FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2009

 

Pflegekinder mit Behinderung – zwischen Stigma und Rechtsanspruch

von Christoph Malter

 

In aller Regel werden Kinder oder Jugendliche – ganz unabhängig davon, ob sie in irgendeiner Weise beeinträchtigt sind, in ihrer Entwicklung behindert wurden oder bereits chronische Behinderungen haben – erst aufgrund prekärer Lebenslagen und massiver Erziehungs- und Versorgungsprobleme in der Herkunftsfamilie in Pflegefamilien untergebracht.

Für die Pflegefamilie spricht bei jüngeren Kindern, Kleinkindern und Säuglingen die allgemein in Fachkreisen anerkannte Tatsache, dass das Vorhandensein mindestens einer liebevoll zugewandten Bindungs- und Bezugspersonen für die gedeihliche Entwicklung des Kindes eine notwendige Voraussetzung ist. Deshalb ist in der Jugendhilfe die Pflegefamilienunterbringung – sofern Eltern nicht mit niedrigschwelligen ambulanten Hilfen erreicht werden können – von erheblicher Bedeutung. Sie hat einen festen Platz im Spektrum möglicher Maßnahmen und ist eine sehr effiziente präventive Hilfe zur Vermeidung von Dissozialität. Darüber hinaus ist sie kostengünstig und bietet für traumatisierte und misshandelte Kindern unter bestimmten fachlichen Voraussetzungen gute Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen bei der psychischen Verarbeitung von Traumata.

Die Unterbringung von jüngeren Kindern mit sogenannten emotionalen Behinderungen ist im Rahmen der Jugendhilfe zumindest aus juristischen und fachlichen Erwägungen eindeutig geregelt und dem SGB VIII zugeordnet. Pflegefamilien sollen selbstverständlich auch Kindern zu Gute kommen, die

  • aufgrund von schwerer emotionaler Vernachlässigung oder Misshandlung,
  • durch Beziehungsabbrüche während der bindungssensiblen Phasen oder
  • durch toxische Einflüsse wie Alkoholabusus und Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft nicht nur vorübergehend in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind. Diese Kinder bringen meist chronische Schädigungen im Sinne einer Behinderung mit.

Werden sie in Pflegefamilien untergebracht, gelingt es erfahrenen Pflegeeltern meist recht schnell, dem Kind zu helfen, ihm Sicherheit zu bieten und sich (mehr oder weniger) angemessen und angepasst zu benehmen. Wir konnten in einer empirischen Längsschnittuntersuchung im Therapeutischen Programm für Pflegekinder1 nachweisen, dass die soziale Anpassung sogar langfristig recht gut gelingt, die Kinder einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen bekommen und familiäre Identität in der Pflegefamilie entwickeln, während sich die Grundprobleme wie Bindungsschwächen, Impulsivität oder Labilität meist sehr hartnäckig und sogar bis ins junge  Erwachsenenalter hinein halten. Ein häufig vorkommender Fehler, dass bspw. Lehrer viel zu früh uneinlösbare Erwartungen auf ein Pflegekind richten, die es nicht oder kaum und nur unter großer Anstrengung erfüllen kann, führt leicht dazu, dass schwierige und alle belastende Situationen entstehen, die vielen Pflegeeltern aus eigenen Erfahrungen schmerzlich bekannt sind.  

Die fachliche Beratung von Pflegeeltern lässt an dieser Stelle bedauerlicherweise noch viel zu wünschen übrig: anstatt die emotionale Behinderung zur Kenntnis zu nehmen, wird nicht selten nach kurzer Zeit auch von den Pflegeeltern erwartet, dass alle speziellen Probleme des Kindes gelöst sind und die Kinder sich innerhalb der alterstypischen Norm bewegen und auf entsprechende Hilfsmittel oder Hilfen verzichten können, was so gut wie nie gelingt. Man würde kaum auf die Idee kommen, einem Gelähmten den Rollstuhl vorzuenthalten. Emotionale Behinderungen werden aber oft selbst von Fachkräften nicht richtig erkannt und in Folge dann falsch behandelt.

Ein weiteres Problem, auf das an dieser Stelle hingewiesen werden soll – das gilt für Kinder mit überwiegend körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen genau so – ist, dass fast alle Pflegekinder erst einmal bei den Pflegeeltern „annabeln“ müssen und einen enormen Nachholbedarf an Zuwendung und Aufmerksamkeit einfordern. Dieser Prozess erfordert Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit und ist über lange Episoden mit einer normalen Berufstätigkeit der Pflegeeltern kaum vereinbar. Dies muss bei der Alimentierung und den Pflegegeldzahlungen bedacht und ausreichend durch Träger oder Jugendamt sicher gestellt werden.

Eine leidvolle Debatte bei der Unterbringung von Kindern mit schweren Behinderungen wie Spina-bifida, Hydrocephalus, schweren Hinrschädigungen, geistigen Behinderung, Trisomie 21, HIV oder Herz-Lungen-Erkrankungen – um nur einige zu nennen – ist die um Zuständigkeiten. Seit vielen Jahren wird immer wieder regelmäßig von Fachkräften reklamiert, dass die ungeklärte Rechtssituation für Kinder und junge Erwachsene mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen und Behinderungen ursächlich dafür sei, dass verhältnismäßig viele der Kinder in Institutionen untergebracht werden.

Wird erst einmal darauf abgestellt, dass keine „erzieherischen“ Ziele zu verfolgen sind, bzw. erzieherische Defizite der Eltern für die Unterbringung ursächlich sind, verweist § 10 SGB VIII (Verhältnis zu anderen Leistungen und Verpflichtungen) in Absatz 4 auf die Sozialhilfe:

„Die Leistungen nach diesem Buch gehen Leistungen nach dem Zwölften Buch vor. Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, gehen Leistungen nach diesem Buch vor. Landesrecht kann regeln, dass Leistungen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig von anderen Leistungsträgern gewährt werden.“

Im vergangenen Jahr referierte Frauke Zottmann-Neumeister2 von der Diakonie in Düsseldorf während der Fachtagung „Wege finden – Türen öffnen“, dass in Nordrhein-Westfalen 8,4% der unter 15 Jährigen (2.837 Kinder) mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen in vollstationären Einrichtungen untergebracht sind. Kinder mit Behinderungen leben viel häufiger nicht bei ihren Eltern, als Kinder ohne Behinderung. Weiter führt sie aus, dass bspw. bei jedem 3. bis 4. Kind eine durchführbare Pflegestellenunterbringung in Sonderpflegestellen, die von der Diakonie betreut werden, an ungeklärten Zuständigkeitsfragen scheitert, etwa dann, wenn Jugendamt (SGB VIII) und Sozialamt (SGB XII) sich nicht darüber verständigen wollen oder können, ob die Unterbringung als Hilfe zur Erziehung (SGB VIII) oder als Eingliederungshilfe nach SGB XII zu gewähren ist. Dies macht deutlich, dass weniger ein postulierter Pflegeelternmangel verantwortlich ist für die hohen Quoten an institutioneller Unterbringung, sondern vielmehr fehlende Bedingungen und Bemühungen dafür, Pflegeeltern für diese Aufgabe zu gewinnen.

Überwiegend finden Kinder mit Behinderungen, wenn sie nicht in ihren Familien aufwachsen können, Aufnahme in Behinderteneinrichtungen, in denen sie dann meist ihr Leben lang verbleiben! In der Regel weigern sich kommunale und überörtliche Träger der Sozialhilfe hartnäckig, die Familienpflege in ihren Leistungskatalog aufzunehmen. Ist das nicht – auch vor dem Hintergrund der recht hohen Kosten – skandalös?

Anscheinend ist unbekannt, wie viele Kinder mit Behinderungen in Pflegefamilien tatsächlich leben, aber es gibt sie überall. Wir hatten vor 12 Jahren die 694 Mitglieder des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder mit einem umfangreichen Fragebogen zu ihrer familiären Situation und der ihrer behinderten Pflegekinder befragt. Von 187 Familien hatten wir Antworten erhalten (zu insgesamt 281 Kindern), die dann im Rahmen eines Lehr- und Forschungsprojektes an der Humboldt-Universität in Berlin im Fachbereich Rehabilitationswissenschaften  ausgewertet werden konnten (Rücklaufquote von 29%)3.

Mir sind keine jüngeren Untersuchungen bekannt – ich darf daher einige der damals herausgefundenen Ergebnisse hier referieren:

  • Erstaunlich war die hohe Kontinuität in den Pflegen. Die durchschnittliche Dauer lag mit über 6 Jahren im Mittel über dem Bundesdurchschnitt bei Vollzeitpflege und viele Pflegen dauerten sogar weit über 10 Jahre.
  • Ein hoher Anteil der Kinder (43%) kam im Säuglingsalter zu den Pflegeeltern.
  • Auf den Spitzenplätzen der Problemlagen waren mit 50% der Nennungen rechtliche und wirtschaftliche Probleme genannt, gefolgt von Problemen mit dem Jugendamt.

Die von uns übermittelten Forderungen der Pflegeeltern sind bis heute weitgehend nicht gehört oder eingelöst worden:
 „Es wird die Ungleichheit bezüglich der finanziellen Leistungen in den einzelnen Bundesländern und die Ungleichheit bezüglich der Kriterien zur Vergabe finanzieller Unterstützungen auch innerhalb einzelner Jugendamtsbereiche kritisiert, und eine bundesweit gerechtere Regelung bei der Vergabe von Leistungen und die Erarbeitung einheitlicher Kriterien gefordert.... Weiterhin besteht ein unangemessen hoher Aufwand zur Beantragung wirtschaftlicher Hilfen. Einmalige Hilfen werden oft abgelehnt.“

Interessant war, dass wir Unterschiede in den Problemlagen identifizieren konnten zwischen Pflegekindern, die keinen Schwerbehindertenausweis haben und solchen Kindern mit 100%iger Schwerbehinderung.

Besonders gravierend sind die Unterschiede bei den Kategorien "Probleme mit dem Pflegekind selbst und seiner Persönlichkeit" und "Probleme der Kinder in der Familie untereinander". Diese werden häufiger von Pflegeeltern angekreuzt, die Kinder mit seelischer Behinderung (ohne Schwerbehindertenausweis) aufgenommen haben, wogegen Pflegeeltern mit schwerstbehinderten Kindern eher wirtschaftliche Hilfen als großen Problembereich benennen.

Um dieses Phänomen besser verstehen zu können, wurden Angaben aus den Texten, die von den Pflegeeltern auf offene Fragen formuliert wurden, hinzugezogen: Wo liegen die im Alltag der Pflegeeltern dominanten Belastungs- und Stressfaktoren, die durch ein Pflegekind in die Familie getragen werden?

Aus den Antworten der Pflegeeltern ist zu schließen, dass bei den Kindern, die eine Einstufung über das Schwerbehindertengesetz erhalten haben, die Frage der Zuständigkeit für die Bezahlung entsprechender Hilfen mit jedem Antrag neu geklärt werden muss. Erst dann wird der Antrag bearbeitet. Dazu ein Zitat aus einem Fragebogen:
"Die Tatsache, ein Pflegekind und gleichzeitig ein behindertes Kind zu haben, führt zu einem Status für das Kind, den es bei den Behörden nicht gibt. So werden wir immer hin- und hergeschoben zwischen Jugendamt, Sozialamt und Gesundheitsamt." Die vielen einzelnen Hilfeleistungen provozieren demzufolge eine Antrags- und Prüfungsflut, die den Alltag der betroffenen Pflegeeltern so dominieren, dass es die Pflegeeltern einen erheblichen Teil ihrer Kraft kostet.

Ob es gelingen wird, beim Vorliegen von Ansprüchen gegenüber unterschiedlichen Leistungsträgern, durch die Bewilligung von Komplexleistungen gemäß SGB IX eine tatsächliche Verbesserung zu erreichen, bleibt eine spannende in die Zukunft gerichtete Frage. Durch eine Änderung im § 10 SGB VIII (Jugendhilfe) und entsprechende Landesverordnungen könnte leicht bewirkt werden, dass Jugendämter auch Kinder mit Behinderungen im Rahmen der Eingliederungshilfe in Pflegefamilien vermitteln und diese betreuen, was in Sozialämtern nur erschwert zu leisten wäre. Für den Übergang ins Erwachsenenleben wird aber auch in der Sozialhilfe eine Anerkennung der Pflegefamilien benötigt, wenn man nicht weiterhin einseitig teure institutionelle Unterbringungen einseitig privilegieren will und der Menschlichkeit  ausreichend Rechnung tragen möchte. Für Pflegeeltern selbst bleibt der Erfahrungsaustausch – neben den vielen Behinderungsspezifischen Angeboten der einschlägig anerkannten Träger wie bspw. der Lebenshilfe etc. – ein wesentliches Entlastungsmoment, auf das keine Familie verzichten sollte.

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1 Malter, Christoph; Eberhard, Kurt: Entwicklungschancen für vernachlässigte und misshandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien, In: 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens, Schulz-Kirchner-Verlag; Idstein 2001

2 Zottmann-Neumeister, Frauke: Sonderpädagogische Pflegestellen für Kinder mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, Vortrag am 14.3.2007 in Düsseldorf während der Fachtagung „Wege finden – Türen öffnen“

3 Koppe, Sylvia; Malter, Christoph, Stallmann, Martina: Zur Situation von Familien mit behinderten Pflegekindern. In: In: Forum Jugendhilfe, H. 1/99

s.a. Kinder mit Behinderungen haben ein Recht auf Familie - Zwölftes Sozialgesetzbuch ändern

 

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