) analysieren und zu problembezogenen phänomenalen, kausalen und aktionalen Hypothesen gelangen, die ihre Glaubwürdigkeit aus bestimmten kommunikations-optimierenden und erkenntnisförderlichen Gesprächsformen (z.B. ‚Herrschaftsfreiheit‘, ‚Begründungspflicht‘, ‚intelektuelle Offenheit‘, ‚emotionale Akzeptierung‘) sowie aus der kritisch beobachteten Praxis beziehen.“ (Eberhard, 2000 S.22)

Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der Möglichkeit, anderen Mitgliedern einer Gruppe eigene Deutungen von Ereignissen  vorzustellen, diese kritisch überprüfen zu lassen und möglicherweise zu korrigieren oder zu erweitern. Diese Art der Auseinandersetzung zwingt den einzelnen

„...zur rationalen Reflexion und Selbstreflexion und steigert somit die Wahrscheinlichkeit gültiger Aussagen.“ (Eberhard, 1999 S.96)

Als hilfreich bei dieser Form der Zusammenarbeit, aber auch bei der Arbeit eines einzelnen können die „Hermeneutischen Regeln aus abduktiver Logik“ sein, die im folgenden aufgezählt werden.

„-   Je höher die subjektive Abhängigkeit des Abduzierenden von der Richtigkeit der Abduktion, desto höher seine Wahrnehmungsaufmerksamkeit.
- Je zahlreicher und intensiver die Kontakte zum Klienten bzw. allgemein zum Erkenntnisgegenstand, desto zahlreicher und vielfältiger die wahrgenommenen Zeichen.
- Je häufiger und vielfältiger die beobachteten Zeichen, desto wahrscheinlicher die Repräsentanz aller wichtigen Eigenschaften in der Wahrnehmung des Beobachtenden.
- Je einfacher und unzweideutiger die beobachteten Zeichen, desto höher ihre Objektivität und die Gültigkeitschance der auf ihr beruhenden diagnostischen Aussagen.
- Je reicher der Sprachschatz des Abduzierenden, desto mehr abduktive Zuordnungsmöglichkeiten.
- Je größer die Vielfalt der abduzierten Hypothesen, desto geringer die Gefahr reduktionistischer, d.h. einseitig vereinfachender Diagnosen.
- Je mehr Vorhersagen von bekannten auf noch unbekannte Zeichen, desto mehr empirische Testmöglichkeiten für den diagnostischen Prozeß.
- Je mehr mitwirkende Beobachter, desto mehr wahrgenommene Zeichen, sprachliche Kategorien, abduktive Hypothesen, empirische Überprüfungsmöglichkeiten und desto höher die Gültigkeitswahrscheinlichkeit der Abduktion.“ (Eberhard, 2000 S.23)

Um nun den Beteiligten einen Aktionsforschungsdiskurs nach den oben genannten hermeneutischen Regeln zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen, geben die Eberhards einige Kommunikationsempfehlungen, die sich in ihrer Praxis im IPP bewährt haben und sowohl gesprächsoptimierend als auch erkenntnisfördernd wirken sollen. Sie seien hier als eine Teilgrundlage hermeneutischer Arbeit in Gruppen genannt.

„- Alle dürfen und sollen ihre Meinung sagen
- Meldet Euch für alle sichtbar, wenn mehrere sprechen wollen
- Bemüht Euch um gegenseitige Akzeptierung
- Vermeidet Be- und Abwertungen
- Behandelt Euch und Eure Gedanken als gleichberechtigt
- Hört einander zu, und laßt einander ausreden
- Unterbrechungen können beantragt und zurückgewiesen werden
- Bleib beim angesprochenen Problem
- Beschränk Dich auf das Dir Wesentliche
- Ausführliche Begründungen bitte nur auf Nachfrage
- Die Zahl Deiner Antworten sollte die Deiner Fragen nicht übersteigen
- Geh auf Deine(n) Vorredner(in) ein
- Nutzt, wenn möglich, die Begriffe Eurer Vorredner(innen)
- Sucht den Wahrheitskern in scheinbar zweifelhaften Beiträgen
- Versucht zu verstehen statt Recht zu behalten
- Redet in Vermutungen statt in Behauptungen
- Vermeidet Verallgemeinerungen, Theorien und Dogmen
- Benutzt – falls erforderlich – Beispiele aus eigener Erfahrung
- Beispiele taugen als Erläuterung nicht als Beweis
- Beachtet die Signale der Körpersprache
- Versucht, bei zähen Mißverständnissen zu dolmetschen
- Mach Dich nicht ohne Auftrag zum Beschützer anderer Teilnehmer(innen)
- Deine emotionalen Störungen haben Vorrang, wenn sie Deine weitere Mitarbeit blockieren
- Benennt Eure Betroffenheit, aber benutzt sie nicht als Denkverbot
- Baut Antipathien ab und Sympathien auf, Sympathien erleichtern die Annahme von Kritik
- Vermeidet Konsense ohne kritische Diskussion
- Konflikte nutzen statt scheuen
- Nutzt den Erkenntnisweg der Dialektik
- Seid gute Anwälte Eurer Qualitätsinteressen“ (ebd., S.25)

Biografiearbeit läßt sich also erkenntnistheoretisch der Aktionsforschung zuordnen und wird in diesem Zusammenhang nicht ohne eine kritische und selbstkritische Hermeneutik und Abduktion auskommen. Sie darf darüber hinaus als eine erfolgversprechende Methode zur Behandlung von Menschen mit gestörter Identität angesehen werden, um ihnen zur Erlangung eines realistischen Identitätskonzeptes zu verhelfen.

C. Eigene Erfahrungen in der Biografiearbeit mit Pflegekindern

David (Name geändert)

I. Zur Person

Vorname: David
Nachname: X.
Geburtsdatum: 10.03.1988
Geburtsort: H., Kreis O.

II. Informationsquellen
1. Bericht über die Recherchen

Die Recherchen zu Davids Biografie begannen bei dem ersten Zusammentreffen mit der Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes im Dezember 1996. Seitdem bis heute bemühe ich mich immer wieder an verschiedensten Stellen um  weitergehende biographische Auskünfte.

Dabei erweist sich der Datenschutz als ein wirkmächtiges Instrumentarium, um wesentliche Teile einer Biografie im Dunkeln verschwinden zu lassen. Denn selbst die Personensorgeberechtigten – in diesem Fall Amtsvormündinnen – werden zumindest von medizinischer Seite mit diesem Argument abgespeist.

Diese Taktik wird dann andererseits von eben diesen Amtsvormündinnen und anderen Mitarbeiterinnen der Jugendämter dazu benutzt, um mir als Pflegevater hilfreiche Informationen vorzuenthalten. Mein Antrag auf Akteneinsicht wurde mit Hinweis auf den Datenschutz abgelehnt, obwohl es durchaus Möglichkeiten gäbe, den Datenschutz zu wahren und die Akteneinsicht dennoch zu ermöglichen.

So könnten zum Beispiel Dritte, deren Angaben geschützt werden sollen, befragt werden, ob sie mit der Freigabe ihrer Daten einverstanden wären. Gutachter könnten ebenso um ihr Einverständnis zur Freigabe ihrer Gutachten gebeten werden. Eine derartige Verfahrensweise erfordert allerdings Einsicht in die Notwendigkeit.

Sinn und Notwendigkeit der Biografiearbeit mit David werden scheinbar selbst von Mitarbeiterinnen des Jugendamtes, die Fachleute auf diesem Gebiet sind, nicht angemessen bewertet. Bei tiefer gehenden Fragen wird mir manchmal sogar ein gewisser Voyeurismus unterstellt.

Die Familienmitglieder erweckten den Eindruck, daß sie „die ganze Sache“ möglichst schnell vergessen und weder durch mich noch durch David ständig daran erinnert werden wollten. 

Das im folgenden vorliegende Ergebnis der Recherchen ist deshalb nicht nur aus Mangel an Daten und Fakten, sondern auch aus Mangel an Kooperationsbereitschaft der involvierten Behörden äußerst lückenhaft.

2. Auflistung der Quellen

Hauptquelle meiner Recherchen sind meine eigenen Tagebuchaufzeichnungen, die bezüglich der Gespräche der mit David befaßten Menschen den Charakter von Gedächtnisprotokollen haben.

Weitere Quellen sind:
- die Abstammungsurkunde,
- die Sterbeurkunde der Mutter,
- das Kinderuntersuchungsheft,
- die Schulzeugnisse,
- die Besuchsbescheinigung des vermittelnden Jugendamtes,
- das Heimentlassungsprotokoll,
- das Gutachten des Gesundheitsamtes zur Begründung der Notwendigkeit einer heilpädagogischen Pflegestelle

3. Diskussion der Quellen

Die Hauptquelle meiner Recherchen sind im Ergebnis die Geschichten und Erinnerungen der Personen, die mit David vom Beginn seines Lebens an in unterschiedlichster Art und Weise mit ihm zu tun hatten. Selbstverständlich sind derartige Geschichten und Erinnerungen subjektiv und sagen oft mehr über die berichtende Person aus. Letztlich geben sie aber doch Aufschluß über das Lebensumfeld Davids und lassen so vorsichtige Schlußfolgerungen auf mögliche Ursachen seiner Probleme zu.

Die behördlichen Quellen blieben aus bereits erwähnten datenschutzrechtlichen Gründen größtenteils verborgen. Die Aussagen der Mitarbeiterinnen stammten zumeist auch nicht „aus erster Hand“, da fast alle erst zu einem späteren Zeitpunkt diesen „Fall“ übernommen hatten.

Den übrigen Quellen waren zumeist nur Daten und Fakten zu entnehmen, deren Eindeutigkeit nicht anzuzweifeln ist, die aber wenig über die psychosozialen Hintergründe aussagen.

III. Befunde und Berichte

Die nachfolgenden Berichte wurden aus meinen Gedächtnisprotokollen mit den jeweiligen Personen erhoben.

1. Befunde und Berichte aus eigenen Erhebungen
1.1. Die Tante

Sie war alleinstehend ohne Kinder und im Drei-Schicht-Dienst in einer Rinderaufzuchtanlage tätig. Sie fühlte sich den Kindern ihrer Schwester verpflichtet, weil sie offenbar ein schlechtes Gewissen hatte, daß ihre Schwester es nicht „gepackt“ hatte. Mehrmals betonte sie, daß sie David selbst genommen hätte, aber bei ihrem Job ginge das eben nicht und die Wohnung sei zu klein.

Einmal schilderte sie mir folgende Situation: „Eenmal, als ick bei meener Schwester zu Besuch war, rastete Bernd (Name geändert) plötzlich aus. Der jriff sich den Kleenen und schleuderte ihn durch‘n Raum an die jejenüberliejende Wand. Ick war völlig perplex. Aba denn wußte ick, det ick mir dit nich länger mit angucke.“ Die Tante distanzierte sich von der Familie.

Nachdem der Mann nach dem Prozeß das Haus verlassen hatte, fühlte sie sich aber doch für ihre Schwester und vor allem deren Kinder verantwortlich.

Als sich abzeichnete, daß diese nach der Heimeinweisung ihrer Tochter auch mit David allein noch überfordert war, nahm die Tante ihn im Juli 1990 doch zu sich.

Dort blieb David bis zum März 1991 und wechselte dann wieder in den Haushalt der Mutter. Seine Tante sah trotzdem fast täglich nach dem Rechten. Nach sechs Tagen fand sie ihre Schwester bewußtlos – nach einem nervlichen Zusammenbruch – und der Junge saß hilflos wimmernd daneben. Sie versorgte ihre Schwester und brachte David kurzerhand zum Jugendamt.

Er wurde in dasselbe Heim eingewiesen wie seine Schwester und blieb dort bis Ende Juni 1997.

1.2. Die Schwester

Davids Schwester war bis zur Fertigstellung dieser Arbeit nicht zu erreichen, um weitergehende Informationen zur Familiengeschichte übermitteln zu können.

1.3. Die Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes

Sie war sehr aufgeschlossen und teilte mir nach einem kurzen Kennenlernen mit, daß sie sechs in Frage kommende Kinder zu vermitteln hätte – zwei einzelne Jungen und zwei Bruderpaare. Sie war der Ansicht, daß die Jugendämter angesichts der knappen Pflegestellenbewerber auf jede geeignete Pflegeperson zurückgreifen müßten.

Von ihr war bei unserem Erstkontakt im Dezember 1996 zu erfahren, daß David seit seinem dritten Lebensjahr in einem Kinderheim lebt, in dem auch seine neun Jahre ältere Schwester untergebracht ist.

Grund für die Heimeinweisung war die „psychische Krankheit der Mutter, die zwischenzeitlich mit stationären Aufenthalten verbunden ist“. Die Sozialarbeiterin schätzte die Mutter als „gutwillig aber schnell überfordert“ ein.

Den Vater kannte sie nicht persönlich. Sie beschrieb ihn aufgrund der Aktennotizen als „einen unscheinbaren, eher unsicher wirkenden Menschen“, der aber „ab und zu gegen seine Frau und die Kinder gewalttätig“ geworden sei. Als dieser sich an Davids älterer Schwester vergangen habe, sei „die Mutter sehr konsequent“ gewesen und habe sich von ihm scheiden lassen. David war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt. Der Vater sei mit einer dreijährigen Bewährungsstrafe davongekommen, habe aber „seit der Verhandlung keinen Kontakt mehr zu den Kindern gehabt“.

Für die Mutter, so schilderte die Sozialarbeiterin, wurde die Situation durch die Trennung noch schwieriger. Sie fühlte sich immer häufiger  überfordert, bis schließlich eine ihrer Schwestern das Jugendamt informierte, welches das Mädchen ins Heim einwies.

David sei ein  „ruhiger, etwas in sich gekehrter Junge, mit viel Phantasie“. Er sei „am längsten von allen Kindern in diesem Heim“ und hätte es „verdient, einmal richtig Familie kennenzulernen“. Die Mutter sei jetzt „bereit, einer anderen Betreuungsform als der Heimerziehung“ zuzustimmen.

David habe durch Komplikationen bei der Geburt eine Hirnschädigung und besuche im Moment eine Förderschule. Er sei durch den Vater mißhandelt und vernachlässigt worden und hin und wieder auch durch die Mutter, wenn „sie nicht mehr weitergewußt“ habe.

Es wurde vereinbart, daß die Sozialarbeiterin einen Termin mit der Mutter vereinbaren sollte, an dem diese Gelegenheit hätte, mich kennenzulernen.

Am 16.01.1997 erhielt ich einen Anruf der Sozialarbeiterin, daß die Mutter aus noch ungeklärter Ursache in ihrer Wohnung plötzlich verstorben sei. Die Kripo ermittle. Die Vermittlung müsse „erstmal auf Eis gelegt werden“, da das Jugendamt verpflichtet sei, den Vater ausfindig zu machen und festzustellen, ob er als Sorgeberechtigter in Betracht gezogen werden könne.

Am 12.03.1997 Anruf der Sozialarbeiterin: Der Vater sei „ausfindig gemacht, aber kommt als Sorgeberechtigter auf keinen Fall in Frage. Der hat mit sich selbst genug zu tun.“ Es wurde für den 17.03.1997 ein erster Kontakt zwischen David und mir im Heim vereinbart.

1.4. Der Heimleiter

Er war neben einem Erzieher und dem Hausmeister der einzige Mann im Hause. In Gesprächen war er aufgeschlossen und entgegenkommend.

David wurde von ihm als „ein ruhiger, höflicher Junge“ geschildert, der sich „gut in das Heimleben einpaßt“ und „bei den Mitarbeiterinnen sehr beliebt“ sei. In der Schule habe er große Schwierigkeiten und benötige ständig Unterstützung. Er sei Bettnässer. Man habe schon alles mögliche versucht, aber bisher sei das nicht „in den Griff zu bekommen“ gewesen. Er sei der „Oldie“ unter den Kindern. Kein anderes sei so lange in diesem Heim wie er.

Das Verhältnis zu seiner Schwester, die inzwischen ausgezogen sei, beschrieb der Heimleiter als „sehr sporadisch, weil die Schwester kein Interesse an ihrem Bruder“ habe. Sie sei ohnehin „sehr schwierig“ gewesen.

Vom Vater habe er ihn abgeschirmt. Dieser habe im Laufe der Jahre immer mal wieder versucht, Kontakt aufzunehmen. Die Absprache mit dem Jugendamt sei aber so gewesen, daß der Vater nicht an das Kind herankommen sollte.

1.5. Die Bezugserzieherin

Eine füllige, resolute Frau mit lauter Stimme und Berliner Dialekt, die sehr liebevoll von David sprach.

Er sei ein „zurückhaltender, manchmal etwas ängstlicher Junge“, mit einer „Spielphantasie ohne Ende“. Wenn er manchmal auf dem Hof spiele, habe man den Eindruck „da sind fünfe oda sechse zujange, so laut jeht det bei ihm manchmal zu, wenn der sich erstmal wat ausjedacht hat.“ David spiele aber „häufig allein, denn die andan wolln dann doch oft nich so wie er.“

Wegen seiner schlechten Aussprache wäre er ein Jahr zur Logopädin gegangen. „Det hat aba nischt jebracht und da ham wa det wieda abjebrochen.“

Das Bettnässen sei jetzt weniger geworden, seit er „so ein Nasenspray“ bekomme. Aber manchmal sei das Bett eben trotzdem naß.

Mit der Schule sei es schwierig. Durch den Tod der Mutter hätten die Leistungen noch mehr nachgelassen. Er hätte aber „toll reagiert – wie ein Großer“, als sie ihm die Nachricht vom Tod seiner Mutter überbracht hätte. David war „ganz gefaßt, hat gar nicht geweint und sich nur irgendwas zum Andenken an sie gewünscht.“ Zur Beerdigung „ham wa ihn dann aba nich mitjenommn. Wir warn uns einig, det dit noch nischt für so’n Kind is.“

Wenn der Vater angerufen habe, sei das immer vom Heimleiter geregelt worden. Der Junge wisse nichts von ihm und das sei auch gut so.

1.6. Eine Gruppenerzieherin

David hatte mir erzählt, daß er zehn geworden sei. Von der Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes wußte ich aber, daß er erst neun war. Um sicher zu gehen und ihn nicht „Lügen zu strafen“, fragte ich eine Erzieherin, die gerade Aufsicht im Heimgarten hatte. Sie konnte mir die Frage nicht beantworten, ging aber hinein, um sich zu erkundigen.

Als sie wiederkam, bestätigte sie mir, daß er neun geworden sei und ergänzte (in Davids Beisein): „Aber bei David ist das doch sowieso nicht so wichtig. Er hat doch erst den Entwicklungsstand eines Sechs- bis Siebenjährigen.“

2. Befunde und Berichte aus eigener Betreuungsarbeit

David kam am 28.06.1997 im Alter von 9;3 Jahren in die Pflegefamilie. Er war ein ruhiger, etwas gehemmter Junge von schmächtiger Statur.

Körperlich war er altersentsprechend entwickelt, fiel jedoch durch ungelenke Bewegungsabläufe auf. Seine Füße hatten eine leichte Innenstellung. Feinmotorisch hatte David erhebliche Schwierigkeiten.

Auffällig war sein kleiner Kopf (Microcephalus infolge frühkindlicher Hirnschädigung) und die sehr großen Ohren.

David näßte nachts ein, am Tage hatte er seine Blasentätigkeit unter Kontrolle.

Intellektuell wirkte David eher unterdurchschnittlich. Er besuchte bis zur Aufnahme eine Förderschule. David hatte Mühe, sich sprachlich verständlich zu machen. Zum Ausgleich seines mangelhaften Wortschatzes nahm er des öfteren Arme und Hände für Erklärungen zu Hilfe. Er sprach sehr laut.

Beim Lachen lief ihm häufig der Speichel unkontrolliert aus dem Mund.

Sein Verhalten wirkte oft kindlich – wie das eines Sechs- bis Siebenjährigen. Davids Spielphantasien waren schier grenzenlos ebenso sein Erkenntnisinteresse.

David besaß kein Selbstbewußtsein, traute sich kaum etwas zu. Das Pronomen „Ich“ gab es in seinem Wortschatz nicht.

Er war ständig darum bemüht, den Erwachsenen ihre Wünsche oder Erwartungen „von den Augen abzulesen“, um nichts falsch zu machen.

David konnte schwer allein sein und verfolgte mich auf „Schritt und Tritt“. 

IV.  Lebensgeschichte des Kindes und seiner wichtigsten Bezugspersonen
1. Chronik und Geschichte der Mutter
1.1.   Chronik

Es ist kaum möglich, eine Chronik der Mutter zu erstellen, da die bekannten Daten äußerst spärlich sind.

08.07.1958 – Geburtstag der Frau X.
1979 – Geburt der Tochter
10.03.1988 – Geburt des Sohnes
1990 – Scheidung von ihrem Mann
04.1990 – Heimunterbringung der Tochter
07.1990 – Aufnahme des Sohnes durch die Schwester, Frau W.
27.03.1991 – Rückkehr des Sohnes zu ihr
05.04.1991 – Heimunterbringung des Sohnes
08./09.01.1997 – Todestag der Frau X.

1.2. Geschichte

Zur Geschichte greife ich auf die Darstellungen der mit ihr bekannten Personen zurück.

Über die Eltern der Frau X. ist nichts bekannt. Sie hatte drei Schwestern, von denen zwei bis zu ihrem Tode im Nachbarort wohnten. Sporadischer Kontakt bestand. Eine (die unter Punkt 2.1.5. erwähnte) Schwester unterstützte sie zeitweise bei der Betreuung der Kinder.

Zur Schul- und Berufsbildung von Frau X. ist nichts bekannt, ebensowenig zu ihrer beruflichen Tätigkeit.

Frau X. litt an einer psychischen Erkrankung, deren genaue Diagnose sich meiner Kenntnis entzieht. Diese Krankheit zwang sie zwischenzeitlich immer wieder zu Klinikaufenthalten von unterschiedlicher Dauer. Während dieser Zeit versorgte zumeist die erwähnte Schwester die Kinder. Vor der Trennung von ihrem Mann blieb auch dieser in solchen Situationen mit den Kindern allein.

Wann und wie Frau X. ihren Mann kennenlernte, ist nicht bekannt, ebensowenig ihr Hochzeitstag.

Ihre Tochter wurde 1979 geboren.

Nachdem Anfang 1990 offenbar wurde, daß sich ihr Mann an der Tochter vergangen hatte, wurde die Ehe geschieden und die Tochter kurz darauf in ein Kinderheim eingewiesen. Frau X. fühlte sich allein mit den beiden Kindern überfordert.

Aber auch mit David allein bewältigte Frau X. den Alltag nicht mehr. Schließlich nahm ihre Schwester den Jungen im Juli 1990 zu sich und versorgte diesen bis Ende März 1991 in ihrem Haushalt. Länger konnte sie die Betreuung des Kindes nicht mit ihrer Tätigkeit, die eigentlich den Drei-Schicht-Dienst erforderte, vereinbaren.

Nach einem neuerlichen psychischen Zusammenbruch von Frau X. sechs Tage später, brachte die Schwester David zum Jugendamt, welches seine Heimeinweisung anordnete.

Von diesem Zeitpunkt an gab es zwischen Frau X. und ihren Kindern nur noch sporadischen Kontakt mit anfänglichen Wochenendbeurlaubungen. Der Abstand der Treffen richtete sich immer nach dem jeweiligen Gesundheitszustand von Frau X.

In der Nacht vom 08. zum 09.01.1997 verstarb Frau X. allein in ihrer Wohnung. Der genaue Todestag konnte nicht mehr ermittelt werden, da sie erst einige Tage später aufgefunden wurde.

Die Obduktion ergab eine Überdosis Morphin. Sie erhielt dieses Schmerzmittel nach einer Wirbelsäulenoperation, bei der – nach Auskunft der Staatsanwaltschaft gegenüber der jetzigen Vormünderin - eine Mißbildung zwischen zwei Wirbeln entfernt worden war, die Frau X. schon seit langer Zeit Beschwerden verursachte. Um eine gleichmäßige Gabe des Mittels zu gewährleisten, wurde Frau X. eine  Pumpe implantiert, die regelmäßig unter ärztlicher Kontrolle aufgefüllt werden mußte. Am Tag vor ihrem Tod erfolgte eine solche Auffüllung, nach der Frau X. noch eine Stunde zur Überwachung in der Praxis verblieb. Da es keine besonderen Auffälligkeiten gab, wurde sie nach Hause entlassen.

Es wird als erwiesen angesehen, daß weder technisches noch ärztliches Versagen als Ursache für den Tod von Frau X. in Betracht kommen. Ebenso ist eine Selbsttötung durch Überdosis auszuschließen. Der Tod von Frau X. wird als ein tragischer Unfall angesehen, bei dem durch einen unbedingten Reflex während der Pumpenauffüllung eine Überdosis Morphin direkt in den Körper und nicht in die Pumpe gelangte. Der Füllstand der Pumpe ließ sich offenbar nicht kontrollieren, weshalb die einstündige Nachüberwachung erfolgte.  

2.   Chronik und Geschichte des Vaters
2.1.  Chronik

27.12.1958 – Geburtstag des Herrn X.
1979 – Geburt der Tochter
10.03.1988 – Geburt des Sohnes
1989/90 – Verurteilung zu 3 Jahren Gefängnis auf Bewährung wegen sex. Mißbrauchs an seiner Tochter
1990 – Scheidung von seiner Frau und gleichzeitig letzter Kontakt zu seinen Kindern
1997 – Sorgerechtsantrag für David beim Amtsgericht O.
15.01.1998 – Anhörung zum Sorgerechtsantrag und Wiedersehen mit seinem Sohn nach mehr als sieben Jahren; Rücknahme seines Antrages
10.03.1998 – vorläufig letzter persönlicher Kontakt zu David anläßlich seines Geburtstages

2.2.   Geschichte

Auch zur Entwicklungsgeschichte des Herrn X. kann ich nur auf Informationen von den mit ihm befaßten Fachleuten zurückgreifen.

Über die Eltern von Herrn X. ist nichts bekannt, ebensowenig über Geschwister.

Über Schul- und Berufsbildung sowie seine berufliche Tätigkeit ist nichts bekannt.

Seine Tochter wurde 1979 geboren, sein Sohn 1988.

Die Ehe mit seiner Frau wurde 1990 geschieden, nachdem er wegen sexuellen Mißbrauchs seiner Tochter zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Dann verlor Herr X. jeglichen Kontakt zu seiner Familie.

Einer Schilderung der Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes zufolge unternahm seine Ex-Frau alles, um den Kontakt zwischen ihm und den Kindern zu unterbinden. Da sie nach der Scheidung das alleinige Sorgerecht hatte, schien ihr das auch keine Mühe zu bereiten. Sowohl das Jugendamt als auch das Kinderheim gingen  mit der Ansicht der Mutter konform.

Bis zum Tod seiner Ex-Frau 1997 war Herr X. sozusagen „von der Bildfläche verschwunden“.

Durch die gesetzliche Verpflichtung des Jugendamtes, ihn wegen möglicher Unterhaltszahlungen für seine Kinder ausfindig zu machen, gab es dann eine „zwangsweise Neubelebung“ der Familienkontakte.

Herr X. stellte dann auch im Laufe des Jahres 1997 einen Sorgerechtsantrag für seinen Sohn David. Nach telefonischer Schilderung der zuständigen Sozialarbeiterin seines Landkreises war er von diesem Vorhaben nicht abzubringen. Das sei „völlig illusorisch und unrealistisch“gewesen. Er habe doch selbst „einen Betreuer für verschiedene seiner Angelegenheiten und seine Therapeutin hält ihn für erziehungsunfähig“. Herr X. ließ sich nicht beirren und erhielt seinen Antrag aufrecht.

Am 15.01.1998 kam es dann zu einer gerichtlichen Anhörung.

Herr X. begegnete nach über sieben Jahren seinem Sohn wieder. Er hatte nun Gelegenheit, zu seinem Antrag Stellung zu nehmen, während ich mit David vor der Tür warten mußte.

Während des Anhörungstermins zog Herr X. seinen Antrag zurück, erklärte David auch, daß er nun bereits ein neues Zuhause gefunden habe und daß er (Herr X.) es wohl nicht schaffen würde, für David zu sorgen. Er wünsche sich aber, von Zeit zu Zeit etwas von ihm zu hören, um an seiner Entwicklung teilhaben zu können.

3.    Chronik und Geschichte des Kindes
1.1. Chronik

10.03.1988 – Geburt
09.1989 – Vorstellung bei der Frühförderberatungsstelle des Gesundheitsamtes
07.1990 - Aufnahme durch die Tante
28.03.1991 – Rückkehr zur Mutter
05.04.1991 – Übergabe des Kindes durch die Tante an das Jugendamt nach einem erneuten „nervlichen Zusammenbruch“ der Mutter und Einweisung ins Kinderheim
10.1991 – erste Eintragung in das „Kinderuntersuchungsheft“, U8 43. - 48. Lebensmonat in der Rubrik „sonstige Bemerkungen“: Entw. nicht altersgerecht, Enuresis noct., verzögerte Sprachentw.
25.03.1993 – U9 60. – 64. Lebensmonat in der Rubrik „sonstige Bemerkungen“: psychisch retardiert, Sprachentwicklungsverzögerung, Enuresis nocturna
09.1995 – Einschulung in die Förderschule in H.
01.1997 – Tod der Mutter
03.1997 – Unterrichtung über die Möglichkeit der Unterbringung in einer Pflegefamilie
17.03.1997 – Erstkontakt mit dem möglichen Pflegevater
25.03.1997 – nächster Besuch des möglichen Pflegevaters im Heim
01.04.1997 – weiterer Besuch des möglichen Pflegevaters mit seinem anderen Pflegesohn Devin im Heim
07.04.1997 – erster Nachmittagsbesuch in der möglichen Pflegefamilie
12.04.1997 – erster Wochenendbesuch der möglichen Pflegefamilie anläßlich des Geburtstages des anderen Pflegekindes
18.04.1997 – ab jetzt regelmäßige Wochenendbeurlaubungen zur Pflegefamilie
27.05.1997 – Besuch des möglichen Pflegevaters in seiner Förderschule in H.
04.06.1997 – Helferkonferenz zur Unterbringung in der Pflegefamilie unter Beteiligung des Pflegekinderdienstes, des Heimleiters, zweier Erzieherinnen und des möglichen Pflegevaters
17.06.1997 – Abschiedsfeier im Heim
27.06.1997 – Auszug aus dem Kinderheim und Umzug in die Pflegefamilie
11.08.1997 – Umschulung in die Lernbehindertenschule am Senefelder Platz - Wiederholung der zweiten Klasse
16.08.1997 – Begrüßungsparty in seinem neuen Zuhause mit seinen alten Freunden aus dem Heim
24.09.1997 – Beginn des Keramikkurses bei „Sonnenuhr“ e.V.
28.10.1997 – Beginn der Psychotherapie bei der Lebenshilfe
15.01.1998 – Anhörung beim Amtsgericht Oranienburg zum Sorgerechtsantrag seines Vaters
28.02.1998 – Besuch bei einer früheren Bekannten (Diakonin des Ortes) seiner Mutter
10.03.1998 – Geburtstag; er bekommt ein Zwergkaninchen - Besuch seines Vaters bei uns
06.04.1998 – einwöchiger Besuch bei seiner Tante W.
14.04.1998 – erster Ferienlageraufenthalt an der Nordsee
24.04.1998 – Rückkehr und Ankunft in der neuen Wohnung
18.06.1998 – Besuch der Diakonin bei David
24.06.1998 – Helferkonferenz zu Davids bisheriger und weiterer Entwicklung
15.07.1998 – Besuch bei der Diakonin
24.08.1998 – Beginn des vierten Schulbesuchsjahres in der dritten Klasse
02.10.1998 – Übernachtung in seinem ehemaligen Kinderheim
18.10.1998 – einwöchiger Besuch bei seiner Tante W.
16.03.1999 – erster Besuch des Grabes seiner Mutter mit Tante W. und dem Pflegevater
09.06.1999 – Helferkonferenz zu Davids bisheriger und weiterer Entwicklung
30.08.1999 – Beginn des fünften Schulbesuchsjahres in der vierten Klasse
07.09.1999 – Vorstellungstermin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charite zur Diagnostik bezüglich Beschulung und Bettnässens
31.01.2000 – erster einwöchiger gemeinsamer Ferienlageraufenthalt mit seinem Pflegebruder Devin
03.07.2000 – Förderausschuß bezüglich Beschulung unter Beteiligung der Schulleiterin, Lehrerin, Hortnerin, des Gutachters, der Vormündin, einer Leiterin des Friedrichs-Stifts und des Pflegevaters
04.09.2000 – Beginn des sechsten Schulbesuchsjahres in der fünften Klasse

3.2.  Geschichte

David wurde am 10.03.1988 in H., Kreis O., ehelich als zweites Kind seiner Eltern geboren. Seine Schwester ist neun Jahre älter als er. 

Die Geburt verlief nach Aussage des Jugendamtes nicht ohne Komplikationen. Es kam durch Sauerstoffmangel während der Geburt zu einer frühkindlichen Hirnschädigung mit Microcephalus. Im Kinderuntersuchungsheft sind keinerlei Daten über die Geburt vermerkt, was zumindest ungewöhnlich erscheint, wenn man davon ausgeht, daß Frau X. in der Klinik entbunden hat.

Über die ersten beiden Lebensjahre gibt es keine gesicherten Erkenntnisse bzw. aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskünfte außer der in der Chronik bereits angeführten Vorstellung Davids bei der Frühförderberatungsstelle des Gesundheitsamtes im September 1989.

Offenbar wurden die Behörden erst durch den sexuellen Mißbrauch von Herrn X. an seiner Tochter auf die Familie aufmerksam. Wie dieser Sachverhalt nach außen gedrungen ist, vermochte von den damals involvierten Stellen niemand mehr mit Sicherheit zu sagen. Aufzeichnungen schien es nicht zu geben oder sie waren nicht zugänglich oder es sollte keine Auskunft erteilt werden. Zumindest konnte die Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes den Aufzeichnungen über David entnehmen, daß dieser  dem Mißbrauch seiner Schwester durch den Vater zumindest beigewohnt haben mußte.

Nach der Verurteilung des Herrn X. und der Scheidung von seiner Frau verließ er die gemeinsame Wohnung. Von diesem Zeitpunkt an bis nach dem Tod von Frau X. gab es für David keinen Kontakt mehr zu seinem Vater.

Im April 1990 wurde seine Schwester in ein Kinderheim gebracht. Seiner Mutter ging es zunehmend schlechter. Sie hatte psychische Zusammenbrüche, wodurch sie launisch und aggressiv wurde. Zeitweise setzte ihr Gedächtnis aus, und sie konnte David nicht mehr versorgen. Ihre Schwester nahm ihn schließlich im Juli 1990 zu sich.

Über diese Zeit ist wiederum nichts bekannt. Die Tante hatte von sich aus nie über die Monate mit dem Jungen berichtet. Als mir über die Vormünderin endlich bekannt wurde, daß er dort eine zeitlang verbracht hatte, war der Kontakt zwischen ihr und David schon über ein Jahr unterbrochen. Die Tante wünschte diesen Kontakt auch nicht mehr.

Ende März 1991 brachte Frau W.(die Tante) David wieder zu seiner Mutter. Diese fühlte sich nun offenbar so stabil, daß sie ihn wieder selbst versorgen wollte. Außerdem konnte Frau W. auf ihrer Arbeitsstelle nicht länger einschichtig arbeiten. Sie sah aber trotzdem fast täglich nach dem Rechten bei ihrer Schwester.

Am 05.04.1991 fand Frau W. ihre Schwester bewußtlos nach einem psychischen „Anfall“ in ihrer Wohnung und David saß wimmernd daneben. Frau W. brachte David zum Jugendamt, welches ihn in dasselbe Kinderheim einwies, wie ein Jahr vorher seine Schwester.

Versuche, den Jungen bald in eine Pflegefamilie zu vermitteln, scheiterten nach Aussage der Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes, die damals noch nicht dort beschäftigt war, daran, daß die Mutter nur einer Heimunterbringung zustimmte. Die Möglichkeit der gerichtlichen Ersetzung ihrer Zustimmung zum Wohle des Kindes wurde offenbar nicht in Betracht gezogen.

David wurde dann immer wieder  wegen seiner Sprachentwicklungsverzögerungen und des Bettnässens behandelt. Soweit den Berichten des Heimleiters und der Erzieherinnen zu entnehmen war, verliefen diese „Behandlungen“ aber völlig losgelöst vom Alltagsgeschehen und wurden den zuständigen Fachleuten überlassen. Das heißt, eine Zusammenarbeit gab es nur in Bezug auf das Bringen und Abholen des Jungen. Es wurden mit David keine logopädischen Übungen im Heimalltag durchgeführt und außer der Verabreichung von Medikamenten gegen das Bettnässen erfolgte keinerlei Auseinandersetzung mit den möglichen Ursachen im Kollegium.

Im September 1995 wurde David, um ein Jahr zurückgestellt, in eine Förderschule eingeschult. Die Schuluntersuchung hatte nach Aussage der Bezugserzieherin ergeben, daß David ein Grenzfall zwischen geistiger und Lernbehinderung sei. Man habe ihn erst einmal den „Weg mit den besseren Möglichkeiten“ gehen lassen wollen. Zum Ende des zweiten Schuljahres wurde jedoch bereits empfohlen, ihn die zweite Klasse wiederholen zu lassen. Grund für den Leistungsabfall im zweiten Schulhalbjahr der zweiten Klasse war mit Sicherheit der Tod der Mutter im Januar 1997.

Im März 1997 wurde David von der Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes die Möglichkeit offeriert, sein weiteres Leben in einer Pflegefamilie zu verbringen. Nach einigen Besuchskontakten und einer angemessenen Kennenlernphase des neuen Lebensumfeldes und der Familienmitglieder wurde David am 28.06.1997 aus dem Kinderheim in die Pflegefamilie entlassen.

An dieser Stelle beende ich die Lebensgeschichte von David aus zeitlichen Gründen, und weil deren Fortsetzung bis in die Gegenwart den Rahmen einer Diplomarbeit übersteigen würden.

3.3. Psychosoziale Diagnose

In die psychosoziale Diagnose fließen auch die Kenntnisse ein, die ich aus der Arbeit mit David als Pflegekind gewonnen habe.

David ist ein überangepaßter, stark an Erwachsenen orientierter Junge. Er neigt dazu, seine Bedürfnisse zu negieren, wenn er ablehnende oder sonstige negative Reaktionen seiner Bezugspersonen befürchtet.

David hat ein retardiertes Ich-Bewußtsein. Sätze begannen bei ihm in den ersten sechs Monaten wie folgt: Dann gehe da und da hin... Dann mache das und das... (vgl. 1.1. Beispiel A).

Starke Verlassensängste äußern sich in „klettenhaftem“ Verhalten, d.h. er folgt mir zeitweise überall hin oder fragt, sobald ich den Raum verlasse, wohin ich gehe. Wurde er nicht im Vorhinein informiert, kann es zu panischen Schreianfällen und Füßetrampeln kommen. Auch andere Ängste treten immer wieder zutage. So hatte David panische Angst vor Wasser. Er krümmte sich beim Duschen und Baden in der Wanne zusammenund zitterte, bis das Wasser abgestellt wurde. Haare waschen war nur unter stärkstem Protest möglich.

Seine Angst vor Hunden und Ärzten hält bis heute an, und in diesem Jahr kam nach einem Zwischenfall die Angst vor Aufzügen hinzu. Stehen solche angstmachenden Situationen bevor bzw. entstehen unerwartet, beginnt David zu wimmern, sich anzuklammern oder panisch zu schreien.

Von Geburt an bis heute ist David nachts noch nicht trocken.

Sowohl in Bewegungs- und Handlungsabläufen als auch im Denken und im Sprechen ist Davids Tempo stark verlangsamt. So benötigt er z.B. morgens zum Anziehen 15-20 Minuten; beim Sprechen benötigt er des öfteren Pausen, um über die Satzbildung nachzudenken.

Davids Konzentrationsfähigkeit ist stark eingeschränkt. Wird diese überlastet, reagiert er fahrig und läßt den Blick schweifen; früher begann er auch zu weinen.

Als wichtigste Ursachen für die beschriebenen Verhaltens- und Reaktionsmuster kommen m.E. folgende in Betracht: 

  • Für die Überanpassung: im Säuglings- und Kleinkindalter von Bezugspersonen vernachlässigte kindliche Bedürfnisse, frühzeitige Ausrichtung der Bedürfnisse des Kindes nach denen der Erwachsenen, starker Mangel an Zuwendung.
  • Für das negierte „Ich“: keine das kindliche Selbstbewußtsein stärkenden Erlebnisse, starke Reglementierung und Sanktionierung.
  • Für die Verlassensängste: mangelhafte Mutterbindung, häufige Trennungen von der Mutter durch ihre Krankheit und schließlich Heimunterbringung, keine dauerhaft sicheren Bezugspersonen.
  • Für andere Ängste: traumatische Erlebnisse mit den angstauslösenden Objekten.
  • Für das Bettnässen: mangelhafte Zuwendung und Geborgenheit, unbewußtes „noch nicht groß werden wollen“.
  • Für die verlangsamten Abläufe: frühkindliche Hirnschädigung.
  • Für den Konzentrationsmangel: Leistungsdruck, frühkindliche Hirnschädigung, Überforderung.

Für die weitere Arbeit mit David bedeutet das, ihm durch annehmendes, einfühlendes Verstehen seiner Besonderheiten zu signalisieren, daß er sich sicher und ohne Druck fühlen kann. Bestärkt durch eine solche Basis sollte er den Zeitpunkt, sich von verschiedenen Ängsten und Traumata zu verabschieden, selbst bestimmen können und dabei beobachtende, unterstützende Begleitung erfahren.

Bezogen auf die Besonderheiten, die vermutlich durch die frühkindliche Hirnschädigung bedingt sind, bedeutet das für die weitere Arbeit mit David, ihm Hilfestellung zu geben, um mit jenen selbstbewußt und eigenverantwortlich umgehen zu können und ihm erforderlichenfalls  Schutz vor „Attacken von außen“ zu bieten.

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