FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2010

 

Traumatisierung und Verarbeitung
von traumatischen Erlebnissen bei Pflegekindern

von Christoph Malter

Schwere Vernachlässigung, Kindesmisshandlung durch körperliche oder durch Ausübung extremer seelischer Gewalt, sexueller Missbrauch, aber auch die Trennung junger Kinder von liebevollen Eltern oder etwa das Erleben von Krieg und Naturkatastrophen sind traumatische Ereignisse, die tiefgreifende Veränderungen im Erleben und Verhalten der betroffenen Kinder zur Folge haben. Der Begriff des Trauma ist in den Wissenschaften ein relativ junger, der – aus dem griechischen abgeleitet – eine von außen durch Gewalt zugefügte Verletzung oder Wunde bezeichnet. Ein Psychotrauma ist demzufolge eine Verletzung oder Wunde an der Seele, die dann entsteht, wenn das traumatische Ereignis für das Opfer überwältigend, erschreckend oder lebensgefährlich ist, also mehr als nur belastend, und wenn eine tatsächlich bedrohliche Situation außergewöhnlichen Stress auslöst, der wiederum eine Überflutung des Gehirns mit aversiven (unangenehmen, verletzenden) Reizen zur Folge hat. Aus der akuten Belastungsreaktion wird nach der Definition des ICD 10 (F62.0) (Internationale Klassifikation der Krankheiten) eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), wenn die Belastung so extrem ist, „....dass die Vulnerabilität [Verwundbarkeit, Verletzbarkeit] der betreffenden Person als Erklärung für die tief greifende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss.“ Im DSM-IV-TR (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) werden pathogene (krankheitsauslösende) Psychotraumata als Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) (309.81) beschrieben, wenn folgende zwei Aspekte vorlagen:

„(1) Die Person erfuhr, beobachtete oder war konfrontiert mit einem oder mehreren Ereignissen, die tatsächlichen oder drohenden Tod, tatsächliche oder drohende ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von einem selbst oder Anderen einschloss.

(2) Die Reaktion der Person schloss starke Angst, Hilflosigkeit oder Grauen ein. Hinweis: Bei Kindern kann sich das stattdessen in Form von desorganisiertem oder agitiertem [krankhafte Unruhe] Verhalten äußern.“

Derartig extreme Erfahrungen können Kinder nicht verarbeiten, ohne Schaden zu nehmen. Bei Monika Nienstedt und Arnim Westermann, zwei Psychologen, die sich beruflich seit 1973 mit der Sozialisation von Pflegekindern in Theorie und Praxis beschäftigen, findet man folgende Aussagen zu Misshandlung und Trauma:

„Hier handelt es sich um tiefgreifende seelische Verletzungen, die entstehen, wenn das Kind von demjenigen, der es beschützen müsste, vernachlässigt oder überwältigt wird, wenn das Kind keinen Menschen mehr hat, zu dem es fliehen kann. Jedes kleine Kind flieht zu seinen Eltern, wenn es einer Gefahr ausgesetzt ist. Wenn es aber gerade von seinen Eltern nicht versorgt und überwältigt wird, dann hat es niemanden mehr, zu dem es fliehen könnte: Es wird von der Angst überwältigt, verhungern zu können, gefressen zu werden, umgebracht zu werden. Und oft ist es ja auch nur ein Zufall, dass das Kind am Leben bleibt.
Auch wenn das Kind gar nicht unmittelbar Opfer elterlicher Aggressionen wird, sondern wie z.B. bei Alkoholikern erlebt, dass sich die Eltern wütend, aggressiv, unkalkulierbar und die kindlichen Bedürfnisse nicht wahrnehmend verhalten, oder wenn Eltern mit Selbstmord drohen oder Selbstmordversuche machen, auch dann hat das Kind niemanden, zu dem es in seiner Panik fliehen könnte. Es ist dann vollkommen schutzlos. Ihm bleiben nur noch Fluchtwege nach innen: Das Kind verdrängt die beängstigenden Erfahrungen, idealisiert die misshandelnden oder vernachlässigenden Eltern und identifiziert sich mit ihnen als Aggressor.“ (Nienstedt, Westermann, 2007, S. 69f.)

Der Gebrauch des Begriffs ‚Trauma’, bzw. ‚Traumatisierung’ hat im Bereich der Jugendhilfe und in der dort geführten Fachdiskussion über Kinder mit abweichendem Verhalten, mit Verhaltensstörungen, mit einer Dissozialitätsproblematik oder über Kinder mit Anpassungsschwierigkeiten, seelischen Behinderungen etc. stark zugenommen, ohne dass eine Verständigung darüber stattgefunden hat, welche Voraussetzungen vorliegen sollen oder müssen, bevor von einem Trauma gesprochen wird. Letztendlich hat der Begriff sogar Einzug in die Alltagssprache genommen und beschreibt einerseits sehr weit gefasst Ereignisse und Reaktionen darauf, die im engen, medizinisch-psychiatrischen oder psychologischen Sinn nicht als Trauma gewertet werden dürfen. Natürlich besteht andererseits aber gerade bei Kindern die Gefahr, dass tatsächlich stattgefundene Traumata unerkannt bleiben oder wegen einer zu eng gefassten Definition in der Diagnostik nicht auftauchen.

Völlig unabhängig davon, ob ein eher weit oder eher eng gefasster Begriff der Traumatisierung favorisiert wird, ist doch eines offensichtlich, nämlich dass alle Anstrengungen für die von ihren Eltern vernachlässigten, misshandelten oder missbrauchten Kinder unternommen werden müssen, um schädigende Lebensbedingungen zu beenden und Kinder vor (weiteren) Traumatisierungen oder Misshandlungen zu schützten. Dieser erste Schritt – gefährdeten Kindern wieder Sicherheit bieten – ist von großer Bedeutung, wenn Pflegeverhältnisse gelingen sollen.

 

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