FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2008

 

Tagungsbericht:

2. Internationale Netzwerk Konferenz zur Pflegekinderhilfe

Elective Affinities – Wahlverwandtschaften

 

von Christoph Malter

 

Vom 22. bis 25. September 2008 tagten Studenten, Praktiker und Wissenschaftler aus dem Pflegekinderbereich auf Einladung von Prof. Dr. Herbert E. Colla, Adalbert Pakura und Martin Schröder unter Schirmherrschaft der Niedersächsischen Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann und in Kooperation mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen an der Leuphana Universität Lüneburg.

Das Tagungsmotto der 2. Internationalen Netzwerk-Konferenz »Pflegefamilien als Wahlverwandtschaften« – Elective Affinities1 – ist angelehnt an Goethe, der in dem 1809 erschienenen gleichnamigen Roman ein gesellschaftliches Thema aufgriff und mit einem naturwissenschaftlichen Gleichnis verknüpfte. Darin werden „...die gesellschaftlichen Zwänge von Sitte und Norm den individuellen Empfindungen und Neigungen gegenübergestellt. Eduard, ein reicher Baron, lebt mit seiner Gattin Charlotte zurückgezogen in einem Schloss, das von einem großen Park umgeben ist. In zweiter Ehe haben die beiden Liebenden von einst endlich zueinander gefunden. Glücklich über ihre neue Lebenssituation widmen sie sich vornehmlich dem Garten und der Parkgestaltung. Diese Idylle wird gestört, als Eduard seinen Freund, den Hauptmann, auf das Anwesen einlädt. So lässt auch Charlotte ihre Nichte Ottilie herbeiholen, damit diese ihr Gesellschaft leistet. Bald schon fühlt sich Eduard zu Ottilie und Charlotte zum Hauptmann hingezogen. Eines Nachts schleicht Eduard heimlich durchs Schloss und gerät auf der Suche nach Ottilie – »eine sonderbare Verwechslung ging in seiner Seele vor« – ins Schlafgemach seiner Gemahlin. In seiner Vorstellung ist es jedoch Ottilie, die er in den Armen hält, indes Charlotte das Bild des Hauptmanns vorschwebt. Aus dieser Vereinigung geht ein Kind hervor.
Als der Abschied von Ottilie und dem Hauptmann droht, gesteht Eduard Ottilie seine Liebe. Der Hauptmann und Charlotte verständigen sich wortlos, ihrer gemeinsamen Liebe zu entsagen. Eduard hingegen kann seine Gefühle nicht unterdrücken und zieht aus Verzweiflung in den Krieg.
Das Kind, welches gleichermaßen Ottilie und dem Hauptmann, nicht aber seinen leiblichen Eltern ähnelt, befindet sich in der Obhut von Ottilie, als Eduard aus dem Krieg zurückkehrt. Eduard bedrängt sie erneut in unbändiger Art. Ottilie versucht auszuweichen, indem sie in einem Kahn über den See zurückrudert. Beim hastigen Einsteigen kentert das Boot jedoch und das Kind ertrinkt. Ottilie beschließt daraufhin, ihrer Liebe zu Eduard zu entsagen. Schließlich zieht sie sich zurück, spricht und isst nicht mehr, bis sie letztlich an Schwäche stirbt. Eduard ist zum Schluss lebensmüde, stirbt aber eines natürlichen Todes.“2

So weit der Roman.

Alle Rede- und Diskussionsbeiträge der viertägigen Konferenz angemessen zu rezitieren, würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Anstatt dessen sollen schlaglichtartig einzelne Statements aus den Vorträgen und den dann folgenden Debatten ohne Anspruch auf Vollständigkeit wiedergegeben werden. Ein wichtiges Anliegen ist, weitere Netzwerkkonferenzen folgen zu lassen. 

Staatssekretärin Christine Hawighorst eröffnete mit der Begrüßung die Fachdiskussion, indem sie auf die im Jahr 2003 veröffentlichte und von der Landesregierung und der »Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes« finanzierten Studie zu den Strukturen der Vollzeitpflege3 im Land Niedersachsen hinwies. Anfang des kommenden Jahres soll eine weitere Veröffentlichung aus Niedersachsen folgen, in der vertieft Ergebnisse von vier ausgewählten Standorten vorgetragen werden. Als besonderes Anliegen formulierte Christine Hawighorst, Pflegeformen für Kinder mit Behinderungen auszubauen und besser zu sichern, indem vor allem bereits bekannte, voraussehbare und leicht vermeidbare Probleme behördlicherseits abgearbeitet werden. Erschreckend sei, dass nach wie vor ca. 40% aller Pflegen unplanmäßig beendet werden.

Prof. Dr. Hans Thiersch spannte in seiner Einführungsrede einen weiten Rahmen über Lebensweltorientierung und die Aufgaben in der Ersatzfamilie, wobei er aus der jüngeren Geschichte des Pflegekinderwesens berichtete und die Entwicklungslinien über Martin Bonhoeffer und Peter Widemann als Reformer der Heimerziehung und deren Bedeutung für die Entstehung des heute vorhandenen Pflegekinderwesens mit seinen Professionalisierungstrends berichtete. Einen wesentlichen sozialpädagogischen Akzent sieht Hans Thiersch in der Lösung von Alltagsproblemen sowie der Tatsache, dass die familiale Wirklichkeit der Pflegefamilie inklusive aller Schwierigkeiten akzeptiert werden muss.

In den weiteren Vorträgen des ersten Tages wurden die Themen ’Kinder und Familienarmut’ (Harald Ansen), ’Netzwerkstrategien’ (Riet Portengen), ’Identitätsbildungsprozesse’ (Walter Gehres) und ’Adoleszenz’ (Nina Biehal) vorgestellt und diskutiert. Abschließend berichtete Josef Scheipl über das Pflegekinderwesen in Österreich. Die sehr unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven aus diesen Vorträgen ließen schon am ersten Tag erkennen, wie komplex das Pflegekinderwesen und die darauf einwirkenden Kräfte sind. Mehrfach wurde jugendamtliches Handeln kritisiert. Positiv formuliert muss aber anerkannt werden, dass behördliche Strukturen menschlichem Handeln Grenzen setzen und die Aufgabe, Pflegeeltern für ihre Pflegekinder förderliche Bedingungen zur Verfügung zu stellen, oftmals nicht einfach zu lösen ist.

Im Eröffnungsreferat des zweiten Konferenztages erörterte Janet Boddy aus Großbritannien die Unterschiedlichkeit der europäischen Modelle des Pflegekinderwesens, verbunden mit der Annahme, aus der Erforschung dieser Unterschiede lernen zu können. Wegen der unterschiedlichen Sozialsysteme ist die Vergleichbarkeit zwar nicht objektiv gegeben, soll aber zu Diskussionen ermutigen und die Praxis positiv anregen. Beispielsweise ist in England die Eingriffsschwelle bei Kindesmisshandlung niedriger als in Deutschland, andererseits ist aber das vorgeschaltete Präventionssystem über sozialpädagogische Familienhilfen nicht so modern und nicht so gut ausgebaut. Gleichzeitig werden bspw. in England etwa 80% aller zu platzierenden Kinder in Pflegefamilien untergebracht (entsprechend nur ca. 20% Heimerziehung), während Deutschland und Dänemark mit gut 50% anteiliger Heimerziehung bei stationären Maßnahmen im europäischen Vergleich das Schlusslicht bilden. Das auf bindungstheoretische Überlegungen gestützte und im englischen Rechtssystem kodifizierte Prinzip des ’Permanency Planning’ führt auch dazu, dass schneller (nach bereits 18 Monaten) Entscheidungen für eine Adoption forciert werden können, während Rückführungen von Pflegekindern bereits nach 6 Monaten verhandelt werden und dann ggf. folgen (ähnlich der Bereitschaftspflege). Adoptionen finden in England – nicht nur wegen der staatlichen Unterhaltsleistungen für Adoptiveltern – etwa drei mal so oft wie in Deutschland statt.

In den weiteren Vorträgen plädierte Bruno Hildenbrand u.a. für die fachlich (vor)gebildete Pflegefamilie und betonte, dass Pflegeeltern Künstler in der Bewältigung von Lebenskrisen sein müssen und dass eine Qualifikation in Form von Training nach seiner Einschätzung eher negative Auswirkungen auf die alltägliche Lebenspraxis habe. Er sehe die Gefahr, dass praktikable Rezepte aus dem Alltag durch inpraktikable wissenschaftliche Erkenntnisse ausgetauscht werden können. Susanne Schlüter-Müller referierte über Kinder drogenabhängiger Mütter und Ingrid Wölfel betonte, dass insbesondere die qualifizierte fachliche Begleitung der Pflegefamilie für die notwendige Stabilität des Pflegeverhältnisses von großer Bedeutung sei, ebenso wie eine ausreichend angemessene materielle Absicherung und Anerkennung der Pflegefamilien.

Elisabeth Helming referierte am Nachmittag darüber, dass aus einer Studie des DJI hervorginge, dass die Vorbereitung der Pflegefamilie so gut wie keine Auswirkungen auf die Stabilität der Pflegschaft habe – ein überraschendes Resultat für viele Teilnehmer. Weniger überraschend war, dass der guten Begleitung eine enorme Bedeutung zukäme. Kontrovers diskutiert werden derzeit noch die Zahlen zu Abbrüchen, der Beendigung von Pflegeverhältnissen und auch zur Rückführung von Pflegekindern. Anders als in vielen anderen Studien belegt und in der Praxis vielfach vorgetragen geht man beim DJI derzeit noch davon aus, dass Rückführungen von Pflegekindern quantitativ zu vernachlässigen seien, weil sie nur selten geplant würden und vermutlich in weniger als 10% der Vollzeitpflegen vorkämen. Wegen der vielfach vorher schon durchgeführten (und oft dann gescheiterten) Maßnahmen der Familienunterstützung können Rückführungen aus der Vollzeitpflege auch meist ausgeschlossen werden.

Der Beitrag aus Frankreich von Annik-Camille Dumaret beschäftigte sich mit der sozialen Integration im Erwachsenenalter, Stefan Müller-Teusler referierte über Kinder mit Behinderung, Dörte Grasmann über multidisziplinären Hilfebedarf und zum Abschluss des zweiten Tages trug Tobias Studer Ergebnisse aus einer Studie über die Professionalität aus der Sicht der Pflegeeltern vor.

Das Eröffnungsreferat am dritten Konferenztag hielt der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert. Er zeigte, dass es viele Schwierigkeiten an der Schnittstelle zwischen Schule, Sozialhilfe, Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt (mit gegenseitigen Schuldzuweisungen), ein Ausweg aber in dem Rechtsanspruch auf eine Komplexleistung gem. SGB IX gesucht werden könne, weil gerade hochbelastete Kinder meist Ansprüche aus mehreren Systemen geltend machen können. Voraussetzung für die Leistung sei in der Regel eine Teilhabebeeinträchtigung. Allzu große Hoffnungen in die Wirksamkeit von Therapie bei sexuellem Missbrauch von Kindern gäbe es derzeit noch nicht. Entscheidender für den positiven Verlauf sei eine sichere und gute Beziehung zur Mutter (oder Pflegemutter). Nach Traumatisierungen müsse als Ziel grundsätzlich die Impulskontrolle von innen gesehen und  wieder hergestellt werden. Therapien, welche die negative Vorgeschichte aktiv thematisieren, seien regelmäßig sogar schädlich in ihrer Wirkung.

Ein weiteres Highlight des dritten Tages waren die Ausführungen des Bindungsforschers Gerhard Suess über die Fördermöglichkeiten von Kindern in und durch Pflegefamilien. Karin Lauer referierte das Thema ’Kinder zwischen zwei Familien’, Marc Schmid über Symptomorientierte Förderung von traumatisierten Kindern und Niels Jensen und seine Kollegin Christrup Kjeldsen über Schule und Kompetenzentwicklung in Dänemark.

Die Seminare am Nachmittag des dritten Tages fanden zu den Themen Ambulante Konzepte (Susanne Schlüter-Müller), die Entwicklung des Pflegefamiliensystems in Litauen (Dalija Snieskiene), Übergänge in der Biografie (Daniela Reimer), über das System der Kontaktfamilie in Schweden (Lotta Berg Eklundh), über verschiedene Wege des Bedarfs und der Betreuung für Kinder in Pflegefamilien (Roger Bullock) sowie über Unterstützungs- und Entlastungsbedarf (Katrin Niepel) statt.

Die Abschlussreferate am vierten Tag hielten Prof. Dr. Ludwig Salgo, Prof. Dr. Jürgen Blandow und Prof. Dr. Klaus Wolf über das Recht der Pflegekindschaft, die fachliche Entwicklung im Pflegekinderwesen und darüber, was die Praxis in Zukunft von der Forschung erwarten kann. Das derzeit wichtigste Anliegen im Pflegekinderwesen – dem niemand widersprochen hatte – ist die Forderung nach einer Gesetzesänderung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zur Absicherung von Pflegeverhältnissen. Die im modernen KJHG festgeschriebene Zeit- und Zielperspektive (Permanency Planning) bei Fremdunterbringung bleibt immer dann auf der Strecke, wenn die Rechtsprechung einseitig dem Elternrecht folgt oder folgen muss. Während des 17. Familiengerichtstages wurde dieses bereits vor dem Hintergrund humanwissenschaftlicher Erkenntnisse diskutiert und vorgetragen, und nicht zuletzt geht aus den Siegener Erklärungen die Notwendigkeit einer Kontinuitätssicherung hervor. Mögen sich viele dieser Forderung anschließen, damit die Gesetzeslücke im Interesse von Pflegekindern bald geschlossen wird.                 

Christoph Malter

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1 Der (wissenschaftliche) Begriff Wahlverwandtschaften entstammt der Chemie jener Zeit. Gibt man zu einer chemischen Verbindung AB einen dritten Stoff C hinzu und besitzt dieser eine stärkere Verwandtschaft (Affinität) zu A als A zu B, so verbinden sich A und C wahlverwandtschaftlich.

2 s. http://de.wikipedia.org/wiki/Wahlverwandtschaften, 28.8.2008

3 s. http://www.soziales.niedersachsen.de/master/C6561822_N6448061_L20_D0_I1740859 und http://www.agsp.de/html/n177.html

veröffentlicht in paten 4-2008, Hg.: www.pan-ev.de

s.a. 1st International Network Conference on Foster Care Research

 

 

 

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