FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Stellungnahme des Friedrichs-Stifts
zum Entwurf der Berliner Ausführungsvorschriften
über die
Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege

i.A. Rechtsanwältin Soz.-Päd. grad. Gudrun Eberhard

 

 

Der Entwurf des Berliner Landesjugendamts vom 22.10.02 zur Änderung der Pflegekinder-Vorschriften stellt einen weiteren Versuch dar, die bisherigen Ausführungsvorschriften, die noch aus der Zeit des JWG stammen, dem KJHG anzupassen. Der letzte Versuch sah die zeitliche Begrenzung des heilpädagogischen Erziehungsgeldes vor und scheiterte an den fachlichen Einwänden der Pflegekinderdienste und am Protest der Pflegeeltern.

Auch der nun vorliegende Entwurf wird von den Pflegekinderdiensten und den betroffenen Pflegeeltern scharf kritisiert. Ihre Einwände wurden jedoch in der Kommission zur Erarbeitung des Entwurfs nicht berücksichtigt. Inzwischen sind die Pflegekinderdienste personell stark ausgeblutet und wegen der geplanten Privatisierung weitgehend in die Bedeutungslosigkeit abgesunken, so daß kraftvolle politische Einflußnahmen von dort kaum noch zu erwarten sind.

Die Ausweitung der Pflegestellen ist seit vielen Jahren politisches Ziel. Als Begründung werden vorrangig die geringeren Kosten gegenüber einer Heimunterbringung angeführt, weniger die Entwicklungsinteressen der betroffenen Kinder. Das Verhältnis von Heim- zu Pflegestellen-Unterbringungen hat sich dennoch nicht geändert. Berlin ist nach wie vor Schlußlicht mit einem Anteil von 30 % Pflegestellen bei Fremdunterbringungen, während der Bundesdurchschnitt bei 40 % liegt. Berlin ist allerdings auch Schußlicht bei der Zahlung von Erziehungsgeld für die normale Vollzeitpflege. Bis 1998 wurden lediglich 100 DM Erziehungsgeld gezahlt. Als endlich die Anhebung auf 350 DM (jetzt 179 Euro) durchgesetzt wurde, führte dies nicht zu den erhofften Mehrbewerbungen. Die im Entwurf geplante Anhebung auf 450 Euro für die Vollzeitpflege soll wieder Bewerbungen motivieren und wird wohl wieder scheitern, weil die meisten in Pflege vermittelten Kinder sehr schwierig sind und die dafür notwendige Qualität und Quantität der Arbeit auch mit dem neuen Betrag längst nicht abgegolten ist. Dazu bedürfte es eines deutlich höheren Honorars und einer fachlichen Intensivbetreuung, die auch in dem neuen Entwurf nicht vorgesehen ist.

Während Berlin die normalen Pflegeeltern besonders stiefmütterlich behandelte, war es bei der Ausdifferenzierung von Pflegestellen nach besonderen Bedarfslagen viele Jahre Vorreiter. Es gibt die heilpädagogische Pflegestelle, die Großpflegestelle, die Bereitschaftspflege und die heilpädagogische Kurzpflege. Die Bereitschaftspflege hat sich als hochprofessionelle Einrichtung für Akutunterbringungen bewährt. Die dort tätigen Pflegepersonen sind auf Erhaltung des sozialen Umfeldes des Kindes, intensive Elternarbeit und Stützung bei Wechsel in eine andere Einrichtung spezialisiert. Die heilpädagogische Kurzpflege stellt erheblich entwicklungsbeeinträchtigten und behinderten Kindern vorübergehend eine geschützte, semiprofessionelle Unterbringung zur Verfügung. Die Großpflegestelle bietet besonders Kindern und Jugendlichen einen familiären Entwicklungsraum, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte die Intimität einer Kleinfamilie nicht aushalten können. Auch ältere Kinder und Jugendliche konnten dort untergebracht werden. Für erfahrene und kompetente Pflegeeltern schuf sie die Möglichkeit, im erzieherischen Feld vollberuflich und auf Dauer tätig zu sein. Die heilpädagogische Pflegestelle ist ein therapeutischer und erzieherischer Ort für besonders entwicklungsgeschädigte und behinderte Kinder und Jugendliche. Das heilpädagogische Erziehungsgeld ermöglichte es den Erziehungspersonen, sich auf eine langfristige Intensivbetreuung dieser Kinder einzustellen. Die therapeutische Effizienz der heilpädagogische Pflegestelle ist inzwischen empirisch erwiesen. (s. Entwicklungschancen für vernachlässigte und misshandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien)

Der im Entwurf geplante weitgehende Wegfall dieser Ausdifferenzierung von Pflegestellen negiert die vielfältigen praktischen Erfahrungen, durch die sie hervorgebracht wurde.

Die vorgesehene zeitliche Begrenzung des Erziehungsgeldes für den erhöhten Förderbedarf verunmöglicht eine langfristige Planung und kindzentrierte Umstellung der eigenen Berufstätigkeit. Die wiederholten Überprüfungen belasten und stigmatisieren die Kinder zusätzlich. Außerdem wissen alle Praktiker, daß die Störungsintensitäten schwanken, temporäre Aufwärtsentwicklungen also keine dauerhafte Heilung anzeigen.

Eine andere, die praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse völlig ignorierende Tendenz des Entwurfs ist die vorrangige Berücksichtigung der Herkunftselterninteressen gegenüber den Schutzbedürfnissen der Pflegekinder (vgl. bes. § 2 Abs. 3, § 3 Abs. 1, § 3 Abs. 6). Die Offenhaltung der Rückkehroption macht es den sozialpädagogischen Diensten leicht, zum Schaden der Kinder auf eine vorgängige diagnostische Abklärung der familiären Situation zu verzichten. Alle Beteiligten verbleiben über Monate oder Jahre in einem unklaren Schwebezustand. Die Kinder können nicht die für ihre Heilung notwendige ungestörte Bindung zu den Pflegeeltern entwickeln, weil diese im Widerspruch zu den pathogenen Beziehungen in der Herkunftsfamilie stünde. Da die Erfahrung gezeigt hat, daß ca. 80 % der Pflegeverhältnisse, die lediglich als Ergänzung zur Herkunftsfamilie begründet wurden, sich dann doch zu dauerhaften Ersatzfamilien entwickelten, muß vor der Inpflegegabe geklärt werden, ob eine Rückkehrperspektive überhaupt realistisch ist. (s. Pflege- und Adoptivfamilien aus der Perspektive der Rechtswissenschaft)

Viele Pflegekinder sind durch Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch in ihrer Herkunftsfamilie seelisch und hirnorganisch traumatisiert. Besuchskontakte mit den „Tätern“ führen sehr oft zu Retraumatisierungen und damit zu weiteren unverantwortlichen Schädigungen. (s.Was ist los im Kopf des Kindes beim Besuchskontakt?). Wenn die Pflegeeltern solche Kontakte fördern müssen, werden sie in den Augen des Kindes und auch tatsächlich zu Komplizen der Herkunftseltern. Jedenfalls sollte der Pflegefamilie mindestens ein Jahr Zeit gegeben werden, eine ungestörte vertrauensvolle Liebesbindung aufzubauen, die nach den Befunden der internationalen Traumaforschung (s. Sachgebiet Traumaforschung) die notwendige Voraussetzung heilender Pädagogik ist. Das schließt nicht aus, daß die Herkunftseltern gründlich beraten und ggf. therapiert werden, um im Erfolgsfall ihr Kind zurückzubekommen, vorausgesetzt, daß das dann mit den Entwicklungsinteressen des Kindes zu vereinbaren ist.

Insgesamt entsteht der Eindruck, daß es in dem Entwurf gar nicht darum geht, traumatisierten Kindern eine neue und verläßliche familiäre Chance zu vermitteln, sondern den Herkunftseltern die vorübergehende Abgabe ihres Kindes ohne Gesichtsverlust zu ermöglichen, weil sie sonst eine teure Heimunterunterbringung vorziehen würden. Eine verantwortungsbewußte Herausnahme des Kindes im Sinne des staatlichen Wächteramtes, notfalls gegen den Willen der Eltern, wird den Jugendämtern schon gar nicht mehr zugetraut.

Außer den genannten Mängeln enthält der Entwurf noch einen besonderen Sprengsatz für die bestehenden heilpädagogischen Pflegeverhältnisse. Nach den dortigen Übergangsvorschriften sollen diese innerhalb eines Jahres entweder in normale Vollzeitpflege oder in Vollzeitpflege mit erhöhtem Pflegebedarf umgewandelt werden. Diese Planung ist mit Einkommenseinbußen von 260 bis zu 510 Euro pro Kind verbunden. Die heilpädagogischen Pflegeeltern haben jedoch vor Aufnahme des Pflegekindes im Vertrauen auf die Finanzierung ihres Engagements eine langfristige Planung vorgenommen, ihre Berufstätigkeit eingeschränkt oder sogar aufgegeben, zum Teil große Wohnungen oder Häuser gemietet, um den Kindern einen günstigen Entwicklungsrahmen bieten zu können. Die im Entwurf geplanten massiven Restriktionen stellen eine unerhörte Brüskierung jener hoch engagierten Pflegeeltern und einen rechtswidrigen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben dar.

Wenn schon die destruktiven Folgen für die Entwicklung der betroffenen Kinder billigend in Kauf genommen werden, sollten doch wenigstens die aus der zu erwartenden Auflösung der Pflegeverhältnisse resultierenden Heimkosten nachdenklich stimmen.

Die betroffenen heilpädagogischen Pflegeeltern werden – schon aus Verantwortung für ihre Pflegekinder – diese Entwicklung nicht tatenlos hinnehmen, und wir werden sie dabei tatkräftig unterstützen!

(Januar 2003)

 

 

 

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